Nachrichtenbörsen, Geländezonen

Seit wir durch das Mittelmeer fuhren, schien es nur noch ein einziges Wetter zu geben: Windstille, starke Hitze, eine See, die kaum noch etwas von einem großen Meer hatte. Die Mannschaft am Heck war mit kleinen Reparaturen beschäftigt, entfernte Rost oder strich einige Außenpartien der Kabinen weiß an. Es sah so aus, als befände sich das ganze Schiff samt Besatzung in einem Urlaub, wo man nur noch das Nötigste tut und es sich sonst gutgehen lässt.

Nur Papa ließ nicht nach, sondern richtete seinen Liegestuhl weiter auf die afrikanische Küste aus. Sie zog sich als hellweißer Streifen in die Länge, wie eine Fata Morgana, die allerhand trügerische Bilder vor Papas Augen inszenierte. Ja, so sah es wirklich aus, denn Papa zeichnete oberhalb des weißen Streifens Wüstenbilder der Sahara und Tiere der Steppe, die sich viel weiter südlich befinden mussten. Herden von Zebras waren auf der Flucht, gefolgt von schlanken, hungrigen Löwen, und an einer Wasserstelle stand eine Gruppe von Büffeln, mit kleinen Vögeln auf ihren Rücken.

Alle, die sich Papas afrikanische Zeichnungen und Aquarelle anschauten, lobten sie, machten hinterher aber auch ihre Witze. Wie er so in seinem Liegestuhl kauerte, mit Monets Strohhut auf dem Kopf, hatte er etwas von einem Fantasten, dem die Hitze zu Kopf gestiegen war. Sprach man ihn auf seine Bilder an, redete er über die Serengeti, als wäre er selbst vor Jahren dort gewesen. Auch Tania Blixen erwähnte er und sprach von ihrer afrikanischen Farm, über die er wohl ein imponierendes Buch gelesen hatte.

Ich selbst hatte Grzimeks Film über den Serengeti Park immerhin noch mit Papa im Kino gesehen, so dass ich ahnte, woher er seine Bilder bezog. Tanja Blixen dagegen kannte ich überhaupt nicht und wunderte mich auch ein wenig, dass Papa ihr Buch gelesen hatte. Es musste mit der Farm zu tun haben und damit, dass Papa selbst auf einem Hof aufgewachsen war. Im Stillen hielt er das Leben in großer Gemeinschaft auf einem solchen Hof noch immer für richtig und erstrebenswert, und vielleicht hatte er sogar im Stillen damit zu kämpfen, dass er nicht auf den Hof seiner Kindheit zurückkehren und dort mit anderen Mitgliedern seiner Familie leben konnte wie früher.

Mama und ich jedenfalls kamen dafür nicht in Frage. Ich hatte zusammen mit Papa zwar einmal Monate dort verbracht, konnte mir aber nicht vorstellen, dorthin wieder für lange Zeit zurückzukehren. Und Mama konnte es erst recht nicht, sie hatte das Fremdheitsgefühl gegenüber Papas Herkunftsgelände niemals abgelegt.

Mitten in diesem urlaubsähnlichen Hochsommer sollten Maro und ich nun das erste Bordblatt hinbekommen. Ich hatte mich darauf eingelassen, es gab kein Zurück. Vor allem Denis gegenüber wollte ich zeigen, dass ich mehr konnte als ein paar trockene Meldungen aneinander zu reihen. Seit ich Maros Nachrichtenberge durchgegangen war, war ich nervös und kam selbst an Deck nicht zur Ruhe. Ich vergrub mich im Salon, schrieb Nachrichten um, zerriss sie und begann von vorne. Alles war viel schwieriger, als ich Esel es mir vorgestellt hatte.

Reisetagebuch (17. Juli, 10.17 Uhr)

Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen. Laufend wache ich auf, und mir gehen Nachrichten in den verschiedensten Fassungen durch den Kopf. Mal vermute ich, genau die richtige Version gefunden zu haben, aber wenn ich erneut wieder aufwache, entpuppt sich gerade diese Version als unerklärlich schwach und klapprig. Hinzu kommen die Probleme der Auswahl. Ich weiß zu wenig über die Menschen, von denen die Nachrichten handeln, und ich bin in Fragen der Politik ein desinteressiertes Neutrum (aber wo bin ich das eigentlich nicht?). Inmitten der Nachrichtenberge aus aller Welt wird mir klar, was für ein Leben ich bisher geführt habe. Ein Leben in einem Kellerloch, wie Denis gesagt hat, gefangen gehalten von klassischer Musik und einem an Wahnsinn grenzenden Eifer, Chopins C-Dur-Etüde so »perlend« (und möglichst rasch) spielen zu können wie kaum ein anderer.

Reisetagebuch (17. Juli, 10.43 Uhr)

In der Volksschule haben mich die anderen Jungs einen »Idioten« (oder auch einen »Deppen«) genannt, weil ich kein Wort herausbrachte und nicht sprechen konnte/wollte. Als ich etwa zehn Jahre alt war und aufs Gymnasium kam, nannte mich niemand mehr so. Ich hatte es (einigermaßen) geschafft. Zwar stotterte ich noch ein wenig, Stottern galt aber nicht als »Idiotie«, sondern höchstens als Zeichen, dass man nicht ganz auf der Höhe der anderen war. Vor allem nicht auf der Höhe der Sportler. Sport war unter uns Jungs immer das Wichtigste. Wer gut in möglichst vielen Sportarten war, hatte mit Stottern nicht das Geringste zu tun. Stottern war eine Behinderung, und die anderen behandelten sie mitleidig. Als Stotterer war ich bei ihren ewigen Mannschaftsspielen nie so richtig dabei. Höchstens als Reserve oder in den letzten Minuten, als sowieso schon alles entschieden war. Kein Wunder, dass mir das Verletztendasein als Stotterer nicht passte. Vielleicht machte ich deshalb erneut wieder einen »Idioten« aus mir. So wurde ich der Typ, der, wann immer es ging, im Kellerloch lebte und täglich Klavier spielte, bis er nicht mehr konnte.

