Das Festessen
Am liebsten wäre ich zum Schreiben weiter in der Bibliothek geblieben, aber ich wusste, dass Maro mich nicht in Ruhe lassen würde. Daher ging ich in unsere Kabine zurück und suchte dort nach Papas Feldbuchrahmen. Ich fand ihn zum Glück rasch, nahm noch einige Blatt Papier mit und ließ Heinrich Segemann und Papa weiter schlafen.
An Deck legte ich mich in den Liegestuhl, spannte eine Seite in den alten Holzrahmen, legte ihn auf die Knie und begann zu notieren. Als Kind hatte ich mit Hilfe dieses Rahmens schreiben gelernt, Papa und ich hatten ihn auf unseren Wanderungen durch den Westerwald immer dabei gehabt, und dann hatte ich aufgeschrieben, was uns beiden aufgefallen und begegnet war.
Immer wenn ich den Jahrzehnte alten Rahmen sehe, überfällt mich eine gewisse Rührung. Ich kann nichts dagegen tun, weil er mich an die Zeiten erinnert, als ich noch ein hilfloser Knabe war, keinen Ton rausbekam und kein Wort schreiben konnte. Der alte Feldbuchrahmen gehörte einmal zu Papas Behandlungsideen gegen meine diversen Defekte, er ist ein wichtiges Utensil dieser Jahre, und ich darf nicht zu lange an diese Zeit denken, sonst geht es mir nicht besonders.
Papa benutzt diesen Rahmen, wenn er unterwegs ist, noch immer, und auch ich notiere manchmal etwas auf den weißen Seiten, die auf dem glatten Aluminiumuntergrund aufliegen. Wenn ich den Rahmen in die Hand nehme, fällt mir sofort etwas ein, ich brauche nicht nachzudenken, die ersten Sätze ergeben sich einfach von selbst.
Ich glaube, dass in dem rechteckigen Ding aus verblichenem Holz irgendein Zauber steckt, niemand kann mir das ausreden, auch Papa nicht, der so ein Reden überhaupt nicht gern hört. Egal, vielleicht passt das Instrument mehr zu mir und meinem Leben als zu Papas Vergangenheit, obwohl natürlich Papa es war, der das Zauberding in seinen Studienjahren für geodätische Aufzeichnungen in Wald und Wiese gekauft hat. In seinen Augen ist es bis heute eine nicht zu übertreffende Hilfe für Notizen unterwegs mit der Hand, ich aber sehe in ihm ein Zauberrechteck, dessen Gestalt sich meinem Hirn einprägt und es auf magische Weise zwingt, etwas hinein zu schreiben.
Nun gut, ich hatte nicht vor, sentimental zu werden, »keine Sentimentalitäten«, sagte ich laut und dachte sofort, dass Papa lachen würde, wenn er mich gerade hörte. Auch Papa sagt so etwas oft, aber er sagt es als Schutz gegen das Sentimentale, denn er selbst ist durchaus empfänglich für solche Stimmungen und keineswegs unsentimental. ›Schluss, vergiss diese Geschichten!‹ dachte ich (reichlich pathetisch) und starrte auf die weiße Seite, die in Papas Feldbuchrahmen aufleuchtete, als wartete sie nur darauf, mit möglichst vielen Buchstaben und Sätzen geschmückt zu werden. ›In Ordnung!‹ sagte ich schließlich, ›kehren wir aber wenigstens zu den Methoden der Kindheit zurück und schreiben wie früher auf, was uns gerade so auffällt!‹
Hausmannskost
Das Essen an Bord ist typische deutsche Hausmannskost. Es ist also eher für die Passagiere und ihren »Heimatgeschmack« als für die Besatzung gedacht. Die Besatzung sehnt sich nach etwas ganz anderem, nämlich nach Getränken und Speisen der Länder, die das Schiff gerade passiert. Französische Fischsuppe und französische Weißweine, spanische Oliven und spanische Rotweine. Sollten Papa und ich nicht offen sagen, dass wir deutsche Hausmannkost im Atlantik (und erst recht im Mittelmeer) für keine gute Idee halten? Ich werde mit Papa darüber sprechen.
Nachrichten an Bord
Interessant war, was Maro, der Funker, über die Nachrichten an Bord sagte. Welche die Passagiere erwarten und welche die Besatzung bevorzugt. Am liebsten würde ich lauter Nachrichten erfinden und mir lauter Verrücktheiten ausdenken – und zwar so raffiniert, dass sie glaubwürdig erscheinen würden. Wie mache ich das, und wäre Maro bei einem solchen Vorhaben auf meiner Seite?
Das Leben an Bord
Jedes Besatzungsmitglied lebt an Bord sein eigenes Leben. Natürlich haben sie auch alle miteinander zu tun und arbeiten zusammen, aber letztlich lebt jeder ein Leben, das er nicht unbedingt mit den anderen teilt. Der Erste Offizier hat die Kulturen der unterschiedlichen Meeres- und Landregionen im Kopf, der Kapitän deren Kriegsgeschichte, Ingenieur Segemann die Historien der Seefahrt, der Steward die pure Gegenwart (Songs, Literatur) und der Funker die Meldungen aus aller Welt. So gesehen hat jeder einen eigenen Kosmos, den er während der freien Stunden beackert und in dem er gern lebt. Ohne einen solchen Kosmos wäre das Leben an Bord wohl schwer zu ertragen, man würde sterben vor Eintönigkeit und vor Melancholie.
