Auf offener See

Ich hatte sehr wenig geschlafen, als ich am nächsten Morgen gegen 7 Uhr erwachte. Papa war bereits angezogen und sagte, dass er »auf einen Sprung« an Deck gehen werde. Er sei »auf die Bilder da draußen« gespannt. Er wirkte etwas nervös und suchte sein Fernglas, und als er es endlich gefunden hatte, hielt er es zunächst steif in der rechten Hand, zog es dann über (so dass es auf der Brust hing), betrachtete sich im Spiegel und nahm es dann wieder von der Brust, um es erneut steif in der rechten Hand zu halten. »Was ist denn los?« – fragte ich. – »Ich habe noch keinen passenden Platz für den Feldstecher gefunden«, sagte Papa. – »Auf See ist das kein Feldstecher, sondern ein Fernglas.« – »Jawohl, Herr Kapitän«, sagte Papa und verließ die Kabine.

Ich stand rasch auf und ging zu einem Bullauge. Draußen war es sonnig und unglaublich hell, der Horizont aber lag in einem dichten Nebel, als hinge dort ein weißer Schleier, der jede weitere Aussicht versperrt. Wie ruhig die Albireo durch das offene Meer glitt! Größere Wellen waren nicht zu sehen, nur die aufblitzende Spiegelung der Sonnenstrahlen um das Schiff herum erinnerte daran, dass wir von Wasser umgeben waren. Ich zog mich an und ging ebenfalls an Deck. Papa stand mit dem Fernglas an der Reling und schaute so angestrengt durch das Gerät, als hätte ihn das offene Meer hypnotisiert.

»Was ist denn da draußen zu sehen?« fragte ich. – »Nichts«, antwortete Papa, »gar nichts. Das Blau des Meeres und das Weiß des Nebels.« – »Und warum schaust Du dann so lange hindurch?« – »Um ganz sicher zu sein, dass dort wirklich nichts ist.« – »Aha. Was hattest Du denn erwartet?« – »Ein bisschen Küste. Steile Felsen. Kleine Häfen. Oder zumindest: Vögel. Schwärme von Vögeln, die uns begleiten.« – »Aber da sind nicht mal Vögel, stimmt’s?« fragte ich. – »Nein«, sagte Papa, »da ist nichts. Es ist etwas unbefriedigend. Um uns ist Leere, und mit der können nur die Kenner an Bord etwas anfangen. Also die, die den Kurs halten oder unsere Geschwindigkeit bestimmen. Mit anderen Worten: der Kapitän, der Erste Offizier, vielleicht noch der Funker.« – »Hast Du schon jemand von ihnen gesehen?« – »Ja, den Funker. Er wusste immerhin, dass wir gegen Mittag Dover passieren.« – »Dover?« – »Ja, gegen 12 Uhr sollten wir Dover passieren. Oder Calais, das liegt ja bekanntlich gegenüber. Die Straße von Dover nach Calais, die passieren wir in wenigen Stunden.« – »Na bitte, das ist doch mal was.« – »Nein, das sagt nicht viel. Wir werden weder von Dover noch von Calais etwas zu sehen bekommen.« – »Überhaupt nichts?« – »Nein, der Nebel ist viel zu dicht und verhindert die Sicht auf Dover und die auf Calais wohl gleich mit.« – »Wir sollten nicht unzufrieden sein«, sagte ich, »das Wetter ist schließlich herrlich. Sonne, kaum Wind, blauer Himmel.« – »Du redest, als wärest Du Sechzig«, sagte Papa. – »An Bord wird man mit jedem Tag reifer und erfahrener«, sagte ich. – »Da kann ich drauf verzichten«, antwortete Papa.

