Glaubensansichten
Das gemeinsame Abendessen an Deck verlief sehr entspannt. Kein Streit, keine Probleme, und jeder fand etwas, was ihm schmeckte. Papa und ich – wir hatten die aus der Taverne geholten Speisen erwärmt und auf große Platten verteilt. Körbe mit geschnittenem Weißbrot standen daneben, und den Wein hatten wir in Karaffen gefüllt, was den langen Tisch gut dekorierte.
Um 17 Uhr hatte die Albireo abgelegt und Kurs auf Saloniki genommen. Schon eine Stunde später waren Papa und ich mit dem Aufbau der Tische, Stühle und kleiner Lampen fertig, und das Deck war nicht wiederzuerkennen. Wir trieben wie eine leuchtende Insel dahin, und je dunkler es wurde, umso mehr strahlten die bunten Teller mit ihren dominanten Grün- und Gelbfarben.
Sara nahm an unserem Gelage teil, und Mühlenthal wiederholte mehrmals, es handle sich um ein griechisches Gastmahl, wie Platon es beschrieben habe (na klar, er konnte mit dem »Philosophieren« einfach nicht aufhören …).
Noch vor dem Essen hatte Kapitän Reckling die Nachricht von der Aufnahme seines Sohnes in die Marine mitgeteilt. Darauf hatten wir angestoßen und einen Glückwunschbrief an seinen Sohn aufgesetzt (das hatte der junge Vollmatrose O. übernommen). Alle unterschrieben und grüßten herzlich.
Die gute Nachricht bestimmte eine Weile das Gespräch während der sich lange hinziehenden Mahlzeit. Es ging um das Thema der »Berufswahl« in jugendlichem Alter, und je mehr getrunken wurde, umso kurioser und komischer wurde darüber geredet.
Reckling sagte, er habe schon immer Offizier oder Kapitän werden wollen. Jetzt sei er froh, dass er sich für Letzteres entschieden habe, denn ein Kapitän sei ein Offizier höheren Grades, mit noch größeren Kompetenzen als einer an Land. »Gut, dass Du uns das nicht jeden Tag gezeigt und bewiesen hast«, sagte Papa, und Reckling war sichtlich stolz, dass ihm diese Zurückhaltung hoch angerechnet wurde.
Auch Heinrich sagte, er habe schon immer Ingenieur werden wollen, inzwischen habe er aber von Schiffsmotoren genug, sie stellten für ihn einfach keine Herausforderung mehr dar. »Und was wäre eine richtige Herausforderung?« fragte ich. – »Mit einem Viermaster über den Atlantik zu segeln«, antwortete Segemann (und erklärte mindestens zehn Minuten lang, worin die Herausforderungen in einem solchen Fall bestanden hätten … – leider verstand ich nicht alles …).
Mühlenthal sprach (erstaunlich offen und gut gelaunt) von seinen »zwei Existenzen«: Dass er froh sei, mehrere Sprachen zu beherrschen und die Welt bereits in großem Umfang gesehen zu haben. Und dass er daran denke, seine Kenntnisse bald in einem anderen Beruf als dem eines Ersten Offiziers auf See anwenden zu können. »Sie wollen also wirklich nicht Kapitän werden?« fragte Reckling, und Mühlenthal antwortete: »Momentan habe ich noch andere Präferenzen, aber nichts auf Erden ist sicher.« Dabei schaute er Sara an und lächelte, als hätte sie ihm den Pfad der Weisen gewiesen. Sie lächelte auch tapfer zurück, aber so, als wäre Mühlenthals Entschluss ihr auch etwas unheimlich.
Natürlich wurde auch ich gefragt, wie ich mir meine Zukunft vorstelle – inzwischen wussten alle aber doch längst, dass ich Pianist werden wollte (wobei das nie in großer Runde angesprochen worden war, alle hatten es einzeln erfahren …). »Wenn Du kein Pianist wirst, könnte auch ein guter Schriftsteller aus Dir werden«, sagte Kapitän Reckling, worauf Papa seltsamerweise sofort reagierte: »Das muss nicht sein, ein Schriftsteller kann er nebenher sein und bleiben. Er ist ja auch längst einer, wenn man es genau nimmt.«
Das Thema »Berufswahl« wurde noch einige Zeit weiter traktiert, da ging es um Fantasie- oder Wunschberufe. Mühlenthal sagte, er wäre auch gerne ein Weinhändler mit Niederlassungen auf der ganzen Welt (darunter tat er es nicht) geworden. Der südamerikanische Wein sei zum Beispiel gerade »groß im Kommen«, den würde er – in Konkurrenz zum führenden französischen – gerne in Mitteleuropa durchsetzen. (Papa war deutlich anzusehen, für wie verrückt er diese Idee hielt.)