Reisetagebuch (17. Juli, 11.16 Uhr)

Der Plan, mit Denis durch Patras zu streifen, beunruhigt mich mindestens so sehr wie meine Unfähigkeit, gescheite Meldungen zu schreiben. Bisher hatte ich mir Landgänge in Griechenland nur als Exkursionen mit Papa vorgestellt. Wir beide unterwegs, so wie an der Mosel, in Berlin, in Paris. Zu zweit eben, ein eingespieltes Duo, auf Entdeckungsgängen. Und was für welchen! Zu dritt werden wir nicht durch Patras laufen, auf keinen Fall. Wie soll es dann aber gehen? Denis und ich – und Papa allein? Das geht auch nicht. Ich weiß, ich mache mir lauter unnötige Gedanken, werde sie aber einfach nicht los. Zu Beginn dieser Reise wäre ich nie auf sowas gekommen. Ich bin bereits aus der Spur, ich … – sehe einiges anders … – und ziehe andere Konsequenzen. Ein Beichtstuhl wäre nicht schlecht, mit einem klugen Pfarrer, dem man seine Probleme ins Ohr flüstern kann. (Aber wie lange habe ich nicht mehr gebeichtet?)

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (17. Juli, 11.30 Uhr)

Ich zeichne und aquarelliere, als säße ich nicht auf einem Frachtschiff im Mittelmeer nahe der afrikanischen Küste, sondern im Frankfurter Zoo. Professor Grzimek steht hinter mir und begutachtet meine Skizzen. Während ich zeichne und aquarelliere, unterhalte ich mich mit ihm. »Wie hieß doch gleich das Flugzeug, mit dem Sie zusammen mit Ihrem Sohn in der Serengeti unterwegs waren?« (Ich habe den Namen vergessen, was sehr schade ist, denn ich hatte vor, das Flugzeug aus dem Kopf zu zeichnen. Es war angestrichen wie ein Zebra, mit schwarz-weißen Streifen also.) Genau diese Szene habe ich letzte Nacht geträumt. Grzimek hat sich geräuspert und zugegeben, dass er den Namen des Flugzeugs ebenfalls vergessen hat. Wir schwiegen beide betreten, bis Grzimek sagte: »Mögen Sie einen Whisky?«

Postbriefkarte an die Mama (17. Juli, 13.14 Uhr)

Liebe Mama, wir fahren fast regungslos (und wie an einer Schnur) an der afrikanischen Küste entlang. Von Afrika ist nicht viel zu erkennen. Leere weiße Strände, manchmal auch ein Gebirgszug. Papa starrt viel durchs Fernglas und behauptet, ein Kamel mit einem Reiter sowie eine Gruppe von Frauen in bunten Gewändern deutlich gesehen zu haben. Das kann stimmen, denn Papa sieht ja sowieso mehr als jeder andere Mensch. Neuerdings sieht er aber auch Dinge, die überhaupt kein Mensch sieht. So behauptet er, einen direkten Draht zu Professor Grzimek aufgebaut zu haben. Mach Dir aber bloß keine Sorgen. Papa ist (noch) in Ordnung.

Schließlich konnte ich Maro nicht mehr länger vertrösten. Wir setzten uns wieder an den großen Tisch im Salon, und ich legte ihm einige meiner Versuche vor. »Ich bin sehr gespannt«, sagte er, und beugte sich über den ersten Text.

Er lautete: Melina Mercouri sitzt in einem New Yorker Hotel und raucht Zigaretten aus Griechenland. Gerade hat sie die Nachricht erhalten, dass die Militärregierung ihres Heimatlandes sie ausgebürgert hat. »Es sind Faschisten«, sagt Melina Mercouri und zündet sich eine neue Zigarette an. »Eine Diktatur, wie sie im Buche steht. Ich gebe ihr nicht mal ein halbes Jahr.« Für die Journalisten, die sie umzingeln und mit Zigarette fotografieren, bestellt sie Whisky und Eiswürfel. »Das werden sie in Griechenland auch bald verbieten und anordnen, dass dort nur noch Ouzo getrunken wird«, sagt Melina Mercouri.

Ich fand, der Text war keine Sensation, aber er war auch nicht grottenschlecht. Auf jeden Fall brach er mit der Tradition der stumpfsinnigen, neutralen, geruchs- und geschmackslosen Meldungen. Ja, er hatte sogar Pep, richtigen Pep, jedenfalls in meinen Augen. (Ich hätte als Leser sogar gesagt, ich fände ihn »toll«, richtig toll.)