Er nahm sich die beiden Liegestühle vor und postierte sie in einigem Abstand nebeneinander. Das Fernglas legte er auf den Boden und breitete auf jedem Liegestuhl eine Decke aus. Er ließ sich in eine von ihnen fallen, kniff die Augen zusammen und starrte ins Sonnenlicht. »Ohne Sonnenbrille halte ich das nicht aus«, sagte er. – »Okay, ich hole die Brille«, sagte ich. – »Bring den Homer mit und einen Schluck Wasser. Ich habe Durst.« – »Obwohl wir gleich frühstücken?« – »So lange will ich nicht warten.«

Ich beobachtete ihn noch einen Moment länger, bevor ich in die Kabine zurückging. Er kam mir seltsam unduldsam und leicht gereizt vor, als hätte er sich von diesem ersten Morgen auf offener See etwas ganz anderes erwartet. Das große Abenteuer inmitten von harten Brisen und stürmischer Seefahrt. Schwärme von Vögeln, die das Schiff in den hohen Wogen drohend umkreisen. Einen SOS sendenden Funker. Nichts von alledem war zu sehen. Es war eher so, als segelten wir auf einem Binnengewässer und würden gleich in einer Rentnerhochburg landen. In einem Kaffee- und Kuchenland hinter den weißen, undurchsichtigen Nebeln.

In der Kabine suchte ich nach Papas Sonnenbrille, fand sie aber nicht. Ich suchte weiter, um wenigstens mit Homer aufwarten zu können, konnte aber auch Homer in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß nicht finden. Nur die sperrige Prosaübertragung für die Schülerinnen und Schüler humanistischer Gymnasien hatte ich schnell entdeckt, sie lag als einziger Homertext auf unserem Nachttisch. Daneben lag aber noch ein weiteres Buch, das mit Homer zu tun hatte. Anscheinend hatte Papa es aus der Bibliothek geholt. Ein Geograph machte sich darin Gedanken darüber, wie die Reisen des Odysseus vielleicht verlaufen waren.

Mit den beiden Büchern wollte ich die Kabine verlassen, als ich Denis hörte, der uns zum Frühstück rief. Ich ging nach draußen auf den Gang. »Einen schönen guten Morgen, junger Mann«, sagte er, »angenehm geruht?« – »Wir sollten uns später mal kurz unterhalten, Denis«, antwortete ich, »damit wir in Frieden miteinander auskommen.«

Er schaute mich von der Seite her an und verkniff sich eine Reaktion. Dass ich so antworten würde, hatte er nicht erwartet. Ich hatte mir aber vorgenommen, so schnell wie möglich mit ihm zu sprechen, anstatt seine dummen Sprüche einfach zu überhören.

Dann ging ich in den Salon, um nachzuschauen, ob schon für das Frühstück gedeckt war. Der Kapitän saß bereits am Tisch und frühstückte. Er grüßte freundlich und gut gelaunt, die ruhige Fahrt der Albireo war wohl genau das, was er sich gewünscht hatte. »Mein Vater und ich kommen auch gleich«, sagte ich. – »Bleib bitte noch einen Moment hier, mein Junge«, sagte er da.

Er stand auf und zog die Tür des Salons zu, dann setzte er sich wieder, nahm einen Schluck Kaffee und fragte: »Bier, Wodka, Whisky oder noch härtere Sachen? Was bevorzugst Du, wenn Du mit Deinen Freunden mal einen draufmachen willst?« – »Ich trinke nur selten Alkohol, Herr Kapitän.« – »Aber Du rauchst mit Deinen Freunden mal dieses und jenes, Du weißt, was ich meine?« – »Ich weiß, was Sie meinen. Auch in dieser Hinsicht halte ich mich zurück.« – »Im Ernst?« – »Ja, im Ernst.«

Wir schauten uns an, er versuchte herauszubekommen, ob er mir glauben konnte. Nun gut, er kannte mich nicht gut, und er musste neugierig und misstrauisch sein, weil er für die Ordnung an Bord zuständig war. Ich hatte keine Lust, über meine Zurückhaltung in diesen Dingen lange zu sprechen, und ich wollte, dass er mir vertraute. Die elenden Themen (Alkohol, Drogen, das ganze Gerede über all dieses Pipapo) sollten so schnell wie möglich vom Tisch.

