Kapitel 4

Montag, 10. März. 8.27 Uhr

Am nächsten Morgen trafen sich Steinmayr und Sonne zum Frühstück beim Bäcker im U-Bahn-Geschoss am Sendlinger Tor. Hier kreuzten sich ihre U-Bahnen auf dem Weg zur Arbeit, und beide mussten hier umsteigen, um das Morddezernat am Hauptbahnhof zu erreichen. Sonne war mit der U6 aus Freimann drei Minuten früher da, bevor Steinmayr, der in Thalkirchen direkt am Flaucher wohnte, die vier Stationen mit der U3 hinter sich gebracht hatte. Das Frühstück, das sie regelmäßig zum gemeinsamen kriminalistischen Grübeln hier beim Bäcker Müller an runden Stehtischen zu sich nahmen, bestand gewöhnlich aus einem Pappbecher Kaffee – für Steinmayr mit Milch und Zucker, für Sonne schwarz wie die Nacht – und jeweils einem Vanillekrapfen. Es war nicht ungesünder als die Mittagsverpflegung, die sie meistens vom »Wienerwald« direkt neben dem Polizeigebäude besorgten.

»Schon Zeitung gelesen?«, begrüßte Sonne seinen Kollegen.

»Nur die Süddeutsche. Und die bleibt in einem größeren Einspalter ziemlich nüchtern und sachlich.«

Sonne hatte gerade die ATZ mit der Schlagzeile »Mord beim Isarbullen – Was wirklich geschah« ausgepackt.

»Jetzt bin ich aber gespannt, was Litzka wieder rausgefunden hat«, sagte er. »Wenn er tatsächlich weiß, was wirklich geschah, dann haben wir ja nicht mehr viel zu tun.« Er stellte seinen Kaffeebecher zur Seite und las laut vor: »Trauer! Betroffenheit! Entsetzen! Zwei Tage nach dem schrecklichen Mord am Isarbullen-Regisseur Drahomir Tomasek ist die Bavaria-Filmstadt immer noch wie gelähmt. Die Mordkommission ermittelt nun im Umfeld der TV-Produktion sowie im Privatleben des Mordopfers.« Es folgten die Fakten aus dem Pressebericht der Polizei. Dann war zu lesen: »Der Isarbulle ist in den Brennpunkt polizeilicher Ermittlungen geraten. Erfahren Sie mehr über den Hauptdarsteller Alfons Waldbauer und seine Liebe zum Detail – im Lokalteil auf Seite 16.«

»Gib mal her«, sagte Sonne und nahm Steinmayr das Blatt aus den Händen. Er schlug die genannte Seite auf und las dort unter einem alten Szenenfoto, auf dem der Oberinspektor Grieshaber einen Täter abführte, der von Gert Fröbe gespielt wurde, folgenden Text:

»Alfons Waldbauer ist kein Schauspieler wie jeder andere. Für den 68-Jährigen gibt es seit 22 Jahren nur eine Rolle – und die brachte ihm die Auszeichnung ›Ehrenkommissar‹ der Münchner Polizei ein. ›Er ist sogar Mitglied der Polizeigewerkschaft‹, sagt Wachtmeister Alois Lechner im ATZ-Interview. Lechner ist polizeilicher Berater der Fernsehserie. Er lernte Waldbauer vor einigen Jahren bei einer Polizeikontrolle kennen – und ließ ihn laufen. Man kann den Isarbullen doch nicht festnehmen! Die Rolle des Inspektors Grieshaber ist Waldbauer zur zweiten Identität geworden. Zur ersten eigentlich, sagen Insider und Fernsehkollegen, denen die Detailverliebtheit des Stars längst über die Hutschnur geht. Er verwendet bei den Dreharbeiten nicht nur eine ›echte‹ Polizeidienstmarke, die ihm der Polizeipräsident anlässlich der 250. Folge als Dank für die positive Imagewerbung für die Münchner Polizei verliehen hat. Er besitzt seit acht Jahren auch einen Waffenschein und eine originale ...«

Sonne schluckte zweimal und blickte von der Zeitung hoch in das regungslose Gesicht von Steinmayr. Er musste die nächsten Worte nicht mehr vorlesen.

»Laut überarbeitetem Drehplan sind sie heute früh im Tierpark Hellabrunn. Verhaftungsszene vor dem Affenhaus«, erinnerte sich Sonne. »Zum Tierpark sind es nur fünf Stationen. Da sind wir mit der U-Bahn schneller, als wenn wir jetzt erst unseren Dienstwagen holen.«

»Das ist gleich bei mir um die Ecke«, stimmte Steinmayr zu, legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Theke und beide rannten die Rolltreppe hinunter zum Bahnsteig, um die nächste U3 Richtung Fürstenried-West zu bekommen. Im Berufsverkehr dauerte das Ein- und Aussteigen an den einzelnen Stationen länger als sonst: Goetheplatz, Poccistraße, Implerstraße, Brudermühlstraße ... immer wieder die monotonen Worte des türkischen U-Bahn-Fahrers: »Zusteigen! Zurückbleiben bitte! Vorsicht!« Leider konnten sie der U-Bahn kein Blaulicht aufsetzen. Dennoch waren sie in kurzer Zeit an der Station Thalkirchen, wo sich der berühmte Tierpark befand.

Das Kassenhäuschen passierten sie durch Zücken ihrer Dienstausweise. Sie ließen sich den kürzesten Weg zum Affenhaus erklären.

»Da san's, die Affen«, sagte Steinmayr, als er schon von Weitem die Scheinwerfer sehen konnte. Das Gelände vor dem mit Glas verkleideten Urwaldhaus war abgesperrt. Um die bronzefarbene Gorillafigur vor dem Gebäude waren Stromkabel verlegt. Viele wichtige Menschen und andere, die sich so vorkamen, wirbelten umher. Im Mittelpunkt des Interesses stand Oberinspektor Diether Grieshaber, der eine Waffe im Anschlag hielt und auf einen Zoo-Wärter zielte.

»Bleiben Sie stehen. Im Namen des Gesetzes, ich verhafte Sie wegen des Verdachts ...«, rief der TV-Inspektor dem Verdächtigen zu.

»Er besitzt seit acht Jahren auch einen Waffenschein und eine originale Polizeiwaffe«, wiederholte Sonne rennend die Worte aus dem Zeitungsartikel, während sie mit gezogenen Waffen auf das Filmteam zurannten.

