Coda 2

Reisetagebuch (31. Juli 1967, 09.25 Uhr)

An unserem letzten Tag in Istanbul möchte Papa noch eine richtige, große Moschee (und keine Museums-Moschee wie die Hagia Sophia) sehen. Die schönste ist die Süleymaniye-Moschee, die auf einem Hügel am Goldenen Horn liegt und triumphal die halbe Stadt überblickt. Auf dem Weg dorthin sind wir mehrmals aufgehalten worden. Von Verkäufern mit (grünem, rotem, orangenem) Sirupwasser, von kleinen Ständen mit gerösteten Maiskolben und von Fischhändlern, die in ihren Booten stehen und Brötchen mit Fisch anbieten. Normalerweise essen wir solche Sachen ja nicht am Morgen, Papa aber meinte, dass wir in Istanbul eine Ausnahme machen und uns den »Gepflogenheiten vor Ort« anpassen sollten. Das haben wir denn auch getan und nach dem Start unserer Speise- und Getränkefolge durch schwarzen, starken Tee Brötchen mit hier typischem Belag (Lamm, Fisch) gekostet. In der Nähe der Fischbrötchenboote wurde geangelt, und Papa versuchte, mit den Anglern ins Gespräch zu kommen. Sie waren aber (wieder mal) überhaupt nicht gesprächig und taten so, als fielen ihnen die Namen der geangelten Fische nicht ein. »So eine Angel würde ich auch gern einmal in die Hand nehmen«, sagte er (Papa hat in seiner Kindheit und Jugend im Westerwald viel geangelt). Und ich sagte sofort: »Untersteh Dich bloß nicht, Josef!«

Postbriefkarte an die Mama (31. Juli 1967, 10.48 Uhr)

Liebe Mama, es ist gar nicht so einfach, mit Papa durch Istanbul zu gehen. Er interessiert sich sehr für die Sitten und Bräuche der Muselmanen, geht aber ungern auf Distanz. Wird am Goldenen Horn geangelt, möchte er mitangeln. Ruft der Muezzin von seinem Minarett herab zum Gebet, möchte Papa auch etwas rufen und singen. Stehen wir an einem Imbissstand mit gelben Maiskolben, empfiehlt er den Händlern bestimmte Gewürze und Butter und Öl, die den Händlern überhaupt nicht gefallen. Gleich gehen wir in eine große Moschee, in der gebetet wird. Papa wollte die Reinigungsprozeduren der Gläubigen mitmachen und sich ebenfalls die Arme, die nackten Füße und das Gesicht an einer der vielen Wasserstellen waschen. Ich konnte ihn gerade noch zurückhalten. Wüsste ich bloß, wie man sich in Moscheen als Fremder benimmt!

Der Hof der Süleymaniye-Moschee (31. Juli 1967, 11.08 Uhr)

Papa und ich sitzen im Hof der Süleymaniye-Moschee. Man erreicht ihn durch mehrere, verschiedene Tore und kann sich danach in den Schatten setzen, um den Eingang der Moschee und ihre Architektur in Ruhe zu bewundern. In der Mitte des Hofes befindet sich ein Brunnen. Die Gläubigen kommen in kleinen Gruppen (viele auch einzeln) herbeigeeilt und entledigen sich vor dem Eingang ihrer Schuhe. Viele kommen im Hof zur Besinnung, bewegen sich plötzlich langsamer, sprechen weniger und bereiten sich auf das Betreten der Moschee vor. Ein umschlossener, stiller Hof wie dieser gefällt mir sehr. Er reduziert die sonstige Hektik und beruhigt enorm. Die Gläubigen denken weniger an das Drumherum, ja, ich vermute sogar, dass sie es bald vergessen. Ich meine, dass wir unsere Kirchen zu rasch und unaufmerksam betreten. Höfe wie diesen gibt es bei uns nicht, höchstens Kirchplätze, auf denen Kinder Fußball spielen oder an Spielgeräten herumturnen. Sehr selten haben unsere Kirchen Vorhallen (St. Ursula hat eine schmale), wo man Kerzen entzündet und zur Ruhe kommt. Vielen Gläubigen machen niedrige Vorhallen mit Kerzen jedoch wegen ihres Dunkels auch Angst. Sie tauchen die Finger rasch ins Weihwasserbecken und eilen ins Hauptschiff.

Sich waschen (31. Juli 1967, 11.23 Uhr)

Dass sich die Gläubigen noch vor Betreten des großen Hofes waschen, hat mich stark beeindruckt. Sie tun es nämlich nicht nebenbei, sondern konzentrieren sich darauf. Die Säuberung ist also kein lästiges Ritual, das man pro forma hinter sich bringt, sondern eines, das wie ein erster Anlauf zum Gebet erscheint. Ich habe nur Männer gesehen, die sich waschen. Sie setzen sich auf einen sehr niedrigen Hocker, ziehen Schuhe und Strümpfe aus, waschen sich Gesicht und Arme sowie schließlich sogar die Füße. Die meisten haben ein Tuch dabei, mit dem sie die nassen Stellen abtrocknen. Zum Schluss kommt die seltsamste, auffälligste Geste: Sie streichen sich mit der angefeuchteten rechten Hand kurz übers Haar. Als wollten sie das darunter sitzende Gehirn daran erinnern, dass gleich das Innere der Moschee betreten wird und höchste Aufmerksamkeit geboten ist.