Melancholie
Macht das Meer melancholisch? Ja, macht es. Wenn man außer den Wellen und Wogen nichts anderes sieht und der ewige Wind darüber wegfegt und das Meer grau ist wie ein alter Pullover und der Wind sich auch noch wichtigtuerisch alle paar Minuten aus einer anderen Richtung weht – dann entsteht Melancholie. Man denkt, verdammt, es gibt nichts Anderes mehr als diesen Zustand, nichts wird sich bald ändern, man lebt wie in einem Freiluftgefängnis und würde sich am liebsten in den Rumpf des Schiffes verkriechen, um dort ein spannenderes Kellerleben zu führen.
Die Matrosen
Wir Passagiere bekommen die Matrosen im rückwärtigen Teil des Schiffes nur selten zu sehen. Sie treten in Gruppen auf und reden kein Wort. Sie spritzen das Deck sauber, fummeln an der Ladung herum oder streichen Partien des Schiffes mit frischer Farbe. Ihr Auftreten hat etwas Gespenstisches, und jedes Mal, wenn ich sie sehe, denke ich an die alten Seefahrerfilme, die ich vor ein paar Jahren so gern im Kino gesehen habe. In diesen Filmen bewegten sich die Matrosen nur auf Kommando, führten Befehle aus und gaben sich männlich. Von Befehlen und Kommandos ist hier an Bord nie etwas zu hören, und besonders männlich erscheinen unsere Matrosen mir auch nicht. Eher wie etwas gelangweilte, stoische Arbeiter, die abends Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen.
Ich notierte das alles in kurzer Folge, und ich hätte endlos weitermachen können, wenn Papa nicht erschienen wäre. Er sah noch schläfrig aus und hatte den Fänger im Roggen wieder gegen die Odyssee ausgetauscht. »Hier steckst Du also«, sagte er und legte sich neben mich in den zweiten Liegestuhl. – »Wo ist Onkel Heinrich?« fragte ich und musste grinsen. – »Onkel Heinrich schläft noch«, sagte Papa. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihn die Angst um unser Schiff so überwältigen würde. Er schlodderte vorhin ja richtig.« – »Nennst Du die Albireo wahrhaftig unser Schiff? Ist es Dir vom Gefühl her näher als bei unserem Aufbruch?« – »Ja, ist es. Wir haben mit ihm etwas Bedrohliches erlebt und überstanden – so was verbindet.« – »Du redest, als wäre die Albireo ein Haustier.« – »Ein Haustier? Nein, das nicht. Ich finde, sie ist ein großes Spielzeug.« – »Ein Spielzeug?!« – »Ja, ein großes Abenteuerspielzeug, mit dem man aber auch in ernsthafte Gefahr geraten kann.« – »Sag das nicht unserem Kapitän Reckling, der hält die Albireo bestimmt nicht für so was Infantiles.« – »Natürlich nicht. Und sie ist ja auch keineswegs infantil, nein, ist sie nicht. Sie ist ein großes Spielzeug, mit dem man auf Abenteuerreise gehen kann, ein Spielzeug für das reale Leben.«
Ich sagte nichts mehr, Papa hörte sich gerade so an, als hätte auch er einige Stunden in Mühlenthals Philosophieschule genommen. Ich überlegte, ob ich seine Überlegungen auch aufschreiben sollte, tat das dann aber nicht, weil ich lieber etwas selbst Gedachtes notierte. »Ah, Du hast Dir meinen alten Feldbuchrahmen ausgeliehen!« sagte Papa. – »Ja«, antwortete ich, »er bringt mich in Sekundenschnelle auf neue Gedanken.« – »Mich nicht«, sagte Papa, »er will, dass ich zeichne, nichts sonst. Und zeichnen geht niemals schnell, auch wenn es in meinem Fall, wie Du oft behauptest, so aussieht.« – »Ich habe große Lust, an Land schwimmen zu gehen«, antwortete ich. – »Ich auch, das machen wir auf jeden Fall!« – »Vielleicht haben wir bei unseren Landgängen aber keine Zeit. Schließlich warten Hunderte von antiken Stätten und Museen auf uns.« – »Bei diesem Wetter haben die Museen nur geringe Chancen«, sagte Papa. – »Du bist kein guter Bildungsbürger«, sagte ich. – »Weißt Du etwa, was ein guter Bildungsbürger ist?« – »Vielleicht weiß ich es am Ende unserer Reise.«
Vermutungen über den guten Bildungsbürger
Der Bildungsbürger geht nach Plan vor. Er hat mehrere Reiseführer dabei und folgt ihren Vorschlägen. Selbst das Essen lässt er sich von ihnen empfehlen. Vorschlag für Vorschlag hakt er ab und vergibt Punkte. Er findet insgeheim, dass Reisen anstrengend ist und auch anstrengend sein muss, aber er würde es niemals zugeben. Selbst Entspannung verordnet er sich und hält auf seinen Postkarten in die Heimat fest, dass er sich gerade bei bestem Wetter entspannt. Regelmäßig zählt er die Tage, die noch vergehen, bis er wieder zu Hause ist. Dort hält er einen Diavortrag vor seinen Nachbarn und Freunden und erklärt ihnen, wie schön es auch im Ausland sein kann.