»Du glaubst doch nicht, dass er mit einer scharfen Waffe hier bei den Dreharbeiten ...«

»Weiß man's?«, sagte Sonne schnaufend, als sie nur noch wenige Meter entfernt waren. »Wer sagt uns, dass hinter dem biederen Oberinspektor nicht ein psychopathischer Killer steckt?«

Und Steinmayr schrie: »Kripo München! Jeder bleibt an seinem Platz stehen und rührt sich nicht!«

Alle verharrten an ihrem Fleck, nur die Kamera lief weiter.

»Waldbauer, lassen Sie ganz langsam die Waffe sinken und legen Sie sie auf den Boden«, rief Sonne.

Waldbauer schien immer noch in seiner Rolle zu sein. Wie in Trance drehte er sich zu den Beamten, die Waffe immer noch gezogen.

Sonnes Stimme überschlug sich, als er schrie: »Fallenlassen! Sofort! Oder ich schieße!«

Er überlegte für Sekundenbruchteile, ob er einen Warnschuss abgeben sollte. Alles spielte sich in wenigen Augenblicken ab. Der Schauspieler, der den Tierpfleger spielte, hatte sich Waldbauer unbemerkt von hinten genähert. Nun konnte er ihm seelenruhig die Waffe aus der Hand nehmen.

Dann sagte Waldbauer, der immer noch neben sich zu stehen schien: »Meine Herren, was fällt Ihnen ein, hier die Dreharbeiten zu stören? Wissen Sie nicht, wie teuer es ist, eine Szene zu wiederholen?«

Steinmayr nahm die Waffe an sich und öffnete das Magazin. Sie war nicht geladen. Aber auf den ersten Blick stellte er fest: Es war eine Heckler&Koch P10, so wie sie zur Standardausrüstung der bayerischen Polizisten gehört.

»Herr Waldbauer, wir müssen Sie bitten, uns aufs Präsidium zu begleiten«, sagte Steinmayr.

»Bin ich verhaftet?«, fragte dieser leise.

»Nein, aber Sie haben uns einiges zu erklären. Bitte kommen Sie mit.«

Brock stand aus seinem Regiestuhl auf und rief: »Ich glaube, wir müssen diese Szene abbrechen.«

11.30 Uhr

Die tägliche Presserunde der Münchner Polizei musste an diesem Montag in den großen Augustinersaal verlegt werden. Selten waren die Fälle so spektakulär, dass auch Vertreter der überregionalen Medien durch den Hintereingang in der Augustinerstraße das Polizeipräsidium betraten. Am Kopf des Konferenzraumes hatten Kriminaloberrat Maurer und Staatsanwältin Staudinger vor dem großen Polizeiwappen an der Wand Platz genommen. Neben ihnen saß Martin Brandt, der Leiter der Pressestelle.

»Wenn Sie sich noch einen Moment gedulden würden«, sagte Brandt zu den wartenden Journalisten. »Der Leiter der Mordkommission, Herr Hauptkommissar Steinmayr, müsste jeden Moment hier sein.«

Unterdessen sorgte die junge Reporterin von Radio Charivari mit einer unfreiwilligen Slapstickeinlage für Kurzweil, als sie ihr Mikrofon, nachdem sie es vor Maurer aufgestellt hatte, mit einer ungeschickten Bewegung vom Tisch herunterriss und so ein fulminantes Geschepper verursachte. Maurer gab sich als Gentleman und half der Reporterin, den Kabelsalat zu entwirren, als Sonne statt Steinmayr den Raum betrat und sich neben Brandt setzte.

»Entschuldigung«, flüsterte er. »Wir hatten noch einen Einsatz, Kollege Steinmayr ist im Dezernat, wir haben den ...«

»Wir müssen anfangen«, unterbrach ihn der Pressesprecher leise und sprach dann laut zu den wissbegierigen Journalisten: »Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserer Pressekonferenz. Das Wort hat Kriminaloberrat Maurer.«

»Danke sehr«, ergriff Maurer das Wort. »Der Fall, über den wir heute reden, dürfte Ihnen bereits bekannt sein. Über den Sachstand vom Wochenende hinausgehend, kann ich Ihnen nur mitteilen, dass wir in alle Richtungen ermitteln, wir haben jedoch noch keine heiße Spur oder gar einen Tatverdächtigen.«

»Ich schlage vor, dass wir gleich die Fragerunde eröffnen«, sagte Brandt.

Josef Fillinger, der Polizeireporter des Bayerischen Rundfunks mit dem Spitznamen »Leichen-Sepp«, richtete seine Frage an die Staatsanwältin: »Gibt es schon Hinweise auf ein Motiv? Und wie brauchbar sind die Zeugenaussagen?«

»Auch hier kann ich nur wiederholen, was Herr Maurer bereits gesagt hat: Wir ermitteln in alle Richtungen.«

»Stochern Sie wirklich im Dunkeln oder wollen Sie uns nichts sagen?«, echauffierte sich der Redakteur vom Merkur.

Frank Litzka stellte die nächste Frage: »Welche Spur haben Sie im Tierpark verfolgt?«

»Im Tierpark?«, wiederholte Maurer, der über den jüngsten Einsatz noch nicht informiert war.

Jetzt hast du dich verraten, Bürschchen, dachte Sonne. Denn von dem Einsatz im Zoo konnte er nur über den Polizeifunk erfahren haben. Laut sagte er: »Wir sind einer Spur nachgegangen, die uns möglicherweise zur Tatwaffe führt.«

Unruhe breitete sich im Raum aus. Dies war eine Information, die für alle Anwesenden neu war. Maurer und Staudinger tuschelten leise miteinander. Sonne flüsterte: »Entschuldigung, aber ich konnte Sie nicht mehr erreichen. Ich komme gerade vom Einsatz. Steinmayr beginnt schon mit der Vernehmung ...«

Brandt schnitt ihm das Wort ab und unterbrach die Pressekonferenz für wenige Minuten. Er konnte nicht zulassen, dass von ihm nicht kontrollierte Informationen an Journalisten weitergegeben wurden. Und auch Maurer und Staudinger wollten jetzt wissen, was die Beamten im Tierpark ermittelt hatten. Sie traten kurz vor die Tür und schauten Sonne fragend an, der seine Erkenntnisse in wenigen Worten zusammenfasste: »Wir haben Waldbauer mitgenommen, er besitzt eine echte HK-P10, das Kaliber stimmt überein. Er hat auch eine Verbindung zum Opfer, die über das Filmgeschäft hinausgeht: Waldbauer macht Wahlwerbung für die Freie Liste, und für diese Partei sitzt Tomaseks Ehefrau im Stadtrat.«

»Das reicht nicht mal für einen halben Haftbefehl«, sagte Staudinger.

»Und stellen Sie sich den Skandal vor, wir würden den ›Isarbullen‹ festnehmen«, gab Maurer zu bedenken.