Deshalb entschloss ich mich, ihn rasch einzuweihen: »Bitte behalten Sie, was ich Ihnen jetzt sage, für sich, Herr Kapitän. Ich bin fünfzehn Jahre alt und werde bald sechzehn. Ich bin weder ein Homerexperte noch eine Größe in Mathematik oder Physik. Auch die anderen Schulfächer interessieren mich nicht besonders, höchstens Musik und Literatur. Ich lese sehr viel, aber alles durcheinander, was mir gerade so in die Hände gerät. Ich glaube nicht mal, dass ich dabei viel lerne. Wenn man viel liest, lernt man nicht unbedingt viel. Man hat einfach Freude an fremden Themen und Sachen, an alldem, was einem Menschen erzählen, die mehr und anderes wissen als man selbst. Das ist auch schon alles in Sachen Schule, Lernen und Lesen. Statt der Schule habe ich nämlich etwas ganz anderes im Kopf, Herr Kapitän. Ich möchte Pianist werden. Ich möchte es seit meinem fünften Lebensjahr, und ich möchte nur das und nichts anderes. Ich bin auch auf keinem schlechten Weg. Wenn alles klappt, werde ich nach dem Abitur an einer Musikhochschule studieren. Ich werde nach Rom oder Moskau gehen, und wenn das nicht hinhaut, studiere ich in Frankfurt. An der dortigen Musikhochschule erhalte ich bereits jetzt Unterricht, außer der Reihe, aber regelmäßig, Woche für Woche. Jeden Tag übe ich mehrere Stunden, wie das für eine solche Ausbildung selbstverständlich ist. Alles Üben hätte aber nicht den geringsten Sinn, wenn ich viel trinken oder Drogen schlucken würde. Das geht nicht, es würde alles zunichtemachen, und deshalb ist es nichts für mich. Ich wollte eigentlich nicht darüber reden, aber nun wissen Sie Bescheid. Behalten Sie es bitte für sich, ich fände es nicht gut, wenn dieses Thema laufend am Tisch zur Sprache käme. Wir sollten lieber von etwas anderem sprechen. Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen. Ich werde an Bord weder trinken noch Drogen schlucken.«

Ich spürte, dass ich während dieser kleinen Rede rot geworden war. Mir war auch etwas heiß, denn ich hatte von Themen erzählt, die ich normalerweise für mich behielt. Aber so war es besser, denn ich wollte nicht, dass wir Zeit mit dummen Vermutungen verbrachten. Dafür waren die Tage an Bord nun doch zu schade.

Kapitän Reckling hatte mir aufmerksam zugehört, das hatte ich genau gesehen. Er hatte nicht mal seinen Kaffee und sein Wurstbrot angerührt. Als ich zu Ende war, rückte er seinen Stuhl ein wenig nach hinten, stand (völlig unerwartet) auf und gab mir die Hand. »Danke, mein Junge, das waren ein paar ehrliche Worte. Ich weiß das zu schätzen. Und über Deine Zukunftsideen verliere ich keine Silbe, das behalten wir beide für uns.«

Genau in dem Moment, als er mir die Hand gab, kamen Papa und Denis fast gleichzeitig in den Salon, und hinter ihnen drängte auch Ingenieur Segemann herein. Alle blieben fast noch in der Tür stehen und schauten sich die Szene an. »Was ist denn hier los?« fragte Papa. – »Ich habe Ihren Sohn gerade als Vollmatrosen angeheuert«, sagte Kapitän Reckling. – »Was ist los? Ich verstehe nicht«, sagte Denis. – »Wollen wir jetzt frühstücken oder hungrig herumstehen?« fragte Ingenieur Segemann. – »Unser Erster Offizier lässt sich entschuldigen, er hat zu tun und bereits gefrühstückt. Also ist der Platz rechts neben mir frei. Johannes, übernimmst Du?« fragte der Kapitän. – »Wie bitte? Was soll Johannes übernehmen?« fragte Denis. – »Den Platz des Ersten Offiziers, was sonst?« sagte Kapitän Reckling.