Ich schaute auf und bemerkte, dass Papa mich die ganze Zeit beobachtet hatte. »Du schreibst schnell wie der Teufel«, meinte er und lachte. – »Das sage ich ja«, antwortete ich, »ich brauche bloß auf diesen Rahmen zu schauen, und das Schreiben geht los.« – »Manchmal erinnere ich mich an die Zeiten, als das ganz anders war.« – »Daran möchte ich jetzt keine Sekunde denken.« – »Ich denke sehr oft daran.« – »Ja, ich weiß. Unsere ganze Familie denkt oft an diese Zeit, als ich klein war und nicht richtig tickte.« – »Nicht nur an die.« – »Nein, nicht nur, auch an die Zeiten davor, als ich noch gar nicht auf der Welt war.« – »Du hast Recht, wir wollen jetzt nicht darüber reden. Wir sind auf großer Fahrt. Wo genau segeln wir eigentlich gerade entlang?« – »Im Gegensatz zu Ihnen, Passagier Ortheil, bin ich genau im Bilde. Wir haben den Golf von Biskaya längst durchquert, Kap Finisterre passiert und erreichen bald die Steilküsten Spaniens und Portugals, die wir dann aus wenigen Kilometern Entfernung betrachten.« – »Warst Du etwa die ganze Zeit wach? Kein bisschen geschlafen?« – »Kein bisschen – und blendend erholt!« – »Wer oder was hat denn dieses kleine Wunder vollbracht?« – »Der heilige Geist schwebte über den Wassern, und Poseidon ergriff die Flucht.« – »Na, wenn sich das nicht bildungsbürgerlich anhört!« – »Tut es das?« – »Hundert Prozent!«
Ich fand es ein wenig peinlich, dass Papa mich bei so etwas ertappt hatte, und sagte eine Weile nichts mehr. Ich hatte nun auch genug geschrieben, und als ich sah, dass Papa sich in die Odyssee vertiefte, ließ ich ihn allein und ging in unsere Kabine. Heinrich Segemann wachte dort gerade auf und fragte mich, wie spät es sei. Ich nannte ihm die Uhrzeit, und er erschrak. Bevor er unsere Kabine eilig verließ, blickte er noch auf die Unordnung, sagte aber nichts. »Ich räume jetzt auf«, murmelte ich, »ich mache das sogar gern.« Heinrich Segemann legte mir kurz die Hand auf die Schulter und machte sich dann aus dem Staub.
Ich hatte keineswegs geschwindelt, sondern wirklich Lust, die Kabine gründlich aufzuräumen. So etwas wäre nichts für Papa gewesen, wirklich nicht. Papa räumt eigentlich niemals auf, weil er auch nie etwas in Unordnung bringt oder unordentlich zurücklässt. Sein großer Schreibtisch ist immer tadellos aufgeräumt, und seine Bücher stehen stramm und ordentlich in den Regalen, als wären sie alle hellwach und unterhielten sich ununterbrochen miteinander.
Beim Aufräumen fielen mir auch Papas Aufzeichnungen in die Hände. Für seine Verhältnisse hatte er seit unserer Abreise sehr viel notiert. Ich zwang mich, nicht in diesen Notizen zu lesen, vielleicht wäre ihm das nicht recht gewesen. Sie machten mich aber sehr neugierig, denn ich hatte noch nie erlebt, dass Papa viel vom Tagesgeschehen aufschrieb und kommentierte. Fast hätte meine Neugier die guten Vorsätze erschüttert, ich hielt mich jedoch schließlich an sie und nahm mir vor, Papa zu fragen, ob ich seine Aufzeichnungen lesen dürfe.
Während ich immer weiter aufräumte, klopfte Denis an die Tür und meldete, dass an diesem Abend erst um 20 Uhr gegessen würde, dann aber richtig und festlich. »Was soll das heißen?« fragte ich. – »Kapitän Reckling hat einige Anordnungen getroffen. Angeblich, weil heute französischer Nationalfeiertag ist.« – »Sollen wir den etwa feiern?« – »Kommt mir auch seltsam vor, Kapitän Reckling ist keineswegs für eine besondere Frankreichliebe bekannt. Im Gegenteil!« – »Ich bin sehr gespannt«, sagte ich und beobachtete Denis auf etwaiges Unwohlsein hin. Ich konnte aber nichts entdecken, nein, er wirkte völlig normal und sogar leicht übermotiviert, als wollte er sich bei diesem Festessen besonders ins Zeug legen.
Ich brauchte etwa eine Stunde, dann war unsere Kabine aufgeräumt und sah beinahe noch besser und aufgeräumter aus als zuvor. Ich ging wieder an Deck, Papa stand an der Reling und schirmte die Augen mit der rechten Hand ab. »Schau Dir das an!« sagte er, »wie schön ein Stück Land sein kann!«
Ich schaute ebenfalls auf das Meer und erkannte in weiter Ferne wahrhaftig ein Stück Land. Es war ein schmaler, dunkelbrauner Streifen mit hellgrüner Kruste, er sah unbegehbar, schroff und steil aus, als bröckelten bei jedem heftigen Sturm große Stücke von ihm ab. Sein Anblick wirkte nach dem, was wir erlebt hatten, wie eine Erlösung und wie die Verheißung einer friedlichen Zukunft. Wir brauchten bloß irgendwo anzulegen – und wir wären für immer gerettet!