Brandt schlug vor: »Wir sollten als offizielle Lesart verkünden, dass Waldbauer noch einmal als Zeuge vernommen wird. Das mit der Waffe sollten wir noch nicht an die Öffentlichkeit geben.«

»Mit Ihrer Aussage, dass wir möglicherweise die Tatwaffe haben, haben Sie sich etwas weit aus dem Fenster gelehnt, Sonne«, sagte die Staatsanwältin. »Sprechen Sie das Thema auf der Pressekonferenz lieber nicht mehr an.«

»Wenn jemand nachfragt, sagen Sie, das hätten Sie so nicht gesagt, und es müsse sich um ein Missverständnis handeln«, riet Brandt.

Und Staudinger fügte hinzu: »Am besten bleiben wir dabei, dass wir in alle ...«

»... Richtungen ermitteln, ich weiß«, ergänzte Sonne. »Wenn wir nichts sagen wollen, warum geben wir dann überhaupt eine Pressekonferenz?«

»Weil wir sonst den ganzen Nachmittag Dutzende von Telefonanrufen mit denselben Fragen beantworten müssten«, erklärte der Pressesprecher.

»Jetzt kommen Sie, die Journalisten warten«, sagte Maurer und trat wieder in den Konferenzsaal. Als sich alle hingesetzt hatten, ergriff Brandt das Wort.

»Meine Damen und Herren, Herr Kriminaloberrat Maurer bringt Sie nun auf den neuesten Stand der Ermittlungen.«

»Nach wie vor ist der Täter unbekannt, ebenso das Motiv. Wir ermitteln intensiv vor allem im direkten Umfeld der Fernsehproduktion. In diesem Zusammenhang erhoffen wir uns von Herrn Waldbauer Auskünfte über das Privatleben des Opfers.«

»Warum ausgerechnet von Waldbauer?«, fragte »Leichen-Sepp«.

»Weil er schon viele Jahre mit Tomasek zusammengearbeitet hat«, antwortete Maurer.

»Welche Bedeutung hat es für Sie, dass Waldbauer eine echte Polizeiwaffe besitzt?«, fragte Litzka.

Staudinger antwortete sofort: »Wie Sie in Ihrem Artikel selbst geschrieben haben, besitzt er die Waffe legal und hat einen Waffenschein. Damit dürfte Ihre Frage beantwortet sein.«

Das war sie natürlich nicht. Ein anderer Journalist, der nicht zu den Stammkunden der täglichen Presserunde gehörte, stellte die nächste Frage: »Stimmt es, dass Tomasek seine Frau erpresst hat?«

»Ich weiß nicht, woher Sie diese Informationen beziehen. Ich kann sie daher nicht kommentieren«, sagte Staudinger.

Die Journalisten bemerkten offenbar, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr viel erfahren konnten, und fragten nicht weiter.

»Wenn es keine Fragen mehr gibt, bedanke ich mich für Ihr Interesse«, floskelte Brandt, und die enttäuschten Medienvertreter packten ihre Sachen zusammen. Die Charivari-Reporterin warf beim Abbauen diesmal auch noch den Mikrofonständer des Konkurrenzsenders Arabella zu Boden und verriet dabei entschuldigend, dies sei ihr erster Einsatz im Praktikum. Dann fragte sie die Staatsanwältin, ob sie noch für ein kurzes Radiointerview zur Verfügung stehe. Sie hatte gerade erst bemerkt, dass sie vergessen hatte, ihr Mikrofon einzuschalten.

Litzka und »Leichen-Sepp« verließen gemeinsam den Presseraum.

»Das war ja heute mal wieder nicht sehr ergiebig«, sagte Litzka.

Und Fillinger erwiderte: »Immerhin haben wir etwas Grundlegendes erfahren: Es wird mal wieder in alle Richtungen ermittelt.«

Litzka lachte: »Hoffentlich wird ihnen dabei nicht schwindelig.«

13.14 Uhr

Alfons Waldbauer saß wie versteinert auf einem Holzstuhl im fensterlosen, von einer flackernden Neonröhre erleuchteten Vernehmungszimmer des Morddezernats. Seinen Mantel hatte er nicht abgelegt. Er blickte an Steinmayr vorbei die beigefarben gestrichene Wand an. Gerade erzählte Waldbauer, wie er in den Besitz der Heckler&Koch gekommen war, als Sonne den Raum betrat.

»Die ersten Jahre haben wir mit Requisiten-Pistolen gearbeitet«, sagte er mit monotoner Stimme. »Die sehen zwar täuschend echt aus. Aber sie sind viel leichter und liegen nicht richtig in der Hand. Sie sind meist aus Plastik, und ein Kenner sieht am Fernsehschirm sofort, dass es Spielzeug ist.«

Sonne setzte sich wortlos neben seinen Kollegen und hörte den Ausführungen Waldbauers zu.

»Wie Sie wissen, bin ich vor einiger Zeit zum Ehrenkommissar der Münchner Polizei ernannt worden. Das ist nichts Außergewöhnliches, auch andere TV-Kommissare, zum Beispiel aus dem Tatort, haben diese Auszeichnung erhalten. Bei der Gelegenheit habe ich den damaligen Polizeipräsidenten Keller kennengelernt. Und er hat beim Innenministerium eine Ausnahmegenehmigung erwirkt, mit der ich eine echte Waffe bekommen konnte.«

»Aber einen Waffenschein brauchten Sie trotzdem«, stellte Steinmayr fest.

»Freilich. Den hatte ich schon. Schon in den ersten Jahren des ›Isarbullen‹ habe ich eine Schießausbildung gemacht, weil ich wissen wollte, wie man mit einer Pistole umgeht, und einen Waffenschein beantragt.«

»Besitzen Sie auch privat eine Waffe?«, fragte Sonne.

Waldbauer zögerte mit der Antwort. »Nein, nicht mehr«, sagte er dann.

»Was soll das bedeuten?«, bohrte Steinmayr nach.

Wieder wartete Waldbauer einen Moment, bis er mit der Sprache herausrückte.

»Ein Freund schenkte mir damals eine Pistole aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich glaube, sie hieß Walther P-38. Ob sie funktionierte, weiß ich nicht. Habe nie mit ihr geschossen. Als ich später erfuhr, dass es illegal war, sie zu besitzen, habe ich sie ...«, er hielt kurz inne, um dann hinzuzufügen, »... entsorgt«.

»Entsorgt?«, fragte Sonne.