Maro aber runzelte die Stirn und las alles zum zweiten Mal, als handelte es sich um einen schwierigen, schwer verständlichen Text. »Was soll das sein?« fragte er schließlich. – »Das ist eine Meldung. Eine in ganz neuem Gewand.« – »In was für einem Gewand?« – »Die Meldung als kleine Geschichte. Als eine, die sich einprägt und die man eine Weile im Kopf behält. Anders als die üblichen furztrockenen Informationen.« – »Und woher hast Du die Details? Das Hotel? Die Zigaretten?« – »Melina Mercouri wohnt wirklich momentan in einem New Yorker Hotel, weil sie gerade in New York auftritt.« – »Okay. Und die Zigaretten? Wieso raucht sie griechische?« – »Das fand ich gut. Sie zeigt sich als Griechin, und sie raucht, wie sie Zigaretten in Sonntags nie … geraucht hat. Wer den Film gesehen hat, erinnert sich.« – »Okay, ich verstehe. Aber es stimmt nicht, oder? In Wahrheit raucht Melina Mercouri in Deinem New Yorker Hotel keine griechischen Zigaretten, oder? Du hast das erfunden.« – »Ja, habe ich. Aber was ist dabei? Sie hätte solche Zigaretten rauchen können, oder sie hat solche Zigaretten vielleicht sogar wirklich geraucht. Sie passen jedenfalls genau ins Bild.«

Ich sah, dass Maro damit nicht zurechtkam. Seine ängstliche innere Zensurbehörde sagte ihm, dass man eine solche Meldung (die keine astreine Meldung war und auch nicht sein wollte) nicht bringen durfte. Ich setzte trotzdem nach: »Wie findest Du den Text? Ich meine, jetzt mal abgesehen davon, dass er nicht Deinen Ansprüchen an eine Meldung genügt. Wie findest Du ihn als Text?« – »Gut, ja, er ist gut. Er könnte sogar der Anfang einer Geschichte sein. Ja, könnte er. Er könnte sogar der Anfang eines Romans sein, ja, durchaus.« – »Etwa auch der Anfang eines Romans von Patricia Highsmith? Könnte er sogar so gut sein?« – »Na ja, er ist gut, aber so gut nun auch wieder nicht.« – »Nicht so gut wie Texte von Patricia Highsmith?« – »Nein, natürlich nicht. Aber warum fragst Du?« – »Weil ich ihn für mindestens so gut halte wie einen Text von Deiner Patricia Highsmith!«

Maro schaute mich an, als wäre ich größenwahnsinnig. Er blickte richtig angewidert, denn in seinen Augen war ich ein vielleicht talentierter, aber hoffnungslos über das Ziel hinausschießender Schreiber, der von falscher Selbsteinschätzung lebte. »Ich lese mal weiter«, sagte er.

Ich gab ihm einen neuen Text, er lautete: Generalleutnant Patakos von der griechischen Militärregierung hasst Miniröcke. Jedes Mal, wenn er in Athen eine Frau mit einem solchen Rock sieht, läuten bei ihm die Glocken. Am liebsten hätte er Polizisten hinter den Minirockträgerinnen hergeschickt, um zu überprüfen, wie kurz der Rock im Einzelfall ist. Ein Gesetz zur Einhaltung bestimmter Maße bereitete er zusammen mit Modefachleuten schon seit Wochen vor. Dann aber wurde es ihm einfach zuviel. Seit letzter Woche sind Miniröcke in Griechenland grundsätzlich verboten, egal, wie kurz oder lang sie sind.

Diesmal brauchte Maro zum Glück keine Zweitlektüre. Er lachte sogar kurz, als hätte ich eine lustige Lachnummer geschrieben. Ein Schuss Lachnummer war auch nach meiner Meinung in dieser Meldung drin, aber im Ganzen berichtete sie von einem Trauerspiel. Von einer Regierung, die sich einbildete, alles regeln zu können, auch gegen den Willen des Volkes.

»Noch ein dritter Text?« fragte ich, und Maro nickte (das aber so, dass ich schon ahnte, er würde sich etwas ausdenken, diese Meldungen nicht bringen zu müssen). Mein dritter Text lautete: Wilhelm Bungert ist derzeit nicht der beste Tennisspieler der Welt, wohl aber der Spieler, der das schönste Tennis spielt. In Wimbledon hat er gerade im Finale gegen einen australischen Profi verloren, der ein Jahr lang nur harte Aufschläge trainiert hat, mit mindestens zweihundert km/h. Wilhelm Bungert hat in Wimbledon so viele Doppelfehler gemacht wie kaum ein anderer Spieler. Er mag keine Aufschläge, und Profispieler mag er auch nicht. Kein Wunder: Wilhelm Bungert arbeitet vierzehn Stunden in dem Betrieb, den er sich gerade aufbaut. »Für Tennis bleibt da leider nicht soviel Zeit«, hat er (ernsthaft) gesagt.

Wieder lachte Maro, obwohl die Bungert-Meldung eindeutig keine Lachnummer, sondern ein versteckter Protest gegen das öde Aufschlagtennis und das damit einhergehende Profitum (vierzehn Stunden Training am Tag) war. »In diesem Fall kann ich jedes Detail belegen und nachweisen«, sagte ich, »ich habe die Meldung genau recherchiert und aus mehreren Einzelnachrichten zusammengesetzt. Mit Patricia Highsmith hat das diesmal überhaupt nichts zu tun, Du kannst beruhigt sein.«

Maro schwieg, und ich wusste, dass er sich nun Mühe geben würde, mir klarzumachen, dass meine Meldungen nicht in seine staubtrockene Bordzeitung gehörten. Ich hatte diese Texte aber nicht geschrieben, um sie in irgendeine Schublade zu stecken (ich hasse Schubladen, und ich würde nie etwas »für die Schublade« schreiben).

Ich war etwas irritiert, kein stärkeres Lob zu erhalten, Maros bescheidene Reaktionen machten mich missmutig. Ich hatte drei gute, nein, sehr gute Texte geschrieben, sie gehörten in jede verdammte Bordzeitung jedes Frachtschiffs auf allen Meeren der Welt. Klar, ich war auch gereizt, richtig gereizt, wer ist das nicht, wenn er auf etwas rundum Gelungenes nur matte Reaktionen erhält?