Ich sah, dass Denis dieser Platzwechsel überhaupt nicht recht war. Er stöhnte leise auf und deckte neu ein, indem er mein Gedeck rechts neben dem Kapitän platzierte. Auch Papa schaute etwas verwundert, sagte aber nichts, nur Heinrich Segemann schien sich für das alles nicht besonders zu interessieren: »Wir wollten doch gestern Abend noch ein Bier zusammen trinken, Josef«, sagte er, »tut mir leid, aber ich bin nicht dazu gekommen. Heute Abend ist das anders. Dann könnten wir nach dem Abendessen eins trinken, einverstanden?« – »Sehr gern«, antwortete Papa, »dann kannst Du mir vielleicht von den Fahrten des Odysseus erzählen. Wo genau er unterwegs war, auf welchen Routen.« – »Oho«, sagte Kapitän Reckling, »darüber weiß unser Ingenieur fast alles, er kann darüber stundenlang reden.« – »Möchtest Du auch ein Glas Bier mit uns trinken?« fragte mich Heinrich Segemann. – »Ein ander Mal«, antwortete ich und sagte weiter nichts, weil mir keine gute Begründung für mein Fernbleiben einfiel. »Bist Du schon mit Maro verabredet?« kam mir da Kapitän Reckling zu Hilfe. – »Noch nicht. Hat er Ihnen gesagt, dass er mich in die Arbeit an der Bordzeitung einweihen will?« – »Maro hat mich schon darauf angesprochen. Natürlich bin ich einverstanden. Unsere Bordzeitung kann etwas Auffrischung gut brauchen. Macht Euch zusammen an die Arbeit!«

»An welche Arbeit?« fragte Denis, während er Spiegeleier und Rührei servierte. – »Unser junger Vollmatrose wird Maro bei der Arbeit an der Bordzeitung über die Schulter schauen«, sagte der Kapitän. – »Davon höre ich das erste Mal«, sagte Denis. – »Ich übrigens auch«, sagte Papa. – »Ich nicht«, antwortete Heinrich Segemann, »Maro hat mir schon gestern Abend davon erzählt. Ich finde es eine fabelhafte Idee. Passagiere, die sich nützlich machen, haben viel mehr von einer Reise als solche, die nur faul herumliegen.« – »Und womit bitte soll ich mich nützlich machen?« fragte Papa. – »Mit Zuhören«, sagte Ingenieur Segemann, »ich erzähle nämlich für mein Leben gern von den Fahrten des Odysseus. Ohne gute Zuhörer ist so etwas aber nur das halbe Vergnügen.«

Mir kam es so vor, als wäre ich seit dem gestrigen Abend im Ansehen der meisten in diesem Salon ein wenig gewachsen. Ich galt anscheinend nicht mehr als der etwas weltfremde, naive Junge, der mit seinem Homer unter dem Arm herumlief, sondern eher als Vollmatrose in spe, der irgendeinen Pakt mit dem Kapitän geschlossen hatte. Wie hat er das angestellt? mochten sich einige fragen, die Kapitän Reckling etwas besser kannten. Was ist da zwischen den beiden gelaufen? Ich ahnte, dass diese Fragen besonders Denis beschäftigten, vielleicht hatte er irgendwann sogar selbst einmal daran gedacht, an der Bordzeitung mitzuarbeiten, schließlich war auch er anscheinend ein Vielleser.

Solche Themen kamen während des gemeinsamen Frühstücks aber nicht weiter zur Sprache. Kapitän Reckling zeigte sich angesichts des guten Wetters erleichtert und sprach von der Fahrt durch die Straße von Dover. »Ich lese gerade ein interessantes historisches Buch über die Westoffensive der Alliierten 1944, da spielten Dover und Calais ja eine Hauptrolle.« Niemand antwortete darauf etwas, nur Heinrich Segemann sagte (nach einer ganzen Weile) zu Papa: »Josef, kannst Du mir mal das Rührei reichen?« Womit das Thema »Westoffensive der Alliierten« erledigt war.

Später lagen Papa und ich in unseren Liegestühlen an Deck. Die Sonne brannte sehr stark auf uns herunter, als wollte sie uns zwingen, unsere jetzt spießig erscheinende Landrattenkleidung abzulegen. Ich hatte eine kurze Hose angezogen, während Papa noch in seiner hellen Kapitänshose durchhielt. Er hatte seinen alten Feldbuchrahmen aus der Kabine geholt und ein weißes Blatt in den Rahmen gespannt. Es sah aus, als wollte er das Nichts um uns herum zeichnen, mit gleich mehreren Bunt- und Bleistiften, die er wie immer fein gespitzt hatte.

»Was willst Du denn zeichnen?« fragte ich, »etwa die nicht vorhandenen Wellen? Oder die nicht vorhandenen Vögel? Oder die Gischtspuren unserer Albireo?« – Papa winkte ab, ich sollte ihn nicht stören, er wollte sich auf sein Zeichnen konzentrieren.