Heinrich Segemann erzählte, dass er als Junge davon geträumt habe, ein Schifffahrtsmuseum zu leiten. Alle paar Wochen sei er mit seinem Vater in einem gewesen, und später habe er seine Frau ebenfalls häufig in eines geführt, was allerdings wohl zur späteren Scheidung beigetragen habe (haha!).
Auch Sara meldete sich mit einem Wunschberuf, und so erfuhren wir (die Themen »Musik«, »Klavier« und »Konzert« wurden raffiniert umgangen), dass sie auch gerne Journalistin geworden wäre. Das aber nicht in Argentinien, sondern in Frankreich oder Deutschland! »Finden Sie die deutschen Zeitungen wirklich so interessant und gut?« fragte Papa, und sie antwortete prompt (und als brauchte sie keine Sekunde nachzudenken): »Sie sind die besten der Welt!«
Papa hatte sich immer wieder mit Fragen oder (vor allem) ironischen Kommentaren in das Gespräch eingeschaltet. Irgendwann fragte man aber auch ihn nach seinem Wunschberuf, da kratzte er sich am Hals, schaute aufs Meer und sagte: »Tja, ich wäre sehr gerne Förster geworden. Dann hätte ich mit der Familie in einem Forsthaus mitten im Westerwald gelebt. Wir hätten zwei Hunde gehabt, und ich hätte den Jungen manchmal morgens mit in den Wald genommen. Wir hätten häufiger Wild gegessen – was ich sehr mag –, und wir hätten uns um jeden Strauch, jeden Baum und jede Wiese gekümmert. Ich hätte die Tiere und Blumen meines Reviers Stück für Stück gezeichnet, und wir hätten die Bilder im Forsthaus aufgehängt. Es hätte weder ein Fernsehen noch Zeitungen gegeben, wir hätten auf die neusten Nachrichten verzichtet. In strengen Wintern – und die Winter im Westerwald sind sehr streng – wären wir mit Hundeschlitten ins Dorf gefahren, und ich hätte dem Jungen beigebracht, wie man Ski fährt. Stundenlang wären wir unterwegs gewesen, mit Langlaufskiern natürlich, die schnelleren für die Abfahrt wären ja nichts für uns gewesen …«
Papa sprach noch eine Weile, und es hörte sich an, als wäre in Wahrheit das seine eigentliche Geschichte und die andere, wahre, die von seinem jetzigen Geodätenberuf handelte, demgegenüber eine viel schwächere Version seines Lebens. Seltsam war auch, dass Papa das alles am Stück erzählte, als hätte er die Förstergeschichte seit Urzeiten wie einen sich immer wiederholenden Traum im Kopf.
Ich glaube, dass alle am Tisch spürten, dass er von einem geheimen, anderen Leben träumte und dass dieser Traum so realistisch war wie die Wirklichkeit selbst. Es war Sara, die dieser Empfindung Ausdruck verleihen wollte, denn sie sagte: »Da kommen einem ja beinahe die Tränen vor Rührung…« Sie war richtig bewegt, griff aber mit ihrem Satz vollkommen daneben.
Papa schaute sie auch etwas erstaunt an, erwachte aus seinen Träumen und antwortete: »Aber nein, so hatte ich das nicht gemeint. Ich bin mit meinem jetzigen Beruf sehr zufrieden, es ist alles in Ordnung, und es ist letztlich gut, dass ich kein Förster geworden bin. Das Schönste und Höchste ist gerade gut genug für den Traum – warum wären viele von uns sonst noch immer gläubige Christen?«
Ich erschrak richtiggehend bei dieser Frage, sie kam so unerwartet und plötzlich, und ich brachte sie mit dem, was davor geredet worden war, nicht in Verbindung. Was wollte Papa denn genau sagen? Ich wiederholte seine Frage in meinem Kopf, aber ich kam nicht weiter, sie erschien mir dunkel und ernst und auch »philosophisch«, vielleicht war sie aber auch als Provokation gemeint, keine Ahnung.