»Um es mal klarzustellen«, sagte ich, »ich schreibe solche Texte nicht für die ominöse Schublade oder den noch ominöseren Papierkorb. Ich schreibe sie für die gesamte Besatzung an Bord. Bug und Heck, backbord, steuerbord, ganz egal. Ich erzähle gut recherchierte Geschichten vom gegenwärtigen way of life. Als nächstes schreibe ich über Penny Lane, den aktuell besten Beatles-Song.«

Maro wirkte hilflos, er wusste nicht, wie er reagieren sollte, nein, er hatte nicht die geringste Idee. »Über Penny Lane willst Du auch schreiben?« fragte er (ziemlich blöde), »wie schreibt man denn über sowas?« – »Lass mich nur machen«, sagte ich, »als Beatlesfan weiß ich gut Bescheid und kenne so manches Detail.« – »Beatlesfan bist Du auch?« – »In Maßen, aber gründlich.«

Maro zögerte, leider gab er sich keinen Ruck, wie er es in meinen Augen hätte tun müssen. Was erwartete ich? Dass er gesagt hätte: »In Ordnung, die Texte sind klasse, ich lege sie unserem Kapitän vor, und wenn er einverstanden ist, bringen wir in jeder Nummer ein paar davon. Vier oder fünf.«

Vier, fünf waren harte Arbeit, denn solche Texte mussten lange recherchiert werden, sie fielen nicht vom Himmel, und sie schrieben sich auch nicht (wie die faden Informationen) von selbst. Aber nichts da, Maro konnte sich nicht überwinden. Was war er doch für ein Kleingeist! Ein Textbuchhalter! Einer, der mit Literatur rein gar nichts zu tun hatte. (Ein Wunder, dass er Patricia Highsmith las … – ich selbst hatte nur Gutes über diese Autorin gehört, aber noch keine Zeile von ihr gelesen …)

»Also? Wie machen wir weiter?« fragte ich, und ich gab mir Mühe, entschieden und bestimmt zu wirken. »Tja«, antwortete Maro, »ehrlich gesagt …« – »Ehrlich gesagt, fällt Dir zu meinen Texten nichts ein. Sie sind Dir fremd. Du hast etwas anderes erwartet. Die Langweilertexte von früher. Sag es doch, sag es einfach!« – »Nein, Deine Texte gefallen mir, ehrlich. Aber ich weiß nicht …« – »Aber Du weißt nicht, natürlich nicht! Du willst Dich nicht für sie einsetzen, sondern nur ein paar anerkennende Worte sagen. Danach soll ich sie irgendwo ablegen. Aber das wird nicht geschehen, das kann ich Dir sagen. Mit mir nicht!«

Ich war selbst ein wenig über meinen Ton erschrocken. Wieso übertrieb ich so und hängte mich derart rein in die Sache? Ich wollte kämpfen, ja, das war der eigentliche, tiefere Grund. Wie gegen Denis wollte ich auch gegen Maro bestehen. Längst wusste ich, dass er der leichtere Gegner war, einer, gegen den ich zumindest ein Unentschieden schaffen würde. Ein Unentschieden?! Wieso gab ich mich plötzlich mit so etwas zufrieden?

Maro ging die Blätter, die ich bisher (deutlich, aber mit der Hand) geschrieben hatte, noch einmal durch. Dann legte er sie sorgfältig aufeinander und band sie mit einem seiner berüchtigten roten Gummis zusammen. Schließlich lagen sie als kleiner Stapel (beinahe wie eine gefährliche, Sprengstoff enthaltende Post) vor uns auf dem Tisch. Er rührte sie nicht mehr an. »Ich überlege mir noch, was damit geschehen soll«, sagte er, »und ich werde mit Kapitän Reckling darüber sprechen. Wenn Du einverstanden bist.« – »Natürlich bin ich das«, antwortete ich. – »Ich sage Dir bald Bescheid«, sagte Maro. Dann verließ er den Salon.

Reisetagebuch (17. Juli, 17.11 Uhr)

Meine Texte sind gut, nein, sie sind sehr gut. Und das Wichtigste ist: Es macht mir großen Spaß, sie zu schreiben. Sehr großen Spaß sogar. Ich hebe richtig ab, wenn ich einen solchen Text zusammengebracht habe. Ich bin glücklich. Alles andere ist mir egal, sogar die afrikanische Küste, und Professor Grzimek komplett. Selbst die Odyssee …, nein, das stimmt nicht, ich spinne gerade. Die Odyssee ist (wie sagt man?) über all meine kleinen Brutzeltexte »erhaben«. Jedenfalls vorläufig noch. Odyssee-Texte tastet man nicht an. Nein? Tut man das nicht?! Aber wieso soll man Odyssee-Texte nicht antasten? Mal sehen. Ich werde es versuchen.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (17. Juli, 18.09 Uhr)

Wir haben Algier passiert und bewegen uns auf Tunis zu. Je länger wir an der afrikanischen Küste entlangfahren, umso größer wird mein Fernweh. Nach Algier und Tunis, nach der Sahara, dem Kongo, Tansania, dem Kilimandscharo. Dachte an Hemingways Erzählung, ließ diese Bilder aber auf sich beruhen. Nicht den Kilimandscharo soll ich zeichnen, sondern meine Fantasiebilder. Dass ich so viele im Kopf habe, hätte ich nie gedacht.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (17. Juli, 18.17 Uhr)

