Sturm im Atlantik 1

Als Papa und ich gegen Mittag wieder in unsere Kabine und danach zum Mittagessen in den Salon gingen, war Papa mit einigen Zeichnungen fertig. Ich wollte sie mir genauer anschauen, er bat mich aber, noch zu warten, bis er »die Serie« beendet habe. Eine »Serie«? Ja, eine kleine Serie!

Ich ahnte nicht im Geringsten, was er meinte, und nahm im Salon wieder links neben ihm Platz. Diesmal war auch der Erste Offizier, Herr Mühlenthal, anwesend. Er hatte struppiges, vom Wind durchfurchtes Haar, als tobte an Deck ein regelrechter Orkan.

»Sie sehen aus, als hätten Sie tausend Winden getrotzt«, sagte Papa, »dabei ist es draußen doch so windstill wie auf einem Ententeich.« – »Sagen Sie das nicht zu laut«, antwortete Herr Mühlenthal, »denn das wird sich bald ändern.« – »Das Wetter schlägt um?« fragte Papa und schaute so triumphierend über den Tisch, als freute er sich. – »Sehr wahrscheinlich«, antwortete Kapitän Reckling, »am Abend könnte es uns erwischen.« – »Was soll das heißen?« fragte Papa, der weiter so dreinblickte, als begeisterte ihn diese Meldung. – »Wir werden in einen recht ordentlichen Sturm geraten«, sagte Herr Mühlenthal, »machen Sie sich auf einiges gefasst.«

Was genau, dachte ich sofort, sollen Papa und ich machen? Wir haben so etwas noch nie erlebt und ahnen nicht einmal, was uns bevorsteht. »Was können wir denn vorher noch tun?« fragte ich und schaute den Ersten Offizier an. Er blickte aber nicht zurück, sondern konzentrierte sich auf den Anblick seines gut gefüllten Suppentellers. Es gab eine Suppe mit weißen Bohnen und etwas Speck, mein Fall war sie nicht. »Die Suppe ist schon mal eine gute Stärkung«, sagte Papa, »Bohnen und Speck sind eine ideale Grundlage.« – »Sie haben anscheinend keine Ahnung«, sagte Herr Mühlenthal, »die Bohnen und der Speck werden Ihnen um die Ohren fliegen, wenn Sie einen kräftigen Sturm nicht vertragen.«

Ich schaute ihn weiter an. Warum sprach er plötzlich so grob? Was war in ihn gefahren? »Machen Sie sich keine Sorgen«, antwortete Papa, »ich vertrage einen kräftigen Sturm, darauf können Sie sich verlassen.« – »In einigen Stunden sprechen wir uns wieder«, sagte Herr Mühlenthal und wischte sich den Mund mit einer Stoffserviette ab.

»Gab es denn schon einmal ernsthafte Probleme? Auf früheren Fahrten, meine ich.« Papa richtete seine Frage direkt an den Kapitän, und ich spürte plötzlich, dass Papa die Sturmwarnung nun ernster nahm. »Na ja«, antwortete Kapitän Reckling, »auch im vorigen Jahr gerieten wir in einen heftigen Atlantiksturm. Wir haben einen Großteil unserer Ladung an Deck verloren und mussten Lissabon anlaufen, um die Albireo wieder startklar zu bekommen. Unsere beiden Passagiere haben das Schiff danach verlassen, sie haben die Reise abgebrochen.« – »Wie bitte?« sagte Papa (nun schon etwas aufgebracht), »die Stürme können so stark sein, dass man ernsthaft in Gefahr gerät?« – »Nein«, sagte Herr Mühlenthal, »ernsthaft in Gefahr geraten werden wir nicht, das kann ich Ihnen versichern. Kapitän Reckling und ich sind sehr erfahrene Seeleute, das können Sie mir glauben. Wir werden diesen Sturm und auch die weiteren Stürme überstehen, keine Frage. Es kann allerdings sein, dass wir einen zusätzlichen Halt einlegen müssen. Was unsere Fahrt dann leider verzögern würde. Und das sieht nun wiederum die Reederei nicht gern.«