Den anderen Essern am Tisch schien es genau so zu gehen, denn niemand antwortete etwas darauf, und es war eine Zeitlang so still, als wartete man darauf, dass Gottvater sich aus den Höhen des Himmels einschaltete, um Papas merkwürdige Frage zufriedenstellend zu beantworten.
Es war Mühlenthal, der als erster die Sprache wiederfand. »Wenn man sich anhört, was wir alle gerade zurechtfantasieren, fällt einem auf, dass es zwei Lager gibt. Das eine ist das der Abenteurer und des Sich-Treiben-Lassens. Und genau davon erzählt Homer in der Odyssee. Odysseus ist jahrelang unterwegs – und das nicht, weil er ein Dummkopf wäre, der den richtigen Kurs immer wieder verfehlt, sondern weil er das Abenteuer sucht. Es zieht ihn hin zu der Nymphe Kalypso und zu Nausikaa und ihren Freundinnen – und, später, als Nausikaas Vater ihn darum bittet, erzählt er von diesen Abenteuern, eins nach dem andern. Immer wieder kommen ihm dabei die Tränen, es sind aber keine Tränen der Trauer oder der Angst, sondern Tränen über das abenteuerliche Leben, das ihm auferlegt ist und das einmal enden wird, letztlich aber nicht enden soll. Das ist es: Odysseus möchte zwar heimkehren, aber er möchte es nicht auf ruhige, spießige Art. Und genau dieser Zwiespalt führt zur ewigen Unruhe und dem nicht zu unterdrückenden Bedürfnis, das halbe Mittelmeer zu befahren. Was bieten ihm denn Kalypso oder Nausikaa anderes an als eine neue Heimat, die noch schöner und prachtvoller wäre als die eigentliche in Ithaka? Aber nein, er bleibt nicht, sondern lässt sich weitertreiben, bis er endlich doch wieder zu Hause in Ithaka ist. Genau in diesem Moment aber fühlt er sich geschlagen. Das Abenteuer ist aus, und es warten langweilige Abende mit Freunden und damit Tafel- und Unterhaltungsrunden, wie wir sie gerade genießen.«
Ich fand diese Deutung fabelhaft und wurde hellwach, schließlich hatte ich die Odyssee während unserer Fahrt (zumindest in großen Teilen) gelesen. Aber auch aus einem anderen Grund fand ich faszinierend, was Mühlenthal gesagt hatte: Mir selbst war es während unserer Mittelmeerreise manchmal so ergangen wie dem antiken Helden Odysseus. Oft genug hatte ich mich nach Hause gesehnt, und andererseits (in besonders guten Momenten) die Reise als das momentan einzig Richtige (und als großes Abenteuer) empfunden. Ich wollte nicht zu Hause sitzen, sondern »die Welt sehen« und erkunden, welches Leben die unterschiedlichsten Menschen führten. Und ich wollte doch auch wieder nach Hause, um mir in Ruhe meine Gedanken zu machen, Klavier zu spielen und mit den Eltern und Freunden zusammen zu sein …
»Das Abenteuer, Homer und die Odyssee – das also ist das eine Lager«, sagte ich zu Mühlenthal, »das andere wäre wohl: ein beständiges Leben an einem Ort! Ein Haus, ein Hof, eine Familie, Freunde, der Markt, das Dorf, die Stadt?!« – »Du sagst es, das wäre das andere Lager, und beschrieben hat es als erster Hesiod in seinen Geschichten der Werke und Tage. Hesiod hat die Schönheit nicht des Abenteuers, sondern des Wohnens an einem Ort besungen. Wie man ein glückliches Leben im Kreislauf der Jahreszeiten führt. Welche Pflanzen man anbauen, wann geerntet werden soll, wann den Göttern geopfert, wann ein Fest gefeiert wird – all das. Die Abenteurer empfinden diesen ewigen Kreislauf des Lebens, in dem sich die Menschen wie fleißige Gärtner einrichten, als armselig und beschränkt. Und die Landbewohner (und damit die Gärtner) halten die Abenteurer für verwirrte Existenzen, die dem Glück vergeblich hinterherlaufen und den glücklichen Moment nie zu fassen bekommen.«