Natürlich hatte niemand an Bord so etwas vor, man spürte nur stark, wie wohltuend die Nähe des Landes und die Gewissheit, es jederzeit anlaufen zu können, waren! Der Streifen Land wirkte nicht wie ein Stück einfacher Erde, sondern wie ein Zeichen, das Stille und Frieden verhieß. Plötzlich verstand ich, worin ein weiterer Reiz dieses Reisens bestand. Die große, freie See und das weite, belebte Land zogen sich an und standen in geheimem Kontakt miteinander. Vielleicht war die Seefahrt besonders faszinierend, wenn man diese gegenseitigen Anziehungskräfte am eigenen Leib spürte und sie während jeder Reise neu auslotete.
Papa und ich schwiegen, als Anfänger waren wir vom bloßen Anblick eines Streifen Landes nach durchlittenem, gefährlichem Sturm überwältigt. »Weißt Du, wann wir Lissabon anlaufen?« fragte Papa schließlich. – »Wir laufen es überhaupt nicht an«, antwortete ich. – »Nicht?! Ich denke, das war vorgesehen, wenn Ladung über Bord ginge.« – »Anscheinend haben wir nicht viel Ladung verloren, und die Albireo ist sonst vollkommen in Ordnung. Sie bleibt also auch weiterhin Dein properes Abenteuerspielzeug. Übrigens essen wir gleich festlich, später als sonst, aber festlich.« – »Wieso denn das?« – »Lassen wir uns überraschen!«
Wir starrten noch einige Zeit auf das Land, ich hatte Papa dafür eigens das Fernglas geholt. Es war jedoch überhaupt nichts Besonderes zu sehen, lediglich dunkelbraune Erde mit hellgrünem Überzug und einigen tiefroten Spalten. Wir schauten beide durch das Gerät und schilderten, was wir im Einzelnen so alles sahen, es hörte sich an, als hätten wir etwas entdeckt, was vor uns noch kein Mensch vor Augen gehabt hatte.
Dann gingen wir in die Kabine zurück. Papa war erstaunt, wie ordentlich es in ihr aussah. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie wir das wieder hinbekommen«, sagte er. »Es sah ja saumäßig aus.« – »Ich habe mich das überhaupt nicht lange gefragt, sondern einfach aufgeräumt«, antwortete ich. – »Danke, Du kannst richtig nützlich sein. Na ja, ›nützlich‹ ist eigentlich ein furchtbares Wort! Aber jetzt trifft es zu. Du darfst Dir etwas wünschen, wie früher als Kind, als Du Dir immer Konzertkarten gewünscht hast.« – »Hier gibt es aber keine Konzertkarten! Ich wünsche mir etwas anderes, nämlich …, dass ich Deine Aufzeichnungen lesen darf! Ich habe gar nicht mitbekommen, dass Du soviel notierst!« – »Ah, das interessiert Dich, ich kann es mir vorstellen! Ich bin einverstanden, aber ich gebe sie Dir erst nach unserer Rückkehr! Jetzt würde es mich in Verlegenheit bringen, wenn Du sie liest. Ich lese Deine Aufzeichnungen schließlich auch nicht hier an Bord, ja ich lese sie nicht einmal später, sondern nur die fertige Reiseerzählung, die dann hoffentlich an Weihnachten kommt. Einverstanden?«
Ja, ich war einverstanden. Ich sprach noch davon, warum unser gemeinsames Abendessen an diesem besonderen Tag später stattfinden werde. Dann nannte ich ein paar Details. »Soll ich mich etwa umziehen, für das festliche Essen?« fragte Papa. – »Würde ich nicht tun«, antwortete ich. »Kapitän Reckling hat uns ja nicht eigens informiert, ich weiß davon nur durch Denis, ich glaube, es geht um etwas Privates, vielleicht hat er heute Geburtstag, oder vielleicht hat er französische Freunde oder Verwandte.« – »Wieso denn das?« – »Denis hat gemeldet, dass er anlässlich des französischen Nationalfeiertags mit uns anstoßen möchte.« – »Ist heute französischer Nationalfeiertag?« – »Allerdings. Ich denke, unsere Familie stammt aus Frankreich, da müsstest Du das doch wissen.« – »Natürlich weiß ich es, ja, es stimmt, Du hast recht, ich habe es wegen des Sturms komplett vergessen.«
Aus den Aufzeichnungen meiner Vaters (14. Juli, 19.04 Uhr)
Habe zusammen mit dem Jungen die Küstenformationen der nördlichen spanischen Westküste studiert. Ihre Geologie: Farblichkeit, Gestein, Porösität der Schichten. Morgen werde ich Zeichnungen und Aquarelle der Küste erstellen. Sie werden schärfer und präziser sein als jedes Foto.