»Ja, ich habe sie an der Wittelsbacher Brücke in die Isar geworfen.«

»Und besitzen Sie für die P10 Munition?«

»Nein. Wenn bei Dreharbeiten geschossen werden muss, dann ist das Sache unserer Fachleute für Spezialeffekte.«

»Und Ihr Freund Lechner? Der hätte Ihnen doch sicher irgendwie echte Patronen beschaffen können, oder?«, mutmaßte Sonne.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das erlaubt ist«, erwiderte Waldbauer trocken.

»Einen Menschen zu erschießen, ist auch nicht erlaubt. Dennoch ist es geschehen.« Sonne wurde lauter. »Dass es Kriminelle und Gesetzesbrecher gibt, wissen Sie doch nur zu gut. Oder warum machen Sie Wahlpropaganda für die Freie Liste?«

»Was hat das mit dem Mord zu tun?«, fragte Waldbauer.

»Sehr viel«, antwortete Steinmayr. »Schließlich werben Sie für die Ehefrau des Getöteten.«

»Zufall«, sagte Waldbauer. »Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Ich weiß nicht, was Sie mir damit unterstellen wollen!«

»Vielleicht Zufall. Vielleicht aber auch nicht. Das herauszufinden, ist unser Job. Seit wann werben Sie für die FLM und was bekommen Sie dafür?«

»Ich bekomme lediglich meine Aufwendungen erstattet, Fahrtkosten und so etwas. Ich tue dies aus Überzeugung. Seit zweiundzwanzig Jahren kämpfe ich gegen das Verbrechen. Aber nur auf dem Bildschirm. Ich wollte mich auch in der Realität engagieren.«

»Und wie ist der Kontakt zur FLM entstanden?«, wollte Steinmayr wissen.

»Als Lechner mich darauf ansprach, wusste ich gar nicht, dass Tomaseks Frau für die FLM im Stadtrat sitzt. Ich habe es erst erfahren, als ich Ehrengast auf einer Mitgliederversammlung war. Zwischen Tomasek und mir war das nie ein Thema.«

In diesem Moment betrat Kommissar Caliskan den Raum. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand und sagte nur: »Der Laborbericht.«

Er legte das Blatt vor Steinmayr auf den Tisch, der überflog den Text und reichte es an Sonne weiter. Zu Waldbauer sagte er: »Es sieht nicht gut aus. Unsere Ballistiker haben eindeutig nachgewiesen, dass Tomasek mit Ihrer Waffe erschossen wurde. Sie werden verstehen, dass wir uns das Alibi jetzt nochmal sehr genau anschauen werden, das Ihre Frau Ihnen gegeben hat.«

»Die Staatsanwaltschaft wird nun überprüfen, ob sie aufgrund der Indizien einen Haftbefehl beantragt«, sagte Sonne und gab Caliskan ein Zeichen.

»Ich hab das schon geklärt und mit der Staudinger gesprochen«, verkündete Caliskan und wandte sich an Waldbauer: »Sie können gehen, aber Sie dürfen die Stadt nicht verlassen. Halten Sie sich zu unserer Verfügung.«

Waldbauer konnte seine Situation offenbar noch nicht ganz fassen. Er stand auf und verließ grußlos den Raum.

»Warum beantragt die Staudinger keinen Haftbefehl?«, fragte Sonne Caliskan.

»Waldbauer ist ein Promi, ein Star. Sie will kein Risiko eingehen. Und Fluchtgefahr besteht wohl nicht bei einem Bekanntheitsgrad von achtundneunzig Prozent«, antwortete Caliskan. »Ich habe noch was für euch. Die Staudinger hat das Aktenzeichen gecheckt, das auf dem Zettel in Tomaseks Büro stand.«

»Und?«, fragten Steinmayr und Sonne, als ihr Kollege eine dramaturgische Kunstpause einlegte.

»Gegen die Lindinger-Tomasek lief mal ein Diebstahlsverfahren. Sie wurde beschuldigt, in einem Kaufhaus einen Dosenöffner, eine Sonnenbrille und ein Lederetui mitgenommen zu haben. Das Verfahren wurde gegen Zahlung einer Geldbuße wegen mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt. Zwei Jahre vorher wurde sie schon mal von einem Supermarkt angezeigt. Doch hier wurden die Ermittlungen sofort eingestellt, weil sie das Bezahlen einfach nur vergessen hatte, wie sie später aussagte.«

»Ist ja hochinteressant«, sagte Steinmayr. »Unsere Law-and-Order-Frau im Rathaus ist also eine Ladendiebin.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sonne.

»Bevor wir der Freien Liste einen Besuch im Rathaus abstatten, sollten wir noch dieses Manuskript von Tomasek unter die Lupe nehmen. Da kann uns am besten jemand vom Filmteam helfen, der Tomaseks Handschrift kennt und uns den Inhalt des Papiers erläutern kann. Dieser Brock vielleicht?«

»Oder Ulrike Gellner?«, schlug Sonne vor. »Am besten fahre ich gleich hin.«

»Meinetwegen«, sagte Steinmayr. »Und wenn du mit der schönen Ulrike fertig bist, holst du mich ab und wir fahren zusammen ins Rathaus. Okay?«

14.51 Uhr

»Ich glaube nicht, dass er der Richtige für mich ist«, sagte Ulrike Gellner.

Sie hatte ein verweintes Gesicht. Sonne sah die Tränen in ihren Augen. Er beobachtete, wie Ulrike und ihre Freundin Natalina Faraldo in einer leer stehenden Produktionshalle auf einem Holzpodest saßen. Leise hockte er sich hinter eine Kulissenwand und startete einen inoffiziellen Lauschangriff, ohne richterliche Genehmigung, dafür mit einer gehörigen Portion Neugier.

»Und warum wolltest du das Kind nicht?«, hörte Sonne Natalina fragen.

»Denk doch mal nach! Ich stehe vor dem Sprung von der Daily ins ernsthafte Schauspielerfach, habe meine ersten seriösen Rollen. Ich habe mich nicht jahrelang zur blonden Dumpfbacke abstempeln lassen, um jetzt alles aufzugeben! Glaubst du, ich könnte drei Jahre Babypause einlegen und dann wiederkommen und sagen: Hallo, da bin ich wieder, ich hoffe, ihr habt mir meinen Job frei gehalten. Außerdem bin ich dann fast dreißig. Dann ist der Zug für mich abgefahren. Meine Chance ist jetzt!«

»Und deswegen hast du dein Kind abtreiben lassen? Du hast doch immer gesagt, dass du mal ein Kind haben willst.«

»Natalina, glaubst du, das ist mir leichtgefallen? Natürlich möchte ich mal ein Baby. Aber nicht jetzt. Ich lebe erst mal mein Leben.«