»Wir Seeleute sind jedenfalls meistens Abenteurer«, sagte Reckling, »das bemerke ich ja schon an dem Unwohlsein, das ich zu Hause empfinde.« – »So eindeutig könnte ich mich da nicht entscheiden«, antwortete Papa, »ich liebe das Unterwegssein wirklich sehr. Käme es aber darauf an, würde ich mich für das Zuhause entscheiden. Was ist ein Förster anderes als ein Mann, der an seinem Wald und seinem Revier hängt und beides nie verlassen wird?!« – »Ich vermute«, sagte Mühlenthal, »dass ein Förster sogar noch etwas Extremeres ist: Ein Mann, der es auch allein aushalten würde. Einer, der sich in eine Hütte zurückziehen könnte, um dort glücklich zu werden. Haben Sie daran schon einmal gedacht?« – »Daran, allein in einer Hütte zu wohnen?« – »Ja, genau daran!«
Mir fiel sofort ein, dass es auf unserem Westerwald-Grundstück eine Jagdhütte gibt und Papa in ihr viel Zeit verbringt. Dort liest er, hört Musik, zeichnet – und fast immer ist er allein. Mühlenthals Frage ließ das Bild der Hütte plötzlich vor mir entstehen, mein Gott, in dieser Hütte hatte Papa mir jahrelang Unterricht im Schreiben erteilt! Und das Tag für Tag, mit einer Engelsgeduld, bis ich schließlich (nach vielen Jahren) im Schreiben sogar besser geworden war als er selbst (was wirklich stimmt und keine hochmütige Bemerkung ist, nein, wirklich nicht …).
Ich schaute Papa an und wusste genau, dass er auch das Bild unserer Jagdhütte vor Augen hatte und überlegte, ob er von dieser Hütte erzählen sollte. »Lebe ich etwa, ohne es zu ahnen, in einer Hütte?« wandte er sich (lachend) an mich. »Und bin ich am liebsten allein, ohne Mama und Dich?«
»Ich wüsste nicht, wo es bei uns eine solche Hütte gäbe«, antwortete ich, »sieht man einmal von der Hütte ab, in der ich als Kind immer gespielt habe.« – »Na ja«, sagte Papa, »das war ein Spiel- und Abenteuerhaus, in dem Du gekritzelt, gemalt und Musik gehört hast. So ein Haus ist etwas anderes als eine einsame Klause.« – »Salinger hat in einer solchen Klause gelebt, oder?!« fragte ich Mühlenthal, und er antwortete: »Am Ende vom Fänger im Roggen hat Holden Caulfield den Traum vom Leben in einer einsamen Hütte. Taubstumm, allein, abseits von allen Menschen. Und als Salinger den Roman beendet hatte, verwirklichte er genau diesen Traum für sich selbst: Ein Holzhaus, umgeben von hohen Bretterzäunen, im Abseits.«
»Ich habe von Anfang an gewusst, dass dieser Roman nichts für mich ist«, sagte Reckling (und trank als erster von uns allen wieder ein Glas Bier – ich bemerkte es genau). – »Für mich wäre er ganz bestimmt auch nichts«, ergänzte Segemann (und starrte auf Recklings Bier, als hielte der gerade etwas ungemein Lustbringendes in der Hand). – »Eine Zeitlang hielte ich es durchaus in einer solchen Hütte aus«, sagte Mühlenthal lächelnd – worauf Papa antwortete: »Sie reden darüber, als wäre so was ein Abenteuerspielplatz. Das war es für Salinger nicht. Für Salinger war das Holzhaus eine radikale Entscheidung, das ist von einem ganz anderen, ernsten Niveau.«
›Jetzt hat Papa es Mühlenthal aber gegeben‹, dachte ich – und fühlte mich dadurch bestätigt, dass Mühlenthal nichts erwiderte, sondern (leicht) durcheinandergeriet. »Ist Dir nicht zu kühl?« fragte er seine Verlobte (dabei schwitzte doch jeder von uns vor Wärme). »Zu kühl?!« antwortete denn auch Sara erstaunt und schwieg einen Moment. Dann erst begriff sie, dass Mühlenthal ihr (auf indirekte Weise) vorschlagen wollte, zurück in die Kabine zu gehen. Um sich zu entspannen. Um den Abend »ausklingen zu lassen«.