Aus meinem Reisetagebuch (14. Juli, 19.08 Uhr)
Papa schaut durch das Fernglas, fixiert die spanische Küste und kommentiert ununterbrochen, was er erkennt. Die geologischen Begriffe sagen mir nichts, aber es hört sich gut an und ist beeindruckendes Fachchinesisch. Denis bekam alles aus dem Hintergrund mit. Er machte hinter Papas Rücken ein frommes Zeichen: »Texte zum Niederknien!«
Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (14. Juli, 19.16 Uhr)
14. Juli, französischer Nationalfeiertag. In der Kindheit haben wir ab Mittag auf dem Hof gefeiert, und die Feldarbeit musste ruhen. Es gab Cidre, ich erinnere mich, wir bekamen ihn von entfernten Verwandten, die noch in Frankreich wohnten. Wie hießen sie doch gleich? Am frühen Abend spielte unser Vater Klavier, mehrmals auch die Marseillaise. Ich habe sein Spiel noch genau im Ohr, als säße der alte Mann vor mir. Das Klavier stand direkt neben dem Eingang der Gastwirtschaft. Wenn das Wetter gut war, mussten wir Kinder es ins Freie, vor das Haus, schieben. Unser Vater freute sich, wenn eines der damals noch wenigen Kraftfahrzeuge anhielt und die Insassen zuhörten. Nach einer Weile fuhren sie langsam weiter. Sie hatten einen Schluck Cidre erhalten und Musik gehört – das war damals etwas Besonderes, man sprach noch lange davon.
Aus meinem Reisetagebuch (14. Juli, 19.32 Uhr)
Hatte gerade, von Papas Fachchinesich inspiriert, die Idee, solche Texte in Maros Bordzeitung zu bringen. Was würden die fleißigen, aber wortarmen Matrosen sagen, wenn sie so etwas vorgesetzt bekämen? ›Neues vom Tage. In neun Kilometern Entfernung waren Backbord herrliche, tiefrötliche Sedimentablagerungen über grauweißen Sanderosionen zu bemerken. Die quartären Randschichten zeigten erhöhte Abwasserbereitschaft, die bei Temperaturen unter 10 Grad zunimmt …‹
Kurz vor 20 Uhr standen Papa und ich zögerlich in unserer Kabine. Wir hatten uns nicht festlich angezogen und deshalb kein gutes Gefühl. Was wäre, wenn die anderen festlich gekleidet waren und wir neben ihnen wie Zaungäste oder Figuren aus anderen Welten erscheinen würden? »Es hilft alles nichts, wir müssen da durch«, sagte Papa und öffnete die Tür. Hintereinander trotteten wir in den Salon, in dem so festlich wie bisher noch nie gedeckt war. In der Mitte der Tafel gab es seltsam verschlungene Stoffgirlanden mit den Farben der französischen Tricolore, und auf zwei silbernen Tabletts standen gleich mehrere Flaschen Wein, weiß, rot und sogar rosé.
Erleichtert bemerkten wir, dass auch Heinrich Segemann in seiner Alltagskleidung (dunkelblaues, ärmelloses Hemd, beige Hose) erschienen war. Er war als erster gekommen und sah noch immer etwas mitgenommen aus. »Heinrich! Alles in Ordnung?« fragte Papa leise. Heinrich Segemann lächelte freundlich und nickte: »Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen. Aber es ist nett, wie besorgt Du bist!« (So redete an Bord nur Heinrich Segemann: als wäre er ein Pointenjäger, der Pointen aber nur zur eigenen, nie zur Zufriedenheit anderer hinbekam. Ich war sicher, dass er stolz auf seine verdrehten Sprüche war, die anderen zuckten bei ihnen jedoch oft zusammen oder rollten mit den Augen: ›Heinrich, geht es auch schlichter?‹)
Wir Drei setzten uns und standen (brav, wie inzwischen üblich) wieder auf, als Kapitän Reckling und Mühlenthal wenig später gemeinsam erschienen. Beide waren festlich gekleidet, und wie festlich! Reckling trug ein dunkelblaues Jackett mit schwerfällig (und beinahe obszön) heraushängendem, weißem Strunztuch – und Mühlenthal ein schwarzes Sacco aus feinem Stoff (aber aus welchem?). Er sah richtig edel aus, als gäbe es ein Hochfest zu feiern, in dessen Verlauf er eine Filmfigur aus einem italienischen Mehrgenerationenfilm spielen und sich entsprechend benehmen würde. Er spielte diese Rolle aber nicht allein, Kapitän Reckling und er hatten sich anscheinend darauf verständigt, zu zweit eine dicke Nummer abzuziehen.
Heinrich Segemann reagierte als erster: »Habe ich was verpasst, vergessen oder übersehen?« fragte er rührend naiv. Kapitän Reckling hob darauf nur kurz die rechte Hand, es sollte ein Signal sein, vorerst nichts zu fragen, sondern den Mund zu halten. Dann begrüßte er uns auf Französisch und sagte einige Sätze, von denen ich kaum ein Wort verstand. Wir durften gnädigerweise Platz nehmen und ergaben das Bild einer bunt zusammengewürfelten Runde: Zwei fein gekleidete Herren hatten ein paar verirrte Schiffbrüchige aus dem Meer gezogen und feierten mit den armen Teufeln die Rettung (so kam es mir wirklich vor!).
Kapitän Reckling sprach weiter Französisch, und ich verstand noch immer kein einziges Wort. Vielleicht sprach er zu schnell, oder er sprach Dialekt, oder er konnte gar nicht richtig Französisch, es hörte sich jedenfalls so fremd an, dass ich mich zu Papa beugte und ihm leise zuflüsterte: »Spricht er wirklich Französisch?« – »Sehr fehlerhaft und mit sehr starkem Akzent!« antwortete Papa ebenso leise. – »Mit welchem Akzent?« – »Keine Ahnung. Ich bekomme es aber bestimmt noch heraus.«
Denis war nicht zu sehen. Erst als Kapitän Reckling mit seinem Begrüßungsfranzösisch fertig war, erschien er und entkorkte feierlich eine Flasche Rosé. Jeder von uns erhielt ein Glas, und wir mussten uns alle erheben, um anzustoßen. Ich nippte am Wein, er schmeckte, wie ich erwartet hatte, überhaupt nicht. Blöderweise hatte ich den Geschmack aber noch lange auf der Zunge, er erinnerte entfernt an den von Gummibärchen: als hätte man welche zerquetscht, in Alkohol getränkt und dann aufgelöst.