Sonderbar. Habe über meine letzten Sätze noch einmal nachgedacht. Und plötzlich fiel mir ein, dass ich in unserer großen Familie der einzige Schlafwandler war. Die beiden ältesten Schwestern haben mich sogar manchmal des Nachts draußen im Freien gesucht. Voller Angst, dass ich im Nachthemd in den Fluss stolpern könnte. Bei Vollmond soll es besonders schlimm gewesen sein. Am liebsten hätten sie mich ans Bett gefesselt. Ich soll laut gesprochen und manchmal sogar gesungen haben. Irgendwann war es vorbei. Angeblich mit dem Beginn des Studiums in Bonn. Unser Vater machte jedoch noch lange Zeit Witze darüber. Vielleicht war ich ein junger Mann voller Fantasien. Aber wohin haben sie sich verzogen? Und – könnte es sein, dass sie hier an Deck wiederbelebt werden? Aber wodurch?

Nach dem Abendessen (die Mittagessen fielen wegen der starken Hitze jetzt aus, stattdessen wurde Obst gegessen und viel Wasser getrunken) bat der Kapitän uns alle (Mühlenthal, Segemann, Papa und mich) nach draußen, aufs Oberdeck. Denis hatte eine Korbgarnitur als kleine Runde arrangiert. In der Mitte stand ein kleiner, niedriger Korbtisch, und drumherum die bequemen Korbstühle. Es gab gut gekühltes Bier (und mickrige Salzstangen).

Ich trank Cola (und flüsterte Denis zu, dass er sich einen neuen »Beigeschmack« einfallen lassen sollte). Papa wiederum fragte Heinrich Segemann (ohne dass die anderen es hörten), was die Korbrunde zu bedeuten habe. Heinrich antwortete: »Die Korbrunde ist ein besonderer Spleen von Reckling. Er beruft sie ein, wenn es warm genug und ruhig ist und nichts Dringendes ansteht. Es ist eine Art von Salon. Jeder erzählt etwas, und die anderen hören brav zu.« – »Aber was soll ich denn um Himmels willen erzählen?« fragte Papa. – »Keine Ahnung«, antwortete Heinrich, »vielleicht etwas aus Deiner Jugend. Etwas vom Land. Etwas von Kühen, Rindern und Ochsen.« Heinrich lachte verstohlen, aber Papa lachte nicht mit. Ich wusste, dass ihm bei dem Gedanken an einen Salon nicht wohl war. Papa und ein Salon?! Nein, das passte gar nicht zusammen.

Als wir Platz genommen hatten, prostete Kapitän Reckling allen zu. Dann sprach er von seiner Freude, die traditionelle Korbrunde wieder beleben zu können. »Niemand ist gezwungen, daran teilzunehmen«, sagte er, »aber während der früheren Reisen war sie dann und wann eine lohnende Sache.«

Zu Beginn erhielt Mühlenthal das Wort, um ein paar Sätze über unsere Mittelmeerroute zu sagen. Er nahm nur einen kleinen Schluck Bier, als wollte er besonders formgewandt sein, dann sprach er von den klassischen drei möglichen Routen, auf denen man seit den ältesten Zeiten das Mittelmeer durchquert habe.

Die erste verlief entlang der afrikanischen Küste und war damit genau jene Route, auf der wir uns derzeit befanden. Sie war am einfachsten zu befahren, und sie bot einige Sicherheiten, da wir uns nie zu weit vom Land entfernten. Morgen würden wir Cap Bon im Osten Tunesiens passieren und danach Richtung Sizilien (Cap Passero) abbiegen. Und von da würden wir Patras anlaufen und zwei Tage später dort eintreffen.

Eine zweite Route verlief mehr in der Mitte des Meeres und führte von Gibraltar über die Balearen und Sardinien ebenfalls nach Sizilien. Sie war erheblich gefährlicher und häufig dem starken Wind ausgesetzt, hätte uns aber um einiges früher ans Ziel gebracht (oder die Möglichkeit geboten, einige weitere Häfen zum Löschen von Ladung anzulaufen).

Eine dritte Route hätte wiederum von Gibraltar aus direkt in den Norden Siziliens geführt. Wir wären durch die Straße von Messina gefahren und danach nördlich, auf Patras zu.

Mühlenthal hatte eine kleine Skizze mit diesen Routen vorbereitet und legte sie auf den runden Korbtisch. Sie war für die beiden Passagiere gedacht, und man sah ihr an, dass sie schon älter war und anscheinend immer wieder zum Einsatz kam. Papa nahm sie sofort in die Hand und hielt sie dann so, dass auch ich darauf blicken konnte.

»Danke«, sagte er, »so eine Skizze ist wirklich nützlich. Aber ich hätte da noch eine Frage, und diese Frage betrifft die Odyssee. Leider stecke ich ja noch immer im Fünften Gesang fest, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich frage mich vielmehr, wo Odysseus sich befand, bevor er allein auf seinem Floß heimwärts aufbrach. Sicher wird man das nicht genau fixieren können, aber doch ungefähr, das müsste doch möglich sein. Ich vermute, die Herren kennen alle möglichen Varianten der Odysseus-Route, die gegenwärtig diskutiert werden, oder?«

Kapitän Reckling gefiel diese Frage sichtlich. Endlich war einmal nicht von den Gefahren der Durchquerung des Mittelmeeres die Rede, sondern von den Mythen und Geschichten, die es bekannt und berühmt gemacht hatten. »Sie werden sich wundern«, antwortete er auf Papas Frage, »im Grunde legen wir genau jene Route nach Patras zurück, die auch Odysseus auf dem Heimweg nach Ithaka zurückgelegt haben muss.«