»Was waren das für Passagiere, die in Lissabon aufgegeben haben?« fragte Papa. – »Es war ein älteres Ehepaar«, sagte Kapitän Reckling. »Sie hatten sich so eine Reise ganz anders vorgestellt. Wie eine Dampferfahrt auf dem Rhein. Schon als der erste Wind aufkam, lagen sie flach, es war erbärmlich. Passagiere über Siebzig sollten sich eine solche Reise nicht zumuten, sage ich immer. Aber auf mich hört ja keiner.« – »Wir haben die Reederei schon oft davor gewarnt, jeden erstbesten Passagier an Bord zu lassen«, sagte Herr Mühlenthal. »Ärztliche Untersuchungen vor so einer Reise sind nach unserer Überzeugung absolut notwendig. Die Reederei verzichtet darauf, sie will den Passagieren, wie es immer so dämlich heißt, ›keine unnötige Angst machen‹.«

Der einzige am Tisch, der sich zurückhielt und nichts sagte, war Ingenieur Segemann. Ich bemerkte aber, dass er Papa immer wieder kurz anschaute, als wollte er herausbekommen, was genau Papa gerade dachte. Auch Denis sagte beim Servieren kein Wort. Ich war erleichtert, dass wir beide miteinander gesprochen hatten, auch wenn es kein gutes Gespräch, sondern eher ein Schlagabtausch gewesen war. Jeder von uns wusste nun, was der andere von ihm hielt – und das war zunächst einmal in Ordnung.

»Wir haben übrigens gute Tabletten an Bord«, sagte Kapitän Reckling, »für den Fall, dass die Seekrankheit einen von Ihnen erwischt.« – »Wen könnte sie denn erwischen?« fragte Papa, »Sie doch sicher nicht – und Herrn Mühlenthal doch wohl auch nicht – ganz zu schweigen von unserem standfesten Ingenieur. Oder?« – »Nein«, sagte Herr Segemann, »uns erwischt sie nicht, da hast Du recht. Denis aber könnte sie erwischen, wie sie überhaupt jüngere Menschen eher erwischt als ältere.« – »Das ist eine unbewiesene Mär«, murmelte Herr Mühlenthal, »Denis hat einfach nur einen empfindlichen Magen, weil er ihm zuviel zumutet.«

Ich zuckte kurz zusammen, denn ich vermutete, Papa werde nun fragen, was Denis seinem Magen so alles zumute. Papa war auch kurz davor, das zu fragen, als ich ihn von der Seite anstieß. »Gibst Du mir bitte etwas Salz?« sagte ich, und Papa geriet zum Glück durcheinander. – »Salz?« fragte er, als hätte er nicht verstanden. – »Ja«, sagte ich, »ich möchte etwas nachsalzen.« – »Nachsalzen?« fragte Papa weiter, »die Suppe ist doch salzig genug.« – »Für Dich schon, für mich nicht«, antwortete ich. – »Vorsicht«, sagte Ingenieur Segemann, »Du mutest Deinem Magen anscheinend auch eine Menge zu – und das vor einem ordentlichen Sturm!« Ich schaute ihn an und sah, dass er mir heimlich zuzwinkerte, anscheinend hatte er verstanden, dass ich versucht hatte, Papa abzulenken.

»Wie geht es denn jetzt weiter?« fragte ich, »was können wir konkret tun?« – »Warten wir mal ab, wie uns der Sturm zusetzt«, antwortete Kapitän Reckling, »sobald es heftiger wird, gebe ich Ihnen beiden genaue Anweisungen.« – »Essen Sie jetzt nicht zuviel«, setzte Herr Mühlenthal hinzu, »und trinken Sie keinen Kaffee und natürlich keinerlei Alkohol. Sollte einer von Ihnen seekrank werden, erhält er eine spezielle Ernährung.« – »Und wie sieht die aus?« fragte ich nach. – »Reisbrei mit etwas Zucker und Zimt am Morgen. Viel Zwieback. Reisbrei ohne Zucker und Zimt, aber mit ein paar Früchten am Mittag. Noch mehr Zwieback. Reisbrei …« – »Pfui deibel!« entfuhr es mir. – »Wenn mein Sohn etwas nicht mag, dann ist es Reisbrei«, sagte Papa. – »Aber Du isst ihn gern, Josef?« fragte Ingenieur Segemann. – »Seit den Kindertagen esse ich Reisbrei. Reisbrei kann etwas sehr Köstliches sein.« – »Stimmt«, sagte Ingenieur Segemann, »obwohl … – es kommt darauf an.«