»Und was sagt Jörg dazu?«

Ulrike schluckte. Nach einem kurzen Moment sagte sie: »Er weiß nichts davon.«

»Mensch Ulrike, du bist doch total durchgeknallt! Du lässt dir von ihm ein Kind machen, dann lässt du es wegmachen, und dein Freund hat keinen blassen Schimmer von gar nichts?«

»Ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob er der Mann ist, der der Vater meiner Kinder sein soll«, sagte Ulrike. »Es ist in letzter Zeit alles so anders mit ihm geworden. Er zeigt ständig so ein demonstratives Desinteresse an mir und meinem Beruf. Die Folge, in der ich zum ersten Mal mitgespielt habe, hat er sich gar nicht angesehen, weil er Kegelabend mit seinen Kollegen von der Bepo hatte.«

»Bepo?«

»Er ist doch seit drei Monaten bei der Bereitschaftspolizei in Bamberg stationiert. Er hat dort Schichtdienst rund um die Uhr und meistens dann frei, wenn ich Drehtage habe. Wir sehen uns kaum noch. Wir bräuchten eigentlich keine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Schwabing. Ein Appartement mit einem Bett würde reichen. Es ist eh immer nur einer daheim.«

»Aber ihr wart doch vorher auch glücklich, obwohl es eine Fernbeziehung war: er auf der Polizeiakademie in Ainring und du im Studium in Wuppertal.«

»Ja, aber als wir uns kennenlernten war ich zweiundzwanzig und er zwanzig. Ich fand ihn damals süß, und ich mag ihn ja heute noch. Aber ich will einen Mann, kein Bübchen. Und ich muss doch an meine Karriere denken. Ein TV-Moderator oder ein Popsänger würde mir sicher besser stehen als ein Bereitschaftspolizist.«

»Oder ein Fernsehregisseur«, meinte Natalina, die jedoch sofort merkte, dass der Scherz bei Ulrike nicht besonders gut ankam. Sie redete schnell weiter: »Du willst also einen Star als Freund, damit du in die Schlagzeilen kommst?«

»Das ist doch Unsinn. Natürlich wäre es nicht schlecht, mal ein paar Wochen an der Seite von Oli Kahn zu verbringen, so als PR-Aktion. Wie die Jenny Elvers es mit dem Lauterbach gemacht hat. Und die Verona ist doch auch nur durch Dieter Bohlen berühmt geworden. Aber was ich brauche, ist ein Mann, der mir zuhört, der mir Rückhalt gibt, der für mich da ist und dem nicht ich das Leben erklären muss. Verstehst du?«

»Du willst dich von Jörg trennen, weil er unter deinem Niveau ist? Diva, komm mal wieder runter. Und pass auf, dass du nicht hochmütig wirst. Du bist nicht die Ferres!«

Ulrike sprang auf. »Du glaubst also auch nicht an meine Zukunft! Dachte ich's mir doch. Und ich glaubte, du wärst meine Freundin. Ich dachte immer, wir könnten über alles reden, und ich könnte dir alles sagen. Aber danke, auf solche Freundschaften kann ich verzichten! Deine Moralpredigten brauche ich nicht!«

»Hey, warum so theatralisch?«, versuchte Natalina, ihre Freundin zu beruhigen. Aber Ulrike hatte wieder Tränen in den Augen und stürmte davon.

»Ulrike, jetzt lauf doch nicht weg«, rief ihr Natalina hinterher. »So hab ich das doch nicht ...«

Sonne richtete sich blitzschnell auf, so als hätte er die Halle just in diesem Augenblick betreten. Ulrike lief ihm beinahe in die Arme.

»Ah, der Herr Kommissar«, sagte sie und setzte ein gespieltes Lächeln auf. Das beherrschte sie als Schauspielerin. Aber auch wenn Sonne das vorhergegangene Gespräch nicht belauscht hätte, wäre ihr Gemütszustand nicht nur aufgrund ihres verwischten Makeups unschwer zu erkennen gewesen.

»Frau Gellner, wie geht es Ihnen? Schön, Sie zu sehen. Ich wollte zu Ihnen. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«

Sie zögerte. »Ja. Kommen Sie mit zu Hilde? Ich kann jetzt einen Kaffee gut gebrauchen.«

»Hilde?«, fragte Sonne.

»Hier gegenüber, ›Hildes Filmcafé‹«, sagte Ulrike und deutete auf das kleine Lokal auf dem Bavaria-Gelände.

»Gerne. Aber nur, wenn ich Sie einladen darf.«

15.21 Uhr

»Sind sie öfters hier?«, fragte Sonne und vernaschte den Keks, der auf der Untertasse seines Kaffees beigelegt war.

»Ja, regelmäßig. Hilde ist eine Institution hier auf dem Filmgelände. Sie macht das Catering bei den Dreharbeiten. Und nebenher betreibt sie ihr Filmcafé.«

»Ist das Hilde?«, fragte Sonne und zeigte auf eine etwa siebzigjährige große, hagere, schwarzhaarige Frau hinter der Theke.

»Ja«, sagte Ulrike. »Und wissen Sie was? Sie war vor fast fünfzig Jahren das erste Playmate im deutschen ›Playboy‹. Ich habe sie auf einer Party kennengelernt. Eine tolle Frau, hat viel durchgemacht ... Ich war ja auch mal Playmate, wie Sie sicher schon gehört haben ...«

Er dachte nicht länger darüber nach, wie ein Topmodel zu einer Café-Besitzerin wird, sondern wandte sich wieder seinem Fall zu: »Frau Gellner, vielleicht können Sie mir helfen. Wir haben in Tomaseks Büro ein Papier mit Aufzeichnungen gefunden. Es geht um den ›Isarbullen‹. Können Sie damit etwas anfangen?« Er holte das zusammengefaltete Blatt hervor und legte es auf den Tisch.

Sie überflog es kurz und sagte sofort: »Ja, das ist das neue Konzept. Die Serie sollte etwas jugendlicher und moderner werden.«

»Jugendlicher? Mit einem Hauptdarsteller im Rentenalter?«

»Natürlich steht Waldbauer als Star nicht in Frage. Er kommt ja laut Meinungsumfragen auch bei den jüngeren Zuschauern gut an, verkörpert eine Vater- oder sogar Großvaterfigur. Tomaseks Idee war es, ihm einen jüngeren Assistenten zur Seite zu stellen – oder sogar eine Assistentin. Der oder die könnte dann mal in eine Schlägerei verwickelt werden und den Geschichten etwas mehr Action geben. Vielleicht könnte der ›Isarbulle‹ mit einer Assistentin sogar eine kleine Affäre anfangen. Aber ich fürchte, das würde der Sender nicht durchgehen lassen.«

»War dieses Konzept schon von irgendjemandem abgesegnet oder ausdiskutiert?«, fragte Sonne und bemühte sich, nicht allzu häufig in ihre tiefblauen Augen zu schauen. Denn alle Frauen, in die er sich bislang verliebt hatte, hatten ihn zuerst immer mit den Augen um den Verstand gebracht.