Mühlenthal sprach als zweiter, er schien sich bei Kapitän Reckling zu bedanken, denn er sah ihn beim Reden laufend an, lächelte übertrieben und gab sich Mühe, soviel perfekte Eloquenz wie irgend möglich hören zu lassen. Meine Herren, es waren steife Bilder, die wir zu sehen bekamen, und es waren keineswegs die eines Mehrgenerationenfilms aus Cinecittà, sondern eher die einer Operette aus Wien. (Einmal im Leben war ich mit Papa in einer Operette gewesen, ich sage nur: Nie wieder! Im ganzen weiteren Leben nicht!)
Mein Retter während dieses Getues war Heinrich Segemann. Ich brauchte ihn bloß anzuschauen, und schon befand ich mich wieder im normalen, realen Leben. Er schaute niemanden sonst an, sondern starrte unbeweglich auf den festlich gedeckten Tisch, als wollte er die Messer, Gabeln und Löffeln exakt zählen. Sein Blick wanderte von einem Sitzplatz zum anderen, machte Halt, graste das Besteck ab, sendete eine Zahl an das Gehirn und zog weiter. Ich vermutete, dass er kein Wort Französisch sprach, und wenn doch, interessierte ihn das Geschehen überhaupt nicht. Als er mit der Zählerei fertig war, rastete sein Blick ein und fixierte die vielen Flaschen Wein, als könnte er sie sich mit einem so gnadenlos stumpfen Blick alle vom Leib halten.
Auch Mühlenthal hob am Ende seiner Rede das Glas und ließ uns noch einmal alle anstoßen. Danach erschien wieder Denis und servierte als erstes kleine Glasschälchen mit buntem Dekor, in denen sich winzige Häufchen von Shrimps in einer rosaroten Sauce auf ein paar Salatblättern befanden. Die Shrimps allein sahen schon extrem unbekleidet und nackt aus, die rosarotene Sauce verstärkte aber noch diesen Eindruck. Es war ein ungesunder, aufreizender Anblick, als wären sie einmal Bestandteile der menschlichen Haut gewesen, aus deren Wulsten und Polstern man sie herausgepult hatte. Alle widmeten sich nun dieser Vorspeise, der Rosé wurde nachgeschenkt, beruhigt erkannte ich, dass er auch Papa nicht zu schmecken schien, denn er verweigerte das Nachfüllen seines Glases ebenso wie ich.
Sonderbar. Ich saß unter all diesen wesentlich älteren Männern und musste dieses merkwürdige Theater über mich ergehen lassen, ohne zu begreifen, um was es eigentlich ging. Kapitän Reckling war der Regisseur, und Herr Mühlenthal spielte offensichtlich die Hauptrolle, während der Zuschauer Heinrich Segemann sichtlich angewidert die kleinen Shrimps kaute und mit zwei spitzen Fingern nachschaute, ob sie Gräten enthielten. Ich fühlte mich ins Abseits geschoben, gern hätte ich etwas gesagt, egal was, aber mir fiel nichts Passendes ein, und so versteckte ich meine Shrimps sorgfältig unter den Salatblättern und garnierte das Versteck mit einem angekauten Stück Weißbrot.
Schließlich wurden die halbvollen Schälchen abgeräumt, Mühlenthal hatte die Flasche Rosé in die Hand genommen, hielt sie hoch und las den Etikettentext (natürlich Französisch) vor. Er war längst beim zweiten Glas angekommen, und er schaute noch immer lediglich Kapitän Reckling an, als wären sie zwei wichtige Unterhändler befreundeter Länder, die gerade ganz nebenbei einen perfekten Deal aushandelten. Hunderttausend Flaschen Rosé als Bestechung für luxemburgische Politiker, die dafür sorgen würden, dass nach Luxemburg haufenweise französischer Rosé importiert wurde. So in etwa.
Ich wurde unruhig und dachte daran, mich zu entschuldigen und den Tisch zu verlassen. Meine Seekrankheit war aber leider vorüber, und eine andere Ausrede fiel mir so schnell nicht ein. Papa bemerkte, dass ich mich hin und her bewegte, auch er fühlte sich anscheinend nicht wohl, da wurde auch schon das Hauptgericht aufgetragen. Es bestand aus dicken, in Öl gebratenen Garnelen, die ihre Panzer noch nicht ganz abgelegt hatten. Auf jedem Teller lagen sechs, und Denis wies darauf hin, dass man die Panzer am besten mit den Fingern entfernte. Neben den Garnelen thronte ein schwerer Klecks Mayonnaise, in der man die entkleideten Garnelen baden sollte. Dazu gab es Weißwein, nachdem die Flasche Rosé glücklich geleert war. Ich bat Denis zur Sicherheit noch um weitere Scheiben Weißbrot, was anderes würde ich wohl nicht herunterbekommen. Verstohlen beobachtete ich Heinrich Segemann. Sein Blick lastete jetzt schwer auf den Garnelen, als wollte er sie mit diesem durchdringenden Blick vom Teller fegen.