Die geleerten Suppenteller wurden abgeräumt, und Denis kündigte an, dass es nach der Suppe panierte Schnitzel mit Bratkartoffeln geben werde. »Panierte Schnitzel?!« fragte Herr Mühlenthal, als könnte er das nicht glauben. – »Exzellente panierte Schnitzel!« sagte Denis. – »Ausgerechnet«, antwortete Herr Mühlenthal und schaute so streng und ernst vor sich hin, als rechnete er mit dem Schlimmsten.

Ich überlegte noch, warum Herr Mühlenthal eine so kritische Haltung gegenüber panierten Schnitzeln und Bratkartoffeln an den Tag legte, als sich das Unwetter plötzlich mit einer winzigen Geste bemerkbar machte. Es war nichts Besonderes oder Erregendes, nein, es war überhaupt nichts Heftiges, das einen erschreckt hätte. Das Unwetter meldete sich vielmehr hinterrücks, auf die fieseste mögliche Art. Ein kurzer Ruck ging durch den Salon, als hätte ein zuvor noch schlafender Riese aus den Tiefen des Meeres mit seiner mächtigen Faust kurz, aber nachdrücklich gegen den Rumpf des Schiffes geklopft. Es war ein Anklopfen, ja, wie eine erste Ankündigung, dass die stillen, ruhigen Zeiten vorbei waren.

Der heftige, kurze Ruck ließ unseren Tisch einen Moment zittern, die Gläser klirrten leise, und eine einzige Stoffserviette (es war die von Herrn Mühlenthal) segelte von der Tischkante hinab auf den Boden. Das war schon alles, aber jeder von uns, der am Tisch saß, hatte es deutlich bemerkt. »Hoppla!« sagte Denis, als er mit den großen Fleischplatten hereinkam und sie auf den Tisch schob. »Hoppla!« – das war der ganze Kommentar zu dem kleinen Ereignis, niemand sagte noch ein weiteres Wort, »Hoppla!« musste genügen, aber wir alle wussten, dass dieses »Hoppla« keinem von uns die Bedenken (oder auch bereits: die Angst) nahm.

»Guten Appetit!« sagte Kapitän Reckling, »lassen Sie es sich schmecken!« Papa und ich blickten auf die panierten Fleischmengen, die zu leuchten und zu glänzen begannen, als Denis das Licht im Salon einschaltete.

Erst jetzt sahen wir, wie dunkel es draußen längst geworden war. Durch die Bullaugen blickten wir auf ein schwarzgraues Aquarell, das uns einhüllte und keine Sicht in die Ferne mehr zuließ. Ich starrte auf diese Farben, denn ich war sehr überrascht, wie rasch (und geradezu infam dramatisch) das Wetter gekippt war. Ich dachte an unsere Liegestühle und an die Decken, vielleicht befanden sich auch noch einige Bücher draußen an Deck. Ich wollte aufstehen, um nachzusehen, als Kapitän Reckling mich fragte: »Wohin willst Du? Doch nicht etwa an Deck?!« – »Ich schaue mal kurz nach den Liegestühlen und unseren Büchern«, antwortete ich. – »Keine Sorge«, antwortete Kapitän Reckling, »an Deck befindet sich nichts mehr, rein gar nichts. Die Männer haben alles weggeräumt.«