»Nicht offiziell. Er hatte wohl mit Silbermann schon drüber gesprochen. Und er machte aus seinen Ideen kein Geheimnis, erzählte seine Pläne bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.«

»Und was sagte Waldbauer dazu?«

»Begeistert war er natürlich nicht. Er steht auf dem Standpunkt: Die Serie ist erfolgreich, und daher muss nichts geändert werden. Doch mit der Weiter-so-Mentalität ist er im Team ziemlich allein.«

»Daher der Streit mit Tomasek am Tattag?« Sonne konnte ihren Augen nicht mehr ausweichen. Für Sekundenbruchteile trafen sich ihre Blicke, und er schaute sofort wieder weg. Ihm schien, als hätte er in ihrem Gesicht so etwas wie ein Lächeln wahrgenommen.

»Ja, es kam aus diesem Grund öfters zu Meinungsverschiedenheiten.«

»Mal ganz direkt gefragt ...«, sagte Sonne. Zwar wären ihm jetzt noch ein paar andere direkte Fragen eingefallen, doch blieb er rein dienstlich: »Können Sie sich vorstellen, dass dieser Streit ein Mordmotiv sein könnte?«

»Ich kann nicht in Köpfe hineinschauen«, antwortete sie. »Aber soweit ich Waldbauer bislang kennengelernt habe, scheint er in manchen Punkten durchaus krankhafte Züge an sich zu haben. Ich will nicht ausschließen, dass es da in seinem Hirn irgendwo versteckt einen kleinen Defekt gibt, der ihn ...« Sie sprach nicht weiter.

»... zum Mörder macht?«, vervollständigte Sonne den Satz.

Sie nickte. Nach einem kurzen Moment fügte sie leicht verschämt hinzu: »Wissen Sie was? Für einen Hauptkommissar sind Sie verdammt nett.«

Sonne errötete leicht. Damit hatte er nun nicht gerechnet.

16.19 Uhr

»Was ist das denn?«, fragte Steinmayr seinen Kollegen, der den Dienstwagen über die Zweibrückenstraße in Richtung Marienplatz lenkte. Er zeigte auf die Autogrammkarte, die Sonne auf die Ablage zwischen Sprechfunk und Handbremse gelegt hatte.

»Ach, das habe ich mir für meine Nichte geben lassen«, sagte Sonne beiläufig und legte das Foto von Ulrike Gellner beiseite.

»Erstens habe ich noch nie gehört, dass du eine Nichte hast. Und zweitens: Warum steht dann über der Unterschrift ›Für Jürgen‹?«

»Ein Missverständnis«, startete Sonne den Versuch einer Rechtfertigung. Er war froh, dass er schnell das Thema wechseln konnte, als er an der Ecke zur Küchelbäckerstraße einen Parkplatz entdeckte. »Hier, den nehmen wir«, rief er, und mit einigem Lenk- und Rangieraufwand gelang es ihm, rückwärts in die winzige Lücke einzuparken. Es waren noch einige Schritte, die sie zu Fuß bis zum Rathaus am Marienplatz zurücklegen mussten.

»Hast du von der Gellner denn etwas erfahren, was uns bei unseren Ermittlungen weiterbringt?«

»Ja, sie hat Zoff mit ihrem Freund, eine richtige Krise.«

»Jürgen, ich sagte: etwas, das uns bei unseren Ermittlungen weiterbringt, nicht bei deinen peinlichen Flirtversuchen.«

»Lass mich doch mal ausreden. Also: Sie hatte vor ein paar Wochen eine Abtreibung, ihr Freund weiß aber nichts davon. Sie überlegt, ob sie ihn sitzen lassen soll. Sie will sich etwas Besseres zulegen. Ein Bereitschaftspolizist ist ihr nicht gut genug.«

»Was für eine Diva! Da wäre ein Hauptkommissar ja zumindest schon mal eine Steigerung.«

Sonne ignorierte die Bemerkung.

»Und wer ist der Vater?«, fragte Steinmayr.

Sonne zuckte mit den Schultern. »Davon war keine Rede.«

Am Marienplatz betraten sie durch den Haupteingang, den Pförtner freundlich grüßend, das den ganzen Platz dominierende Gebäude, das der Grazer Architekt Georg von Hauberrisser zwischen 1867 und 1908 in Protz und Prunk errichtet hatte. Über das dunkle Treppenhaus kamen sie in den ersten Stock, wo die Freie Liste ihre Fraktionsgeschäftsstelle hatte.

»Grüß Gott, wir hatten uns angemeldet«, sagte Steinmayr und zeigte seinen Dienstausweis.

»Ja, ich weiß«, antwortete die Sekretärin, die in einem großen Aktenberg zu versinken drohte. »Einen Moment, bitte«, sagte sie und suchte unter ihrem Papierkram das Telefon, das sie zwar hören, aber nicht sehen konnte. Unaufgefordert setzten sich Steinmayr und Sonne auf die beiden Besucherstühle neben der Tür. Das Fraktionsbüro wurde von einem Chaos beherrscht, das man bei einer Recht-und-Ordnung-Partei in dieser Form nicht erwartet hätte. An der Wand hingen mehrere Wahlplakate, einige zeigten Lindinger-Tomasek als Spitzenkandidatin, auf anderen warnte der »Isarbulle« vor Kleinkriminellen und Drogenhändlern. Es wurde nicht deutlich, ob es sich um Waldbauer oder Inspektor Grieshaber handeln sollte. Auf allen Plakaten stand in prägnanten roten Buchstaben der Slogan »Mit Sicherheit für München«.

»Entschuldigen Sie«, sagte die Sekretärin, als sie das Telefonat beendet hatte. »Frau Lindinger hat gerade noch eine Besprechung. Wenn Sie sich noch ein paar Minuten gedulden könnten? Leider ist die Kaffeemaschine kaputt, aber ich kann Ihnen ein Wasser anbieten. Oder einen Tee?«

Die Kommissare lehnten dankend ab.

»Aber vielleicht können Sie uns etwas über Ihre Chefin erzählen«, sagte Steinmayr. »Wieso sitzt sie schon wieder im Büro? Drei Tage, nachdem ihr Mann ermordet wurde?«

»Sie ist eine gewissenhafte Frau. Und die bevorstehende Kommunalwahl duldet keine Trauerpause. Ich denke, dass Arbeit die beste Trauerbewältigung ist.«

»Wissen Sie, ob ihr Mann sich auch für ihre politische Arbeit interessierte?«, fragte Steinmayr.

»Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so, dass wir hier etwas davon mitbekommen hätten.«

»Wie viele Mitarbeiter hat denn Ihre Ratsfraktion?«, wollte Sonne wissen.

»Formal sind wir ja gar keine richtige Fraktion. Neben Frau Lindinger gibt es mit Doktor Böttinger noch einen Abgeordneten. Die beiden sind in den Stadtrat eingezogen, weil es in Bayern auf kommunaler Ebene keine Fünf-Prozent-Hürde gibt. Das führt dann dazu, dass diese verrückten Homos mit ihrer Rosa Liste im Rat sitzen dürfen. Oder dieser wahnsinnige Rechtsanwalt, der immer Bäume besetzt und Großkonzerne verklagt. Sie wissen schon ... Was hatten Sie gleich gefragt? Ach ja, hier im Büro arbeiten außer mir noch eine Sachbearbeiterin und eine Schreibkraft.«

In diesem Moment wurde die Tür zum Büro von Lindinger-Tomasek geöffnet. Zur Überraschung der beiden Polizisten verließ Holger Brock, der Regieassistent, den Raum.

»Herr Brock, mit Ihnen hätten wir hier nicht gerechnet«, sagte Steinmayr. »Werben Sie jetzt auch für die Freie Liste?«

»Nein, sicher nicht«, antwortete Brock. »Ich bin auf der Suche nach Unterlagen von Tomasek, die nicht in seinem Büro zu finden sind. Silbermann hat mich beauftragt, das neue Konzept für die Serie weiterzuentwickeln. Dazu hatte Tomasek schon einen Entwurf aufgeschrieben. Aber Frau Lindinger-Tomasek hat ihn auch zu Hause nicht gefunden.«

»Den haben wir«, sagte Sonne und holte das Papier aus seiner Jackentasche. »Wenn es wichtig für Sie ist, kann Ihnen Frau ...«, er deutete auf die Sekretärin, »sicher eine Kopie machen. Das Original aber bleibt bei uns.«

»Holzheu«, nannte die Sekretärin ihren Namen und nahm bereitwillig das Schriftstück an sich, um eine Fotokopie davon zu machen. Brock bedankte und verabschiedete sich, dann betraten die beiden Beamten das Büro.

Vom Fenster aus konnte man direkt auf den Marienplatz blicken, in dessen Mittelpunkt die 1638 errichtete Mariensäule stand, die aber längst im Schatten des Kaufhofs unterging, den nicht nur Münchner Touristen als architektonischen Missgriff empfanden.

»Nehmen Sie Platz, meine Herren«, sagte Frau Lindinger-Tomasek, während sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte. »Wenn Sie von mir Trauerarbeit erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Die Arbeit steht hier im Moment mehr im Mittelpunkt als die Trauer.«

»Wusste Ihr Mann eigentlich, dass gegen Sie mal wegen Ladendiebstahls ermittelt wurde?«, fiel Sonne mit der Tür ins Haus. Er wollte sich die Höflichkeitsfloskeln und das Vorgeplänkel diesmal sparen. Lindinger-Tomasek stockte.

»Nein, davon hat keiner etwas gewusst. Es war ja auch alles ein Missverständnis damals.«

»Und wie erklären Sie sich dann, dass Ihr Mann das Aktenzeichen des Ermittlungsverfahrens kannte und sich sogar die Durchwahl des zuständigen Staatsanwalts auf einen Zettel notiert hatte?«, bohrte Steinmayr nach.

Sie schwieg und senkte ihren Blick auf eine Unterschriftenmappe, die auf ihrem Schreibtisch lag. »Er hat Sie erpresst! Geben Sie es zu!«, fuhr Sonne sie an. »Was würde denn passieren, wenn diese Sache an die Öffentlichkeit geriete? Egal, ob was dran war oder nicht?«

Lindinger-Tomasek schwieg weiter, und Sonne beantwortete seine Frage selbst: »Ihre politische Laufbahn wäre am Ende gewesen! Oder glauben Sie, jemand würde eine Ladendiebin wählen, die gegen Kriminalität und für Recht und Ordnung kämpft?«

»Dies ist eine alte Geschichte«, sagte sie nun. »Die Ermittlungen wurden nicht ohne Grund wieder eingestellt. Und wenn Sie die Akten gelesen haben, dann wissen Sie auch, dass ich mich damals in Behandlung begeben habe.«

»Kleptomanie?«, fragte Steinmayr.

»Nennen Sie es, wie Sie möchten. Ich bin jedenfalls geheilt, sagt mein Therapeut. Und daher gibt es keinen Grund mehr, über dieses Thema zu reden. Weder juristisch noch medizinisch.« Und nach einem Moment fügte sie hastig hinzu: »Oder wollen Sie mir vielleicht ein Mordmotiv unterstellen?«

»Das ist unser Beruf, Frau Lindinger-Tomasek«, entgegnete Steinmayr. »Wenn Ihr Mann Sie erpresst hat, dann sollten Sie es sagen. Denn wenn wir es später herausfinden, dann haben wir wirklich ein Mordmotiv und werden uns fragen, warum Sie uns jetzt und hier angelogen haben.«

Frau Lindinger-Tomasek atmete tief durch. Dann bekannte sie: »Natürlich wusste er von meiner Therapie. Und als wir mal einen heftigen Streit hatten, da hat er so was gesagt im Sinne von: Wenn er der Presse zuspiele, dass ich Kleptomanin sei ... und so weiter. Aber das hat er nicht so gemeint. Er war ein aufbrausender Typ. Er sagte so etwas schnell. Ich habe davor keine Angst gehabt.«

»Aber Sie wären mit dieser Information erpressbar«, sagte Sonne. »Gibt es jemand anderen, der Sie unter Druck setzt?«

»Nein, wie ich schon sagte: Niemand weiß von dieser Geschichte. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe noch viel zu tun ...«

»Wir wollten eh gerade gehen«, verkündete Steinmayr.

Als sie das Rathaus verließen, schlug es gerade siebzehn Uhr. Unterhalb des Rathausturms begann das berühmte Glockenspiel zum dritten Mal an diesem Tag damit, die Geschichte vom Turnier anlässlich der Hochzeit Herzog Wilhelms V. mit Renata von Lothringen im Jahr 1568 und des Schäfflertanzes zu erzählen. Leicht belustigt beobachtete Sonne, wie die in der Vorsaison bereits in der Stadt weilenden Touristen andächtig das Geschehen in dem achtzig Meter hohen Turm verfolgten und im Anschluss an die Darbietung der Glockenspielfiguren sogar Applaus spendeten.