Im Innern der Moschee (31. Juli 1967, 11.54 Uhr)

Papa und ich – wir sind (ohne Schuhe!) in der Nähe des Eingangs stehen geblieben und haben das weite Innere der großen Moschee bestaunt. Die meisten Gläubigen blieben ebenfalls stehen oder zogen sich nach den Seiten zum Gebet zurück. Einige Frauen beteten in einem abgetrennten Bereich. Sie lagen auf dem Boden und rührten sich nicht von der Stelle. Das Innere wird von nur wenigen, sanften und hellen Farben bestimmt. Weiß- und Rottöne (helles Rot!) überwiegen. Säulenbögen und Emporen werden durch Ornamente hervorgehoben. Wie in der Hagia Sophia fehlten auch hier Stühle und Bänke. Man steht vor einem ausgedehnten Rund und weiß nicht, wohin. Papa rätselte laut darüber, was während eines Gottesdienstes geschehe, kam mit seinen Vermutungen aber nicht weiter. Neben einem Verkaufsstand mit Führern und Dokumentationen zur Geschichte der Moschee entdeckte er einen jungen Mann, den er mindestens zwanzig Minuten lang befragte. Ich hatte Papa nicht begleitet, vielleicht auch aus Angst, Papa könne etwas fragen oder sagen, was sich absolut nicht gehörte. Dem war aber anscheinend nicht so. Als er zurückkam, sagte er nämlich: »Der junge Mann war die Freundlichkeit selbst! Beinahe wäre ich auf der Stelle zum Islam übergetreten!«

Der Gebetsruf des Muezzins (31. Juli 1967)

Papa zeigte mir eine kleine Broschüre, die sich mit dem Gebetsruf des Muezzins beschäftigte. Sie brachte den Text in arabischer, englischer und sogar deutscher Sprache, und ich konnte (endlich!) verstehen, was an jedem Tag fünfmal von den Minaretten herab gerufen wird. Der Gebetsruf ist immer derselbe (zuvor hatte ich angenommen, dass an jedem Tag etwas Anderes gebetet werde, so wie bei uns, wo die Gebete des Gottesdienstes dem Kirchenjahr folgen). Er beginnt mit einer Anrufung Allahs und wird fortgesetzt mit dem Bekenntnis, dass es außer Allah keinen anderen Gott gibt. Dann wird verkündet und bezeugt, dass Mohammed der Prophet Gottes sei. Zum Schluss werden die Gläubigen zum Gebet geladen – bis noch einmal der Name Allahs, des großen Gottes genannt wird. Im Grunde handelt es sich also um einen schlichten, leicht nachvollziehbaren Text und nichts Dunkles, das nur für Eingeweihte bestimmt wäre. Jeder kann diesen Gebetsruf verstehen, ja, ich kann mir sogar vorstellen, auch als Christ darauf zu reagieren und mich (auf meine Weise) zum Gebet einzufinden. (Seit ich den Text kenne, höre ich den Ruf anders: Ich höre nämlich auf den Text und nicht mehr so sehr auf den Gesang …)

Das Studium der Moschee (31. Juli 1967)

Papa sah man an, dass er sein Wissen über die Moschee sofort loswerden wollte. Und so begann er mit jenem Spiel, das wir schon vor vielen Jahren miteinander gespielt haben. Ich muss sagen, was mir auffällt und Vermutungen über die Verwendung all dessen anstellen, was mir aufgefallen ist. Also los! Mir fiel eine frei stehende Treppe auf, die hinauf zu einer Nische führte. Sie war von kostbarem Marmor eingefasst, schien aber nur für eine einzige Person bestimmt zu sein (so schmal wie sie war). Papa erklärte, es handle sich um eine Kanzel, die der Imam für die Predigt besteige. Von der Höhe der Treppe aus sei er gut zu sehen und zu verstehen. Weiter! Mir fiel ein hölzernes Gebilde in Form eines überdimensionalen Stuhles auf, ebenfalls wohl nur für einen Einzelnen bestimmt. Dieser Stuhl sei ein Predigtstuhl, auf dem der Imam sitze, wenn er längere Predigten halte oder den Koran auslege. Weiter! Mir fielen mehrere kleine Säulen auf, die einen Überbau trugen. Das war die Sultanloge, früher bestimmt für den obersten Herrscher, seine Verwandten und die hohen Beamten. Noch etwas? Ja, mir fiel die große Nische am anderen Ende der Moschee auf, genau gegenüber dem Eingang. Diese Nische, sagte Papa, gebe die Richtung für das Gebet an – und damit die Ausrichtung nach Mekka. Und was folgte aus alldem?! Einen Gottesdienst in unserem Sinn (mit seiner komplizierten Liturgie) gab es nicht. Der islamische bestand vielmehr aus dem Gebet und der Predigt – und das war alles. Im weiten Rund versammelten sich die Gläubigen, standen dicht nebeneinander und warfen sich auf den Boden (auch das Knien gab es nicht), um zu Allah zu beten und ihn zu verehren.