Ich setzte mich wieder hin, ohne dass mich diese Sätze beruhigt hätten. Man hatte alles weggeräumt? An Deck befand sich rein gar nichts mehr? Das hörte sich an, als drohte jedem noch so kleinen Gegenstand größte Gefahr. Dass sich Menschen an Deck aufhielten, erschien nun vollkommen ausgeschlossen. »Ich würde gern mal einen Blick nach draußen werfen«, sagte da plötzlich Papa, »schließlich erlebe ich so einen Sturm zum ersten Mal.« – »Sie bleiben genau da, wo Sie jetzt sitzen«, antwortete Herr Mühlenthal, »am besten, Sie bewegen sich nicht von der Stelle, essen Ihr Schnitzel, trinken ein Glas Wasser und ziehen sich später in Ihre Kabine zurück.«

»Na, so schlimm wird es nicht sein«, sagte Papa und stand auf. Ich wusste, dass er nun auf jeden Fall an Deck gehen würde, Herr Mühlenthal hätte seine Empfehlung höflicher (und weniger wie einen Befehl) formulieren sollen. (Wenn man Papa unhöflich (und wie ein Befehlshaber) anredet, erreicht man bei ihm nichts, rein gar nichts, höchstens das Gegenteil.)

Papa verließ den Tisch und ging zur Salontür. Ich sah, dass Kapitän Reckling seinen Zorn zu beherrschen versuchte und gleich mit einer Schimpftirade loslegen würde. Deshalb reckte ich mich etwas nach vorn und sagte: »Ich muss Ihnen allen etwas erklären.« Papa drehte sich noch einmal um und sagte: »Na, dann erklär mal schön!« Im nächsten Moment war er verschwunden.

Kapitän Reckling wollte ebenfalls sofort aufstehen, als ich weitermachte: »Ich möchte Ihnen etwas erklären. Wenn man meinem Vater etwas befiehlt oder wenn man ihn anherrscht, macht er das Gegenteil dessen, was man ihm befohlen oder weswegen man ihn angeherrscht hat. Man kann dagegen nichts tun. Es ist ein Überbleibsel seiner Zeit als Soldat im Krieg. Mein Vater kann Befehle jeder Art nicht ertragen. Wenn man ihm sagt: ›Springen Sie auf keinen Fall vom Deck ins Meer, ich befehle es Ihnen!‹, springt mein Vater unweigerlich ins Meer. Auch wenn er genau weiß, dass es ihn das Leben kostet.«

Niemand antwortete. Nur Herr Mühlenthal aß sein paniertes Schnitzel und setzte einen kleinen Haufen Bratkartoffeln auf ein Fleischstück, als wollte er mit Hilfe dieser Spielerei meine Erklärung kommentieren. »Na, das sind ja schöne Aussichten«, sagte Kapitän Reckling, stand auf und verließ den Salon. »Es gibt Passagiere, die lassen einen nicht mal in Ruhe ein Schnitzel essen«, murmelte er, während wir anderen still um den Tisch saßen und die panierten Schnitzel mitsamt den Bratkartoffeln anschauten: Sollten wir das nun essen oder nicht?

»Nun essen Sie doch endlich!« rief Denis, als er unsere Runde so schweigen und abwarten sah, »es ist ganz ausgezeichnetes Fleisch, frisch importiert.« – »Stimmt!« sagte Herr Mühlenthal und stand als dritter vom Tisch auf. »Stimmt, Denis! Ganz ausgezeichnet! Aber ich habe genug, und ich habe zu tun! Bis zum Abend die Herren!«

Ich saß nun allein mit Ingenieur Segemann am Tisch. »Iss, mein Junge«, sagte er freundlich zu mir. – »Ich habe leider keinen Appetit«, antwortete ich. – »Ich leider auch nicht«, sagte er. Dann rief er Denis herein und bat ihn, die Schnitzel (mitsamt den Bratkartoffeln) wieder abzutragen. »Heb Sie für uns auf, Denis!« sagte er, »der Koch soll sie am Abend aufwärmen – und dann schlagen wir zu!«