Ich war neugierig darauf, was ihm einfallen würde. Während unserer früheren gemeinsamen Reisen hatte er fast jeden Tag gezeichnet. Damals hatte ich gar nicht weiter darauf geachtet, so selbstverständlich war es mir vorgekommen. Papa fotografierte nicht, sondern zeichnete: Einzelne Menschen, Häuser, eine Straßenflucht, kleine, unauffällige Tiere, Steine – ich kannte keinen Menschen, der so schnell und gut zeichnete, ich selbst dagegen konnte überhaupt nicht zeichnen.

Ich stand auf und zog meinen Liegestuhl hinüber auf die andere Seite des Decks. Dann drehte ich ihn so, dass ich die ganze Zeit auf das offene Meer schauen konnte. Als hätten wir uns abgesprochen, stand auch Papa auf und zog seinen Liegestuhl in den Schatten. Er wiederum wollte dem Meer den Rücken zukehren, anscheinend hatte er gar nicht vor, etwas zu zeichnen, das er im Blick hatte. (Was aber dann?)

Unsere beiden Liegestühle standen schließlich in einiger Entfernung voneinander auf beiden Seiten des Schiffs, als wären wir zwei Wachtposten, die den Durchgang kontrollierten. Diese Distanz war mir sehr recht, denn ich hatte mir vorgenommen, mich in die Homerlektüre zu vertiefen, ohne dass Papa die Details dieser Lektüre mitbekam.

Also: Wie zum Teufel begann die Odyssee, mit welchen Szenen ging es los und wovon war da genau die Rede? Ich hatte das alles längst vergessen und erinnerte mich nur an zwei oder drei markante Episoden: Odysseus im Kampf mit dem Riesen Polyphem, Odysseus im Land der Zauberin Kirke, Odysseus bei den Phaiaken.

Das waren einige Abenteuer, deren Verlauf ich noch einigermaßen zusammen bekam. Wie Odysseus aber während seiner langen Heimreise von einer Insel zur andern gelangt war, wusste ich nicht. Der Altgriechisch-Unterricht im Gymnasium hatte sich Zeile für Zeile um eine möglichst getreue Übersetzung Homers bemüht – dabei war ihm das Epos als ganzes vollständig aus dem Blick geraten. Ich musste also wohl oder übel mit dem »Ersten Gesang« beginnen. Über dem eigentlichen Text verkündete eine Überschrift, was ich zu erwarten hatte: »Wie die Götter die Heimkehr des Odysseus beschließen und Athene nach Ithaka zu Telemachos geht«.

Die Götter hatten die Heimkehr des Odysseus beschlossen? Aber wieso bedurfte es eines solchen Beschlusses? Machte sich Athene (und weshalb ausgerechnet diese Göttin?) etwa wegen dieses Beschlusses auf den Weg nach Ithaka?

Dass Ithaka die Heimat des Odysseus war – immerhin das wusste ich. Und dass Telemachos sein Sohn war …, nun gut, das wusste ich auch. Anscheinend begann die Odyssee also mit zwei Geschichten: Dem Beschluss der Götter, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen, und dem Aufbruch der Göttin Athene nach Ithaka. Stimmte das? Aber was hatte das eine mit dem anderen zu tun?

Ich las zunächst Satz für Satz mehrmals, um mich an die sonderbare Sprache der Prosa-Übersetzung zu gewöhnen und jedes Detail mitzubekommen. Das Ganze begann in der Tat mit dem Rat der Götter, die im Haus des Zeus zu einem Treffen zusammengekommen waren. Im Verlauf dieses Treffens setzte Athene sich für Odysseus ein. Noch immer saß er auf der Insel Ogygia fest, obwohl er sich so sehr nach seiner Heimat Ithaka sehnte. Die Nymphe Kalypso umgarnte ihn (»mit weichen und einschmeichelnden Worten«, wie es hieß) und ließ ihn nicht ziehen.

Athene brachte nun die ganze Geschichte der Heimkehr in Gang, soviel stand fest. Sie stellte die Weichen, indem sie den Götterboten Hermes zu Kalypso schickte und selbst nach Ithaka eilte. Hermes sollte die Nymphe bewegen, Odysseus ziehen zu lassen, während Athene den jungen Telemach (den Sohn des Odysseus) drängen wollte, Ithaka zu verlassen und sich in Pylos, Sparta und anderswo nach dem Verbleib seines Vaters zu erkundigen. Mit dem Aufbruch des Odysseus von Ogygia und Telemachs Aufbruch von Ithaka begann also das große Epos.