Reisetagebuch (31. Juli 1967, 14.37 Uhr)

Wir sitzen noch immer nahe der Moschee und schauen auf die Stadt. In wenigen Stunden geht unsere Reise zu Ende. Noch einmal werden wir in der kleinen Pension übernachten und Istanbul morgen früh mit dem Zug verlassen. Was haben wir noch vor? Ich erinnerte mich an Mühlenthals Rat, die Prinzeninseln zu besuchen. Während wir auf einer Dachterrasse Wasser mit Zitronensaft trinken und dazu ein Stück Kuchen essen, befragt Papa den Kellner danach. »Wie wäre es, noch einmal auf ein Schiff zu steigen – und wenn es auch nur ein Ausflugsdampfer ist!« sagt Papa. »Und wie wäre es, auf einer Prinzeninsel zu Abend zu essen?!« Zum Schluss wartete Mühlenthals (wieder einmal geniale) Idee nur noch darauf, in die Tat umgesetzt zu werden.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (31. Juli 1967, 16.11 Uhr)

Wir sitzen an Deck eines Ausflugsdampfers, der uns auf die Prinzeninsel Büyükada bringt. Bei den Einheimischen ist sie anscheinend sehr beliebt. An den Wochenenden fahren sie gerne hin, und manche bleiben dort sogar während des ganzen Sommers und nutzen die Insel als Ferienquartier. Schade also, dass wir nicht länger bleiben, um unsere Reise durchs Mittelmeer hier ein paar Tage ausklingen zu lassen, Büyükada wäre dafür genau richtig. Sehne ich mich nach zu Hause? Ein wenig, ja, aber ich könnte durchaus noch eine Woche bleiben. Um mit dem Jungen endlich auch einmal allein zu sein. Wir würden die Insel erwandern, abseits von den Scharen, wie wir es schon oft gemacht haben. Jetzt ist leider die Melancholie des Abschieds zu spüren. Bloß nicht darüber reden!

Reisetagebuch (01. August 1967, 01.18 Uhr)

Die letzte Nacht in Istanbul! Papa schläft bereits, nachdem wir in der Nacht von der Prinzeninsel Büyükada zurückgekehrt sind. Wir sind dort am Wasser lange spazieren und hinauf auf einen Hügel gegangen, von dem aus man einen weiten Blick auf das Marmara-Meer hat. In Hafennähe gab es viele Kutschen, aber Papa hatte keine Lust zu einer Kutschfahrt. »Lass uns mal wieder wandern«, hat er gesagt, und ich habe gemerkt, dass er stiller und stiller geworden ist. Oben auf dem Hügel haben wir nebeneinander auf einem Steinmäuerchen gesessen und nichts mehr gesagt. Ich glaube, wir waren beide sehr melancholisch, aber wir haben uns zusammengerissen, als wäre es nicht der letzte Abend unserer großen Odyssee durch das Mittelmeer. Auch als wir den Hügel hinabgestiegen sind, haben wir nicht miteinander geredet, und dann haben wir in der Nähe des Hafens ein Restaurant gefunden, wo wir zu Abend gegessen haben. Es gab sehr guten, gegrillten Fisch – und Papa fragte den Wirt, ob er eine Ausnahme machen und Wein dazu servieren könne. Der Wirt lachte und sagte, natürlich gebe es auf den Prinzeninseln auch Wein. Und dann aßen Papa und ich zusammen und tranken jeder zwei Gläser Weißwein und erzählten uns Geschichten von unserer langen Reise, als läge sie schon Wochen oder Monate zurück. Kurz bevor Papa zahlte, beugte er sich zu mir vor und bat mich darum, noch einmal den Beginn von Homers Odyssee auf Altgriechisch zu flüstern. Wir saßen direkt am Wasser, und das Wasser des Marmara-Meers war vollkommen still und lauschte, und direkt uns gegenüber saßen zwei, drei Möwen auf langen Stangen und schauten uns an, als wären sie die vielen Wochen mit uns gereist. Ich wurde, verdammt nochmal, noch melancholischer, aber ich sagte es nicht, sondern richtete mich tapfer in meinem Sesselchen auf und blickte hinaus auf das Meer und sagte die ersten, wunderschönen Verse der Odyssee, so gut ich weitgereister Junge es eben konnte …