Schließlich saß ich wie in Schockstarre da und hoffte, dass diese Zeremonie bald vorbei sein würde. Da begann plötzlich Papa zu reden, und er redete Französisch und schaute dazu einen Mitspeisenden nach dem andern an, nur mich nicht. Er ließ die Garnelen einfach in Ruhe, sprach ununterbrochen und widmete die ganze Aufmerksamkeit seiner Rede.
Kapitän Reckling blickte ihn überrascht an, als könnte er nicht glauben, was er gerade zu hören bekam, und Heinrich Segemann fixierte Papa erst recht vollkommen entgeistert. Natürlich hatten die beiden nicht mit Papas Französisch gerechnet, nur Mühlenthal wusste ja bereits davon. Papa sprach und sprach, bis Heinrich Segemann dem ein Ende bereitete: »Josef, macht es Dir etwas aus, wieder Deutsch zu sprechen? Ich verstehe leider kein Wort Französisch, und ich weiß nicht, ob unser Johannes alles versteht.«
Papa schaute auf und entschuldigte sich, und danach schob er seinen Teller weit beiseite an den äußersten Rand des Tisches. Ich tat es ihm sofort nach, und so standen unsere beiden Teller demonstrativ im Abseits, als hätten sie die Flucht angetreten.
»Ich sprach gerade von meinem Vater«, begann Papa aufs Neue. »Seine Vorfahren kamen aus Frankreich, so dass unsere vielköpfige Familie jedes Jahr den französischen Nationalfeiertag feierte. Frankreich feiern im hintersten Westerwald, man stelle sich das einmal vor! Es gab Wein aus dem Elsass, von Franzosen, die auf unserem Hof jedes Jahr Ferien machten, und unser Vater spielte Klavier, den halben Tag lang. Im Dorf lebte ein Lehrer, der gut Französisch sprach, der kam am Abend zum Festessen vorbei, dann gab es Coq au vin, und der Lehrer rezitierte Fabeln von La Fontaine: ›Le Corbeau et le Renard‹. Als einziges von uns elf Kindern sprach auch ich fließend Französisch, und als einziges durfte ich auf ein Gymnasium gehen, um dort französische Texte zu lesen. Unser Vater war nie in Frankreich gewesen, aber er redete von den Franzosen so, als hätte er Jahre dort verbracht, er liebte Frankreich ohne Wenn und Aber. Wenn ein Gast, ohne es zu ahnen, etwas Schlechtes über unser Nachbarland sagte, würdigte er ihn keines Blickes und sorgte dafür, dass er nie wieder einen Platz in unserer Gastwirtschaft bekam. In der Nacht des Nationalfeiertags spielte unser Vater draußen im Freien unter einem urdeutschen Lindenbaum Mundharmonika, es war der große Moment des ganzen Tages, denn unser Vater spielte die Mundharmonika wirklich sehr gut und rührend …«
Papa sprach nicht weiter. Seine Stimme war erst rau und immer leiser geworden, und dann war es zuviel, und die Erinnerung wurde zu stark. »Entschuldigen Sie, meine Herren, ich muss draußen mal einen Schluck Wasser trinken, ich habe einen rauen Hals«, sagte er und verließ den Salon. Wir saßen in stummer Runde am Tisch, bis Herr Mühlenthal mich fragte: »Johannes, sprichst Du auch fließend Französisch?« – »Leider nein«, antwortete ich, »ich spreche nur das Nötigste, aber ich werde es bestimmt noch lernen, und zwar in Frankreich!« – »Guter Plan!« antwortete Mühlenthal und hob den rechten Daumen hoch, als wollte er zeigen, dass er endlich auch wieder die lässige Tour draufhatte.
Papa kam dann recht schnell wieder zurück, und niemand sprach noch ein Wort Französisch. Zum Abschluss gab es eine große Platte mit französischem Käse, und zum Glück füllte Denis das Weißbrot noch einmal ordentlich nach. Wir alle nippten schließlich am Rotwein – und dann bescherte Kapitän Reckling den Clou des Tages.
Er schilderte den gerade überstandenen Sturm in bestem Schifffahrtschinesisch und lobte Mühlenthal sehr, anscheinend hatte er höchste Navigationskünste bewiesen. »Ich habe nur eine bescheidene Rolle gespielt«, sagte er, »Mühlenthal aber hat unsere Albireo so elegant manövriert, als tanzte er mit ihr mitten in den Wogen argentinischen Tango.« – »Wieso denn argentinischen Tango?« hätte ich beinahe gefragt und biss mir noch gerade rechtzeitig auf die Lippen. Wusste Kapitän Reckling etwa von Mühlenthals argentinischer Freundin? Nein, ausgeschlossen, Mühlenthal hatte mir ja zu verstehen gegeben, dass ich als einziger Teile seiner privaten Geschichte kannte. Er reagierte auf den »argentinischen Tango« denn auch nicht, blickte mich aber kurz an, als wollte er überprüfen, ob ich (wie versprochen) den Mund halten würde.