Zur Sicherheit machte ich mir ein paar kurze Notizen, als ich Denis erkannte, der ebenfalls an Deck gekommen war. Er blieb genau in der Mitte zwischen unseren Liegestühlen stehen und fragte: »Etwas zu trinken gefällig? Bier, Wasser, Tee, Kaffee?« – Papa schüttelte den Kopf, und auch ich winkte ab. Denis aber wartete und schaute uns an, als müsste er sich ein genaues Bild von uns machen. Er grinste, als er Papa zeichnen sah, dann kam er zu mir und blieb neben meinem Liegestuhl stehen: »Dein Vater zeichnet? Was gibt es hier denn zu zeichnen?« – »Abwarten!« sagte ich. – »Du hast keine Ahnung?« – »Nein, habe ich nicht.« – »Aha, heute ist der junge Herr kurz angebunden!«

Ich wollte mich nicht mit ihm unterhalten, sondern lesen. Ich ahnte aber, dass er mich nicht in Ruhe lassen würde.

»Komm bitte mal kurz mit in den Salon«, sagte ich, stand auf und ging voraus. Im Salon angekommen, redete ich weiter: »Wir sollten mal einige Dinge klären. Erstens: Ich bin weder ›der junge Herr‹ noch sonst eine Lachnummer. Ich heiße Johannes, und so solltest Du mich auch anreden. Zweitens: Ich habe das Gefühl, dass wir beide ganz unterschiedliche Interessen haben. Meine mögen Dir altmodisch und beschränkt vorkommen, das ist mir egal, so lange Du Deine Meinung für Dich behältst und Dich nicht laufend über mich lustig machst. Drittens: Ich werde hier an Bord weder irgendwelche harten Sachen trinken noch irgendwelche Drogen schlucken. Viertens: Wir sollten Distanz zueinander halten und uns nicht in die Quere kommen. Jeder von uns sollte tun, was er will, jeder für sich, dann kommen wir bestimmt gut miteinander aus.«

Ich sah, dass er vollkommen überrascht war. Nie im Leben hatte er mit solchen Sätzen gerechnet. Er schwitzte plötzlich auf der Stirn und starrte hinüber zu einem Bullauge. Da wusste ich, dass nun auch er ausholen und zum Angriff übergehen würde.

»Nun mach mal halblang!« sagte er. »Erst einmal wollen wir festhalten, wer von uns beiden hier den starken Mann markiert. Ich oder Du? Du bist erst kurz an Bord und intrigierst schon ganz gezielt gegen mich. Schleichst heimlich zum Kapitän, verschaffst Dir Vorteile und ziehst wahrscheinlich ganz nebenbei über mich her. Vielen Dank dafür! Ich habe seit einiger Zeit meine Probleme mit diesem Kapitän, das hast Du zumindest mitbekommen. Und prompt hast Du diese Ahnung ausgenutzt und lieb Kind gespielt! Warum hat er Dir vor dem Frühstück so feierlich die Hand gegeben? Und warum hat er Dir den besten Platz am Tisch zugewiesen?! Kannst Du mir das mal erklären? Hat er Dich etwa zu seinem Spion ernannt, der von nun jedes kleine Fehlverhalten der Mannschaft an Bord heimlich melden wird? Ich bin mir beinahe sicher, dass Du Dich auf so etwas eingelassen hast!«

»Du bist ja verrückt!« entfuhr es mir, »völlig verrückt! Der Kapitän und ich haben über ganz andere Dinge gesprochen. Über sehr persönliche, über Dinge, die mein Leben betreffen.« – »Großartig!« schrie Denis da beinahe, »Dinge, die Dein junges Leben betreffen! Dass ich nicht lache!«

Ich halte es nicht gut aus, wenn ich so angeschrien werde. Ich werde hilflos und kann weder etwas entgegnen noch sonst etwas Handfestes tun. Meist erstarre ich und komme nicht vom Fleck. Ich kann nicht weggehen (wie ich es am liebsten tun würde), sondern höchstens versuchen, an etwas ganz anderes zu denken. Das ist meine einzige Rettung in solchen Situationen.