Es dauerte dann aber noch einige Zeit, bis Sara und Mühlenthal sich wirklich verabschiedeten. Als es soweit war, zog auch ich mich in unsere Kabine zurück. Papa hatte angekündigt, kurz vor Ende der Reise eine kubanische Zigarre rauchen zu wollen (»ein Rauchopfer« nannte er das …). Worauf sowohl Kapitän Reckling wie Heinrich Segemann erklärt hatten, es ihm gleich tun zu wollen. Das zu erleben, hatte ich nicht vor. Ich wollte etwas notieren und mich später um die Nachrichtenbündel kümmern, die Maro mir übergeben hatte.
Reisetagebuch (27. Juli 1967, 23.17 Uhr)
Gespräche wie heute Abend an Bord werde ich zu Hause sehr vermissen. Mit wem soll ich mich über solche wichtigen und interessanten Themen (wie das Abenteurertum, das Gärtnern und die Einsamkeitsklausen) denn unterhalten? Die Schule wäre genau der richtige Ort dafür – aber sie berührt solche Fragen nicht einmal entfernt. Stattdessen präsentiert man uns lauter Lernstoff – wie ödes Futter für Mastochsen. Wir sollen fressen und uns damit vollpumpen – aber es geht uns nicht das Geringste an. In zwei, drei Jahren haben wir den ganzen Lernstoff vergessen, und in zehn Jahren halten wir Odysseus für einen griechischen Segelweltmeister. Es ist doch zum Heulen! Und was folgt aus diesem Elend?! Man muss sich um alles selbst kümmern. Selbständig lernen, sich keine Ruhe gönnen, viel schreiben, festhalten, wo im Gelände man sich genau befindet (die Wendung würde Papa gefallen). Kann mir aber jemand erklären, wie man sich bei alldem Wirrwarr auch noch verliebt? Und: Sollte man das überhaupt?! Oder brächte jede Verliebtheit den gerade mal mühsam errichteten Lebensbau sofort wieder zum Einstürzen?! Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich sogar! Mist, ich habe das Thema leider nicht in unser Gespräch eingebracht. Dabei ist Mühlenthal gerade »frisch verliebt«. Hätte ich ihn (mutig) gefragt, hätte er auch dazu eine tadellose, lange durchdachte Theorie zur Hand gehabt und sie klug und gescheit (wie immer) entwickelt.
Reisetagebuch (27. Juli 1967, 23.52 Uhr)
Ich habe schon gute Freunde, so ist das ja nicht! Aber ich habe keinen einzigen, mit dem ich mich über »die Themen des Lebens« unterhalten kann. Worüber reden wir denn? Viel über Sport, viel über bestimmte Sportler, manchmal über unsere Eltern, auch über Schüler aus den höheren Klassen (und ihren pseudo-erotischen Firlefanz). Über Frauen in unserem (oder etwas höherem Alter) reden wir übrigens ausgesprochen selten. Wir trauen uns nicht, oder wir wissen nichts dazu zu sagen. Wir starren die Frauen in unserem Alter von ferne an, als führten sie ein ganz anderes Leben und gingen geheimen Beschäftigungen nach, von denen wir noch nie gehört haben. Wir sind ›Schüler‹, sie aber sind keine ›Schülerinnen‹. Nein, sie sind ›junge Frauen‹, die selbst von den Lehrern (aus der Distanz) oft so angeschaut werden, als käme es vor allem darauf an, sie in Ruhe ihr eigenes Leben führen zu lassen.