Wir erhoben uns beide und quetschten uns nacheinander durch die Salontür, die ganz ähnlich wie zuvor der Tisch kurz zu zittern begann. Ich drehte mich noch einmal um und sah, wie ein Glas auf der weißen Tischdecke langsam ins Rutschen geriet. Es sah aus, als hätte es plötzlich die Füße einer älteren Person bekommen, die sich trippelnd zum Tischrand bewegte, um von dort in den Abgrund zu springen. »Scheiße!« hörte ich Denis rufen, als er in den leeren Salon kam, »Scheiße, Mann! Nun hilf mir doch mal!«

Ich ging wieder zurück und bekam das Glas gerade noch zu fassen. Kaum hatte ich das geschafft, begannen aber auch die anderen Gläser, sich zu bewegen. Sie begannen regelrecht zu tanzen, als spielte im Hintergrund eine fetzige Musik. Einige wurden schwindlig, andere schlidderten über die Decke, die jetzt wie eine glänzende Eisfläche aussah. Mein Gott, welche Kräfte dieser Sturm schon beim ersten Anlauf entfachte! In wenigen Minuten hatte er das Schiff in ein Juxkabinett verwandelt! Und in diesem Kabinett spielten anscheinend alle verrückt, die Menschen an Bord genauso wie die Gegenstände!

»Wir müssen alle beweglichen Gegenstände im Salon abräumen«, rief Denis. – »Okay, ich helfe Dir«, sagte ich.

Die Albireo arbeitete sich nun in einem seltsamen Rhythmus voran, denn sie richtete sich vorn am Bug enorm auf, krachte breitbeinig zurück in die Wellen und tauchte danach mit dem Hintern tief ab. Das alles verlief mit einiger Verzögerung, man erlebte das Sich-Aufbäumen, wartete auf das Wellenbad und empfand das verspätete, erniedrigende Abtauchen am Heck wie eine Schmach. Dieses Schiff, dachte ich, hat die Gewalt über den Sturm längst verloren! Lächerlich, wie es sich demütigen und auf und ab hebeln lässt! Lächerlich, ja – und ganz wie ich vor Antritt der Reise befürchtet hatte! Dieses angeberische Frachtschiff, das die Beobachter im Hafen noch von allen Seiten bewundert und bei der Ausfahrt umschwärmt hatten, war inzwischen nichts anderes mehr als eine infantile Wippschaukel, mit deren Einrichtung der Atlantiksturm uns sämtlicher Mageninhalte berauben würde!

Als im Salon kein Gegenstand mehr auf den Tischen zu sehen war, ging ich zurück in unsere Kabine. »Danke für die Hilfe, junger Mann!« rief mir Denis nach, ohne dass ich reagiert hätte.

Das Gehen fiel nicht mehr leicht, ich musste mich an den Wänden entlangtasten und suchte nach einem Halt, da war aber keiner! Erleichtert war ich, als ich Papa in der Kabine antraf. »Ich habe alles weggeräumt, was zu Boden fallen könnte«, sagte er. – »Ich dachte, Du wärest an Deck gegangen!« antwortete ich. – »Das erschien mir nicht angebracht«, murmelte er.

»Kapitän Reckling war ganz schön sauer auf Dich«, sagte ich, »und Herr Mühlenthal war es wohl auch.« – »Ich habe Herrn Reckling mein kleines Problem erklärt«, sagte er, »er hatte dafür zwar kein Verständnis, hat mein Verhalten aber doch akzeptiert. ›Befehlsverweigerungen an Bord sind so ziemlich das Schlimmste, was ein Kapitän erleben kann‹, hat er gesagt. Danach haben wir vereinbart, gemeinsam nach einer Lösung für mein Problem zu suchen. Wenn der Sturm vorbei ist. Wenn der Ententeich wieder erscheint.«