Papa reagierte sofort: »Haben muss?! Oder haben könnte?!« – »Haben muss!« antwortete Kapitän Reckling, »unser Erster Offizier kann es Ihnen aber besser erklären als ich. Er weiß genau Bescheid, bitte Herr Mühlenthal, übernehmen Sie wieder!«

Mühlenthal nahm einen zweiten kleinen Schluck Bier, griff nach der Skizze und nahm den Zeigefinger zu Hilfe: »Odysseus kam von Troja, also fast aus der Region des heutigen Istanbul. Der Weg zurück nach Hause, anfangs noch mit seinen Gefährten, musste durch die gesamte Ägäis verlaufen. Mit all ihren vielen Inseln und Gestaden war sie das Urterritorium griechischer Seefahrer. Odysseus war einer von ihnen, er wusste, wie man auf weite Fahrt geht, und er kannte sich aus. Im Grunde betrieben die alten Griechen die Seefahrt relativ risikolos. Sie fuhren von Insel zu Insel, und sie fuhren am Festland entlang. Weite Fahrten durchs offene Meer nach Westen scheuten sie. Anders als die Phönizier hielten sie es nicht für erstrebenswert, bis Gibraltar – oder sogar noch darüber hinaus – vorzustoßen. Das Äußerste, was sie anpeilten, war Sizilien. Das war vom Westen Griechenlands aus noch in wenigen Tagen bei ruhiger See zu schaffen. Maximal bis in diese Zonen könnte es Odysseus später verschlagen haben. Nach der Fahrt durch die Ägäis hätte er aber die Südspitze der Peloponnes umrunden und zurück nach Norden segeln müssen. Genau das misslang ihm, aus welchen Gründen auch immer. Er wurde durch das Ionische Meer südwärts abgetrieben. Manche Kommentatoren behaupten, er sei wirklich nach Sizilien gelangt, andere sprechen von Malta. Momentan halten die meisten diese Insel für das ominöse Ogygia der Nymphe Kalypso. Von Ogygia soll Odysseus auf dem Floß die endgültige Heimfahrt angetreten haben. Wieder zurück, Richtung Norden, zum Land der Phäaken. Und von dort war es dann nicht mehr weit nach Ithaka.«

»Phänomenal«, sagte Papa (und ich wunderte mich über das seltsame Wort, das ich noch nie von ihm gehört hatte). »Einfach phänomenal. Wenn wir Sizilien passiert haben, befinden wir uns also in der Tat auf der alten Odysseus-Route. Sobald wir uns von der afrikanischen Küste entfernen, werde ich mich wieder in den Homer vertiefen.« – »Aber hoffentlich nicht nur in den Homer!« sagte Heinrich Segemann, »also nicht nur in den Text, meine ich. Ich habe das Odysseus-Floß nach den Angaben Homers schon vor Jahren nachgebaut, ich bringe es Euch in die Kabine. Da hast Du gleich ein Motiv für Dein weiteres Zeichnen!« – »Phänomenal«, sagte Papa erneut, und ich fand es einfach zu viel, sagte aber nichts.

Mühlenthal legte die Mittelmeerskizze, anhand deren er uns die Fahrten des Odysseus erklärt hatte, wieder auf den Tisch. Er nahm plötzlich einen viel größeren Schluck als zuvor und holte noch weiter aus: »Ein wenig muss ich die Vorfreude dämpfen. Denn sobald wir die afrikanischen Küsten verlassen, geraten wir wieder in stürmisches Gewässer. Die Fahrt von Sizilien nach Griechenland könnte einige Strapazen mit sich bringen.« – »Daran sind wir inzwischen gewöhnt«, antwortete Papa (wie ich fand etwas vorschnell). Ihm war anzusehen, dass er die angekündigten Stürme nicht ernst nahm, sondern vor allem an das Floß des Odysseus dachte. Er würde es bestimmt zeichnen, von allen Seiten, mitten in stürmischer Aktion, vielleicht sogar noch mit Poseidon im Hintergrund, wie er darauf lauerte, es zu zerschmettern.

»Es freut mich, dass Sie bereits so sturmerprobt und gelassen sind«, sagte Mühlenthal ernst und leerte seine Flasche Bier mit einem letzten Schluck. »Historisch interessant ist, dass wir eigentlich schon mit Sizilien den alten griechischen Herrschaftsraum über das östliche Mittelmeer berühren. Das Ionische Meer zwischen Italien und Griechenland und die Ägäis mit ihren Hunderten von Inseln – sie bildeten diesen Raum, in dem sich früher die verschiedensten Stämme aufhielten. Vor den Griechen mit ihren kleinen Handelsstädten dominierte noch das uralte Mykene und natürlich das alte Kreta. Und noch weiter im Osten befanden sich die Phönizier und im Süden natürlich die strengen Ägypter. Die Odyssee ist nicht zufällig das erste große Seefahrerepos über einen einzigen Mann, der mit all den Nachklängen und Spuren dieser Kulturen in Berührung kommt. Homers Fantasie ist eine Seefahrerfantasie, und zwar eine unverwechselbar griechische. Lesen Sie das Ganze bitte nicht wie einen Abenteuerroman, sondern wie einen Reiseroman über die altgriechischen Welten und die des östlichen Mittelmeerraums.«

Papa saß ganz vorn auf seinem Korbstuhl und fixierte die kleine Mittelmeerkarte, als könnte er ihr allein schon durchs Draufschauen tiefe Erkenntnisse entlocken. Was Mühlenthal sagte, erregte ihn anscheinend, so hatte er unsere Fahrt wohl noch nie gesehen (und ich natürlich auch nicht). Anders als Papa hatte ich aber keine Lust, den weiteren Ausführungen Mühlenthals ergeben zu lauschen.