Ich schwieg, natürlich schwieg ich. Auf mich konnte er sich verlassen. Der Abend endete mit feierlichen Worten Kapitän Recklings. Er sagte, dass er die Reederei bitten werde, unseren Ersten Offizier wegen hervorragender Verdienste besonders auszuzeichnen. Zweitens aber werde er vorschlagen, Mühlenthal (nach bestandener Prüfung) als Kapitän auf besonderen Routen einzusetzen. Und zwar auf solchen, die einem großen Kapitän Ehre machten. Schon heute und jetzt sei er »ein Kapitän aus dem Bilderbuch«, der seine Kindheit und Jugend (wie wir jetzt endlich alle erfahren sollten) an der französischen Westküste verbracht habe. In Erinnerung an diese Jahre habe er ein Leben lang den französischen Nationalfeiertag gefeiert. Ihm und seiner Anhänglichkeit an Frankreich zuliebe hätten nun wiederum wir ebenfalls diesen Tag begangen, er, Kapitän Reckling, danke allen (besonders aber Denis), die sich zu diesem festlichen Essen eingefunden und es mit gestaltet hätten.
Hatten wir Schiffbrüchige »etwas gestaltet«? Segemann wohl am wenigsten, ich auch nicht viel mehr, Papa höchstens einen kleinen Teil des Festessens. Dass Mühlenthals Kindheit und Jugend in Frankreich uns längst bekannt waren, erwähnten wir natürlich nicht. Niemand wollte Kapitän Reckling seinen großen Auftritt an diesem Abend vermiesen. Er tat so, als wäre Mühlenthal sein großer und gelehriger Schüler, der die Meisterprüfung gerade frühzeitig bestanden hatte. Vielleicht steckte sogar noch mehr dahinter, und er empfand Mühlenthals Karriere wie die eines Sohnes, der seinen Vater wegen seiner herausragenden Leistungen gerade sehr glücklich gemacht hatte.
Wir stießen noch einmal alle an, dann verließ ich den Salon, während die älteren Männer zurückblieben, um die Flasche Rotwein zu leeren.
Reisetagebuch (14. Juli, 22.12 Uhr)
Beim Festessen zum französischen Nationalfeiertag habe ich nur lauter Weißbrot und ein paar Stückchen Käse gegessen. Dazu habe ich an drei Gläsern Wein genippt, von denen jedes angenippte noch schlechter schmeckte als das davor. Ich würde gern etwas Süßes essen, selbst Gummibärchen wären jetzt eine Delikatesse, wenn man sie nicht zerquetscht und in Alkohol badet und auflöst.
Postbriefkarte an die Mama (14. Juli, 22.42 Uhr)
Liebe Mama, Papa und ich haben gerade mit Kapitän, Erstem Offizier und Ingenieur Heinrich den französischen Nationalfeiertag gefeiert. Es gab wunderbare Shrimps in einer rosaroten Tunke, Garnelen in einem leuchtenden Festtagspanzer und drei Sorten Wein, einer besser als der andere (Rosé, Weiß und Rot). Papa hat von seinem Vater erzählt und davon, wie auf dem Hof im Westerwald der 14. Juli gefeiert wurde. Ich kannte diese Geschichten noch nicht, und ich habe bemerkt, dass ich über Papas Kindheit und Jugend nur sehr wenig weiß. Was weißt Du eigentlich davon? Ich bin gespannt, was Du mir nach unserer Rückkehr davon erzählst. Es interessiert mich sehr.
Ich war mit dem Schreiben gerade fertig, als Denis klopfte und den Kopf durch die Tür steckte. »Ich will nicht stören«, sagte er, »aber ich habe mitbekommen, dass Du fast nichts im Magen hast. Es gibt noch eine sehr gute Mousse au chocolat in Reserve, die ist für Dich! Magst Du so etwas?« – O ja, ich erinnerte mich gut, wie sehr mir vor Jahren einmal eine solche Mousse in einem französischen Bistro in Berlin geschmeckt hatte. »Hast Du sie etwa dabei, die Mousse?« fragte ich. – »Na klar«, sagte Denis, und dann kam er herein und servierte sie auf einem weißen Teller. Danach machte er sich gleich wieder davon, er wollte mich die Mousse, wie er noch sagte, allein genießen lassen.
Ich war etwas sprachlos, soviel Fürsorge hatte ich von ihm nicht erwartet. Ich wollte nicht nur »Danke!« oder etwas ähnlich Schlichtes sagen, sondern ihm auch zeigen, dass wir nun wirklich Freundschaft geschlossen hatten. Deshalb hob ich den rechten Daumen, genau so, wie Mühlenthal ihn während unserer Mahlzeit anerkennend in meine Richtung gehoben hatte. Denis grinste, er hatte mich wohl verstanden. Beim Hinausgehen legte er, als spielte er Komödie, die Hand zum militärischen Gruß an die Stirn.
Ich aß die Mousse langsam und ging dann ins Bett. Ich war nun doch sehr müde und schlief bald ein, Papas Rückkehr in unsere Kabine bekam ich nicht mehr mit.
Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (15. Juli, 0.17 Uhr)
Französischer Nationalfeiertag! Und ich hatte laufend unseren Vater vor Augen! Je länger wir auf See sind, umso stärker steigen alte Erinnerungen hoch! Vor lauter Arbeit habe ich sie ein Leben lang hintan gestellt. ›Keine Sentimentalitäten!‹ hat unser Vater immer gesagt, und ›keine Sentimentalitäten!‹ habe auch ich gesagt. Ich werde in wenigen Monaten Sechzig. Einige Sentimentalitäten werde ich mir in Zukunft erlauben dürfen, unser Vater wird mir verzeihen.