Reisetagebuch (28. Juli 1967, 0.11 Uhr)
Ein einziges Mal bin ich mit einer Mitschülerin ins Kino gegangen. Es lief ein saudummer Tierfilm, und sie hatte mich vorher gefragt, ob ich sie begleiten würde, weil keine ihrer Freundinnen sich den Film anschauen wollte. Nach der Vorstellung ging ich mit ihr noch ein paar Schritte bis zur Straßenbahnhaltestelle. Eine kleine Gruppe von Mitschülern bekam uns zu sehen, blieb stehen und starrte uns an, als täten wir gerade etwas extrem Obszönes. Und dann riefen sie: »Na na na … – na na na!« (und es hörte sich an, als ließen wir uns gerade auf so verbotene Weise gehen, dass es nicht zum Anschauen und geradezu ekelhaft war …).
Nachdem ich diese Überlegungen fixiert hatte, widmete ich mich endlich Maros Nachrichten. Ich mochte die trockenen Meldungen überhaupt nicht mehr, und so schrieb ich sie einfach um und machte wieder ›Geschichten‹ daraus.
Historische Begegnung
Papst Paul VI. fliegt in wenigen Tagen nach Istanbul, um den Bischof von Konstantinopel zu treffen und mit ihm Gespräche über eine mögliche Annäherung der katholischen und der orthodoxen Kirche zu führen. Die Begegnung wurde schon lange geplant, scheiterte aber daran, dass keiner der beiden Kirchenfürsten den anderen zuerst aufsuchen wollte. So plädierte die römische Kurie dafür, dass Patriarch Athenagoras I. zuerst nach Rom kommen, und die Berater des Patriarchen rieten ihrem Oberhaupt wiederum, dass Paul VI. zuerst nach Konstantinopel kommen solle. Schließlich wurde es dem Papst zu bunt, und er meldete der Kurie: »Ich besuche nicht den Patriarchen von Konstantinopel, sondern reise dorthin, um mir in seiner Begleitung ›Ostrom‹ anzuschauen und endlich herauszubekommen, wo eigentlich Istanbul liegt.«
Französische Mode
Gilbert Feruch, Pariser Couturier, hat die neue Mode des Maolooks entworfen. Sie soll vor allem den Männern eine zwanglose, lockere Kleidung verleihen und von den Zwangsjacken der Vergangenheit befreien. Längst tragen auch die Beatles schlichte, einfarbige Jacken mit noch schlichteren Knopfleisten und Stehbündchen. Inzwischen gibt es sogar Mao-Smokings, und Birgitte Bardot überlegt, wie man eine entsprechende Mode für Frauen kreieren könnte. Gunter Sachs steht ihr mit Rat und Tat zur Seite, das passende Damenparfüm hat er bereits in Arbeit und testet den Duft in der Normandie. »Er hat etwas Herbes, Chinesisches«, ließ er verlauten, was den Filmregisseur Jean-Luc Godard derart gegen ihn aufbrachte, dass er sofort einen Film mit dem Titel Die Chinesin drehte. Provozierenderweise ist die Hauptdarstellerin erst sechzehn Jahre alt und Enkelin eines katholischen Nobelpreisträgers, was nun wiederum Brigitte Bardot fast zur Raserei brachte. ›Gib Ruhe, mein Täubchen‹, flüsterte Gunter Sachs, ›wir kontern bald mit Die Päpstin!‹
Verwirrung
Michelangelo Antonionis Film Blow Up, der gerade in Cannes die ›Goldene Palme‹ erhalten hat, verwirrt die Kritiker. Ein Mann ist ermordet worden – oder auch nicht. Seine Leiche liegt im Gebüsch eines Parks – oder auch nicht. Ein Fotograf hat die Leiche fotografiert – auch das war jedoch wohl nur ein Versehen. Eine junge Frau kommt zu ihm ins Atelier und fordert den Film zurück – und er gibt ihr einen Leerfilm. Was konnte besser zur Aufklärung dieser Rätsel beitragen, als jenen Schauspieler zu befragen, der den Toten im Film spielte? »Ich habe auch keine Ahnung, was da eigentlich los war«, sagte Ronan O’Casey auf Befragen durch Kritiker. »Anscheinend hat Antonioni die entscheidenden, aufklärenden Szenen einfach vergessen. Oder er hat sie nicht gedreht, weil ihm das Geld ausgegangen ist.« Michelangelo Antonioni, schließlich selbst zur Rede gestellt, antwortete nur knapp und lakonisch: »Ich hasse meine Filme und will nicht über sie sprechen.«