Als ich sah, dass er Denis herbeikommen ließ und ein Glas französischen Rosé bestellte, ahnte ich, dass die Stunde seines »Philosophierens« gekommen war. Bestimmt würde er über das »uralte Mykene«, das »alte Kreta« sowie das »strenge Ägypten« sprechen, leidenschaftlich und originell. Durch viel Lektüre und lange Jahre auf See, durch zahllose Landgänge und sonstige Forschungen war er auf einzigartige Weise darauf vorbereitet, mit seinen »Philosophien« abzuheben. Ich fand das auch reizvoll, nur hatte ich an diesem Abend keine Lust, mich der Mühlenthalschen Magie hemmungslos (und wahrscheinlich stundenlang) zu widmen.

Und so nutzte ich den Moment, als Mühlenthal das Glas Rosé an seine schmalen Lippen setzte, und entschuldigte mich. Ich machte es kurz und sagte, dass ich noch mit Maro an der nächsten Nummer der Bordzeitung arbeiten wolle. »Tu das, Johannes«, sagte seltsamerweise Kapitän Reckling in freundlichem, warmem Ton (als wäre er und nicht Papa mein Vater). Und »Ja, mach nur!« sagte daraufhin Papa (als hätte er sich gerade rechtzeitig daran erinnert, dass er noch immer mein Vater war).

Ich ging also in unsere Kabine, holte Papier und Stifte und setzte mich wieder in den Salon. Denis ließ sich schon bald wieder sehen und fragte, was ich trinken wolle. »Hau ab«, sagte ich, »ich will schreiben und nicht trinken.« – Er lachte laut und brachte mir ein Glas sowie eine große Karaffe mit Wasser. »Auf dass Pegasus mit Dir davonreiten möge«, sagte er (leise und geschmacklos). Dann zog er sich zum Glück wieder zurück.

Ich wusste genau, worüber ich schreiben wollte. Und so begann ich, ohne eine Minute zu zögern: Odysseus setzt den Mastbaum und das Segel und schiebt das Floß in die Wellen. Kalypso gibt ihm Wein und einige Speisen mit, dann küssen sie sich minutenlang und sprechen noch einmal von den gemeinsamen heißen Nächten in den Grotten der schönen Insel. Der Wind steht günstig, das Floß kommt schnell in Fahrt. Nach einer Stunde probiert Odysseus den Wein. Es ist mieser maltesischer Rosé, und die sonstige Wegzehrung Kalypsos besteht aus trockenem, maltesischem Ziegenkäse und noch trockenerem Weißbrot. »Nie mehr Malta!« flüstert Odysseus und denkt an das Land der Phäaken. Sie sollen fantastische Gastgeber sein. Außerdem sind ihre Frauen legendär schön und lieben athletisch gebaute Schiffbrüchige. »Ich könnte auch dort einige Zeit bleiben«, flüstert Odysseus weiter. »Jedenfalls besser, als frühzeitig nach Hause zu kommen.«

Reisetagebuch (17. Juli, 21.18 Uhr)

Ich habe meine Aufgabe an Deck endlich gefunden. Kleine Geschichten werden es sein, die anhand der neusten Nachrichten oder anhand von Lektüren oder anhand von alldem entstehen, was an Bord so gesprochen wird. Ich könnte sie in die Reiseerzählung einbinden, so wie ich früher bereits kleine Reflexionen in sie eingebunden habe. Stimmt – die Reflexionen! Ich habe sie fast vergessen. Dabei habe ich sie immer besonders gemocht.

Vor der afrikanischen Küste

Die afrikanische Küste besteht nicht mehr (wie die Küsten der zum Atlantik blickenden Küstenregionen) aus handfesten Küstenzeichen (wie etwa Leuchttürmen oder Klöstern auf spitzen Felsen), sondern ausschließlich aus Traumbildern. Gerade das aber stimuliert einen besonders. Man denkt an Wüstenexpeditionen und an Oasen, man sieht Kamele und bunte Märkte. All das wie in Träumen zu sehen, genügt einem jedoch völlig, man möchte sich keinen Moment überzeugen, was an ihnen wahr ist oder besonders. Und so bleibt man an Deck, glotzt, träumt und lässt die Bilder unangetastet für immer zurück. (Werde ich also einmal nach Afrika reisen? Eher nicht. Aber was weiß ich schon?!)

Der gehorsame Schreiber

Maro, unser Funker, ist ein gehorsamer Schreiber. In seinem Leben hat er schon Tausende von Texten gelesen, die fast alle in derselben Manier geschrieben waren. Sein Gehirn denkt neue Texte dementsprechend, er kennt keine anderen. Als ich ihm meine Texte vorgelegt habe, las er sie auf Verstöße und Andersartigkeit gegenüber dem, was er gewohnt war. Er wird nicht nachlassen und das Recht des gehorsamen Schreibens behaupten. Und ich werde nicht nachgeben und weiter muntere Texte schreiben, die zumindest mir sehr gut gefallen.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (17. Juli, 22.54 Uhr)