Papa lachte, und er lachte so befreit und fast übermütig, als könnte so ein Vaterlachen den Sturm bändigen. »Geht es Dir gut?« fragte ich. – »Mir geht es fantastisch«, antwortete Papa, »endlich ist mal was los. Dieses stille Dahinschippern war ja kaum zu ertragen.« – »Ich schippere lieber still«, sagte ich, »und mein Magen ist empfindlicher als Deiner. Was sollen wir denn jetzt tun? Dasitzen und zuschauen, wie die Wellen die Bullaugen eindrücken?« – »Ach was. Jetzt ist Lesestunde. Ich lese die Odyssee in Versen, und Du liest sie in Prosa. Sie ist die ideale Begleitlektüre zu dem, was wir gerade erleben.« – »Wieso denn das?« fragte ich. – »Wieso?! Lies mal selbst, das lenkt ab, hinterher sprechen wir drüber.«

Papa legte sich auf sein Bett, schaltete die kleine Leselampe ein, lupfte das rechte Bein auf das linke – und las. Ich trank einen Schluck Wasser (einen Moment hatte ich sogar Hunger, ausgerechnet jetzt … – Hunger!) und legte mich dann ebenfalls hin.

Das Liegen war aber nicht angenehm. Mein Körper fand nämlich überhaupt keine Ruhe, sondern schien (obwohl er doch still dalag) fest an das Auf und Ab des Schiffes gekettet. Als läge ich rücklings auf einem hohen Wellenbett und als höben mich die Wellen mal weit in die Höhe, um mich kurz darauf sehr tief fallen zu lassen! Das Schlimmste an diesen Bewegungen war aber ihre Regelmäßigkeit. Sie verliefen so, als gäbe es gegen sie keinerlei Gegenwehr und als wäre mein Körper nun für sehr lange Zeit Teil einer Kirmes, die mich in den Wahnsinn treiben würde.

Ich stand wieder auf und sagte: »Das ist nicht zum Aushalten!« – »Was denn?« fragte Papa. – »Nun tu bitte nicht so, als würdest Du es nicht auch spüren!« sagte ich. – »Ich spüre nichts«, antwortete Papa und las weiter, als sagte er gerade die Wahrheit. »Das ist nicht wahr!« wollte ich sagen, als ich ins Bad getrieben wurde.

Die Wellenbewegungen des Schiffes hatten inzwischen etwas von ekstatischer werdenden Schlangenbewegungen (die Schlange züngelte, schnappte nach Luft, fiel abrupt in sich zusammen, richtete sich quälend langsam wieder auf), mit jeder Bewegung mehr bohrte sich dieses Schlingern in meinen Magen. Im Bad hielt ich mich am Waschbecken fest und stierte in den Spiegel. So musste Odysseus ausgesehen haben, als er jeden Halt auf See verloren und sich kurz vor dem Sprung in die offene, wilde See befunden hatte. »Zum Glück hast Du nicht viel gegessen«, dachte ich, »auf die Bohnen mit Speck hättest Du aber auch noch verzichten sollen!«

Ich öffnete den Mund und versuchte, den Ekel durch heftiges Aus- und Einatmen wegzupumpen. Das Bild der dicken weißen Bohnen mit Speck war aber nicht zu vertreiben. Im Gegenteil, ich sah immer mehr Bohnen, sie türmten sich vor mir auf und flossen anscheinend aus meinem Magen auf direkten Schleichwegen zurück in meinen geöffneten Mund, um sich ins Freie zu retten. »Dein Magen ist gerade überbeschäftigt«, dachte ich noch, »er trennt sich von den Bohnen und allen anderen Inhalten, er braucht Freiraum, um sich dem Sturm ganz hingeben zu können!« – Ich geriet in heftiges Schwitzen und wandte mich von meinem Spiegelbild ab. »Du solltest Dich nicht wehren, sondern Deinem Magen etwas Gutes tun«, dachte ich weiter, »vielleicht kommt er dann zur Ruhe.«

Ich beugte mich mit dem Kopf tief über die Toilettenschüssel. Dann befreite ich mich von der mittäglichen Suppe und allen weiteren Inhalten meines Magens. Es war das Ende einer zähen, ersten Schlacht, der Sturm hatte gesiegt, ich war sein erstes Opfer an Deck.