Ich setzte mich und wartete, bis die leichte Verspannung vorüber war. Ich atmete durch und sagte: »Ich hatte den Anfang der Odyssee wirklich komplett vergessen. Den Rat der Götter, Athenes Aufbruch nach Ithaka, Odysseus auf Ogygia, alles komplett vergessen! Aber nun gut, ich habe ja Zeit, das in Ruhe und gründlich zu lesen. Und ich wäre Dir dankbar, Denis, wenn Du mir diese ruhige und ungestörte Lektüre ermöglichen könntest. Mehr will ich zu Deinen Vorwürfen nicht sagen.«

Ich blickte auf die Tischplatte vor mir, ich konnte Denis nicht anschauen. Die Spannung, die zwischen uns entstanden war, war richtiggehend zu spüren. Keiner von uns bewegte sich, die Situation wirkte festgefahren. Ich nahm mir vor, bis Zehn zu zählen und den Salon danach zu verlassen. Als ich bei Neun angekommen war, drehte Denis sich um und ging vor mir hinaus.

Ich blieb noch eine Weile sitzen und nahm aus der Bibliothek ein Buch, das sich mit dem Aufbau der Odyssee beschäftigte. Um mich zu beruhigen, las ich die erstbeste Kapitelüberschrift: »Die Bauglieder der ersten Hälfte der Dichtung«. Anscheinend gab es genau drei Bauglieder in der ersten Baugliedergruppe. Und weitere drei in der zweiten Baugliedergruppe … – ich musste lachen. Wenn ich Papa von diesen Baugliedern erzählte, würde er das auch komisch finden.

Nach einer Weile stand ich auf und ging zurück zu meinem Liegestuhl. »Die erste Hälfte des Epos hat drei Baugliedergruppen zu je drei Baugliedern«, flüsterte ich und kicherte. So ein Kichern beruhigt ungemein. Alles, was Denis eben noch von sich gegeben hatte, trat gegenüber derart penibel-skurrilen Untersuchungen über den verzwickten Bau der Odyssee in den Hintergrund. Es verblasste allmählich und löste sich schließlich in den Nebeln am Horizont auf.

Ich legte mich in den Stuhl und griff nach dem Buch mit der Prosa-Übersetzung des Epos. Da sah ich, dass dicht daneben eine Flasche mit Mineralwasser stand. Jemand musste sie nicht nur hingestellt, sondern auch bereits geöffnet haben. Ich sah, dass sie gut gekühlt war, dann nahm ich einen Schluck und vertiefte mich weiter in die Lektüre.

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (12. Juli, 11.17 Uhr)

Wie gern hätte ich die berühmten Kreidefelsen von Dover gesehen! Zumindest die Andeutung einer Horizontlinie wollte ich mit dem Fernglas studieren! Die verschiedenen Weiß-Töne, ein Panoramagemälde! Es ist aber rein gar nichts zu sehen, die Felsen stecken im Nebel. Ärgere mich, denn wir sind kaum ein paar Meilen entfernt! So nahe – und nichts! Vor lauter Ärger habe ich begonnen, die Kreidefelsen zu zeichnen, ich zeichne sie in die Mitte des Blattes, lasse ein paar Wellen gegen sie anrollen und kröne ihren Verlauf mit Möven, die im starken Wind tanzen. Es gibt jedoch nicht einmal Wind, ich schaue auf eine graue, banale Suppe!

Aus den Aufzeichnungen meines Vaters (12. Juli, 11.54 Uhr)

Da ich die berühmten Kreidefelsen von Dover bereits gezeichnet hatte, zeichnete ich anschließend auch einen Streifen der gegenüberliegenden, französischen Küste. Hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dort aussieht, was mir aber egal war. Ich zeichnete flaches Land mit einigen Schafen und vielen Zäunen, es sah sehr friedlich aus, fast zu friedlich. Nebeneinander gehalten, ergeben die beiden unterschiedlichen Zeichnungen einen sehr starken, packenden Kontrast: England (Dover) – Frankreich (das Land um Calais). Schrieb eine Karte an M.: »Dover und Calais glücklich passiert, fantastische Sicht auf die berühmten Kreidefelsen und die französische Küste. Alles Weitere später mündlich.«