Hätte nie gedacht, dass mir eine Salonrunde wie heute gefallen könnte. Mühlenthal weiß fantastisch viel über das östliche Mittelmeer und spricht davon so, dass man am liebsten jahrelang dort unterwegs sein würde. Und Kapitän Reckling hält sich zurück und lässt ihn gewähren. Aber wie steht es mit meinem Freund Heinrich? Hat er Mühlenthals »Philosophieren« etwa schon zigmal gehört? Das könnte sein, aber er tat so, als wäre er aufmerksam und hörte alles zum ersten Mal. Vielleicht haben die Drei die Salonnummer aber auch perfekt einstudiert, und ich spiele den dummen August, dem später nichts bleibt, als Homers Schiffe und Flösse zu zeichnen. Wäre das möglich? Nein, daran glaube ich nicht.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (17. Juli, 23.09 Uhr)

Bald geht es auf Sizilien zu. Mühlenthal sagte mir kurz vor Salonende, dass wir mit einem beträchtlichen Sturm zu rechnen hätten. Vielleicht schon morgen oder übermorgen. Habe Sorgen wegen des Jungen. Er verträgt das nicht gut, es könnte ihn erneut ans Bett fesseln. Und das ausgerechnet kurz vor unserer Ankunft in Hellas! Als ich in unsere Kabine zurückkam, saß er im Salon und unterhielt sich mit Denis. Manchmal wirken die beiden wie zwei Brüder. Denis ist der ältere. Der Junge hält Distanz zum älteren Bruder, beobachtet ihn aber genau bei seinen Aktionen. Er könnte von ihm was lernen. Oder?!

Ich hatte einige Zeit im Salon geschrieben und auch eine Weile in Büchern über das Mittelmeer gelesen (wie war das mit den Phöniziern? Wo hatten sie eigentlich gelebt? Gab es bekannte phönizische Städte?), als Denis wieder erschien. Er setzte sich zu mir, als wäre nichts gewesen und als hätten wir einen friedlichen Tag miteinander verbracht. Ich räumte meine Texte rasch zusammen und sagte, dass ich schlafen gehen wolle. »Das willst Du, glaube ich, nicht«, sagte er, »Du willst mir noch etwas vorlesen. Etwas von Deinen Sachen. Etwas Frisches für die Bordzeitung.«

Keine Minute hatte ich daran gedacht, meine Texte ausgerechnet Denis vorzulesen. Ich war müde und überanstrengt, und ich hatte keine Lust, meine Texte zu zelebrieren. »Da!« sagte ich und schob ihm einige hin, »lies selbst, wenn Du magst. Ich bin zu müde.«

Ich gab ihm den Melina Mercouri-Text, den Text über Generalleutnant Patakos sowie den über Odysseus auf seinem Floß. Ich konnte nicht hinsehen, wie er sich über die Blätter beugte und die Texte gierig verschlang. Natürlich würde er sie schlecht finden, nicht ganz schlecht, aber doch so schlecht, dass man sie in die Schublade legen sollte.

Ich stand auf und tat, als wartete ich lediglich ab, bis er mit der Lektüre durch war. Leider gaben die Bullaugen nichts mehr her, keinen Halt, nichts, draußen war es stockfinster. Ich schaute Denis nicht an, ich blickte auf den Boden, als musterte ich den kleinen Teppich, der mir erst jetzt auffiel. Er lag unter dem Salontisch, als hätte ihn jemand dort vergessen und als wäre er jahrelang nicht hervorgeholt worden.

»Nun mach schon!« sagte ich schließlich und stellte mich dicht neben Denis. Er sollte seine Lektüre endlich beenden. Ich würde meine Texte nehmen und rasch verschwinden, er brauchte nichts dazu zu sagen.

Als er sie gelesen hatte, blickte er zu mir auf. »Die Texte sind spitze«, sagte er (leise). »Niemand hat hier an Bord jemals solche Texte geschrieben. Vom wem hast Du sowas gelernt?« – »Nun übertreib nicht«, antwortete ich, »Maro findet sie überhaupt nicht gelungen. Er sagt, sie taugen nicht für die Bordzeitung.« – »Da hat er recht! Dafür taugen sie wahrhaftig nicht. Nicht für dieses Käseblatt. Lass bloß nicht zu, dass man sie auf diesen elenden Seiten bringt. Nein, wir müssen uns etwas Anderes ausdenken, etwas ganz Anderes!« – »Und das wäre?« – »Ich beschaffe Dir eine Schreibmaschine und Kohlepapier. Du tippst Deine Texte, ich zeige Dir, wie. Und dann bringen wir sie als Extranummer unter die Mannschaft.« – »Nein, das möchte ich nicht. Ich will Maro nicht hintergehen.« – »Sei jetzt still und nerv einen nicht mit Deinen Vorbehalten. Du machst es jetzt genau so, wie ich gesagt habe.« – »Da kannst Du lange warten.«

Ich nahm die Texte wieder an mich. Denis stand auf und schüttelte den Kopf. »Du bist wieder völlig verstockt. Aber egal. Beantworte mir noch meine Frage: Wer hat Dir das beigebracht?« – »Es ist viel zu spät, ich bin müde, lassen wir das für heute«, sagte ich. – »Es sind sehr gute Texte, ganz im Ernst. Du glaubst mir doch?« – »Ja«, sagte ich, »tue ich. Vielen Dank. Gute Nacht!«

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (18. Juli, 0.11 Uhr)

Der Junge wirkte nach seiner Rückkehr aus dem Salon seltsam sprachlos. Ich vermute, es gab einen Streit mit Denis. Vielleicht tut ihm der Umgang mit ihm doch nicht so gut, wie ich dachte. Er ging gleich zu Bett, ohne zu lesen, wie er es sonst immer tut. Ich sagte, dass der Salon mir gefallen habe. Und er antwortete nur: »Na prima.« Dann schlief er ein. Ich werde mich wieder mehr um ihn kümmern.