»In solchen Momenten würde ich am liebsten ein T-Shirt anziehen mit der Aufschrift: Ich bin kein Tourist – Ich wohne hier«, witzelte Sonne.

»Schön, dass du dich schon wie ein richtiger Münchner fühlst – aba des sicht ma dir auf hundert Mätta o, dass du a Zuagroasta bist, des konnst ma glaum!«

17.11 Uhr

»Der Isarbulle hat mich zum Krüppel gemacht«, stand in großen Lettern über dem Text. »Von Frank Litzka«, in etwas kleineren Buchstaben darunter.

»Heute ist Barbara M. 36 Jahre alt. Sie sitzt im Rollstuhl, kann nur noch den Kopf bewegen: querschnittsgelähmt. Ein schrecklicher Unfall vor 30 Jahren veränderte ihr Leben, das sie um ein Haar verloren hätte. Das Kind spielte vor dem elterlichen Haus mit dem Ball. Er rollte auf die Straße. Das Mädchen lief hinterher. An das, was dann geschah, kann sich Barbara M. heute nicht mehr erinnern. ›Ich lag zwei Wochen im Koma‹, erzählt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Doch die Polizei hat das Geschehen exakt rekonstruiert.«

»Fällt dir kein besseres Wort ein als rekonstruiert«, sagte Chefredakteur Lohmann zu Litzka. »Wir sind doch nicht die FAZ. Frage dich bei jedem Wort, ob es deine Oma auch versteht.«

»Schreiben wir ›nachgezeichnet‹«, schlug der Reporter vor, der sich nicht auf eine Diskussion über den Intelligenzquotienten und den Wortschatz seiner Großmutter einlassen wollte.

Und Lohmann las weiter. »... doch die Polizei hat das Geschehen exakt nachgezeichnet. Das spielende Kind wurde von einem Opel Rekord erfasst und in den Straßengraben geschleudert. Am Steuer: Alfons Waldbauer. Heute besser bekannt – ja weltbekannt – als der ›Isarbulle‹. Der damals unbekannte Theaterschauspieler war nach Informationen dieser Zeitung nicht ganz nüchtern, als der folgenschwere Unfall passierte. Darum beging er Fahrerflucht. Das schwer verletzte Kind ließ er leblos am Straßenrand zurück. Aufgrund von Zeugenaussagen wurde der Fahrer bald gefasst und es wurde ihm der Prozess gemacht. Er musste 50.000 Mark Schmerzensgeld bezahlen sowie eine Geldstrafe von 10.500 Mark wegen schwerer Körperverletzung. Der ›Isarbulle‹ ist vorbestraft. Und sein Opfer hat er nie kennengelernt. Barbara M. ist verbittert. ›Er hat sich mit ein paar Geldscheinen freigekauft. Aber mein Leben hat er zerstört. Der Isarbulle hat mich zum Krüppel gemacht.‹«

»Sehr schön«, sagte Lohmann. »So habe ich mir das vorgestellt. Kompliment, wie du diese Frau in so kurzer Zeit aufgetrieben hast, Flitzer.«

Das ging Litzka runter wie Öl. Auch wenn er die Geschichte nicht ganz ohne Skrupel geschrieben hatte.

»Sie sind der Chef, Herr Lohmann«, sagte Litzka. »Aber ganz sauber ist das nicht, so eine alte Geschichte wieder aufzuwärmen. Der Mann ist schließlich rechtskräftig verurteilt und hat für seine Tat gebüßt. Und das ist dreißig Jahre her ...«

»Wenn die Fakten an deiner Story stimmen, ist sie okay. Waldbauer ist ein Promi, eine Person der Zeitgeschichte. Da muss er damit leben, dass die öffentliche Moral an ihn andere Maßstäbe anlegt als an einen Durchschnittsbürger. Und erst recht, wenn er in seiner Rolle die personifizierte Gerechtigkeit darstellt«, sprach Lohmann, der gelegentlich die öffentliche Moral mit seinem Blatt gleichsetzte, und fügte hinzu: »Weiter so, Flitzer. Den ›Isarbullen‹ machen wir fertig!«

19.41 Uhr

Steinmayr und Sonne saßen im »Thalkirchner«. Sie mochten dieses Lokal an der Ecke von Urban- und Brudermühlstraße, das schon lange kein Geheimtipp mehr war, beide sehr. Steinmayr wegen des überragenden »Thalkirchner Schnitzels in der Senfkruste« und Sonne wegen der Kellnerinnen, die nicht nur nett, sondern auch außerordentlich nett anzuschauen waren.

»Dienst oder Schnaps?«, fragte Sonne, und Steinmayr blickte auf die Uhr, die der offiziellen Dienstzeit zufolge bereits die dritte Überstunde anzeigte.

»Dienst jedenfalls nicht mehr«, sagte er und bestellte ein Weizenbier sowie das obligatorische »Thalkirchner Schnitzel«. Sonne orderte ein Helles und Kässpätzle. Sein Blick hing noch an der Küchentür, als die blonde Bedienung mit dem engen T-Shirt und dem Bauchnabelpiercing schon längst mit der Bestellung in der Küche verschwunden war.

»Kinderschänder«, sagte Steinmayr, der anscheinend die Gedanken seines Kollegen lesen konnte. »Das Mädchen ist höchstens sechzehn!«

Sonne überging die Bemerkung. »Lass uns nochmal die Alibis und die Tatmotive durchgehen«, kam er wieder aufs Dienstliche zurück.

Steinmayr zückte sein Notizbuch.

»Fangen wir mal mit Waldbauer an.«

»Er hat ein Alibi, das ihm seine Frau gegeben hat und das damit auf sehr wackligen Füßen steht. Motive wären denkbar. Vielleicht der Streit um das neue Konzept des ›Isarbullen‹.«

»Und vielleicht ist er auch ein bisschen durchgeknallt«, sagte Sonne. »Ich hab jedenfalls schon das Gefühl, dass in seinem Schrank nicht alle Tassen an der richtigen Stelle stehen.«

»Nicht zu vergessen: Ihm gehört die Tatwaffe.«

»Allerdings sehe ich keine Möglichkeit, wie er an die Polizeimunition gekommen sein soll.«

»Brock, der Regieassistent«, las Steinmayr den nächsten Namen in seinen Notizen vor.

»Das chinesische Restaurant, wo er die Ente bestellt hat, konnte seine Angaben bestätigen.«

»Du meinst, sie konnten bestätigen, dass zur Tatzeit jemand in Brocks Wohnung war, die Tür geöffnet und die ›Ente süß-sauer‹ entgegengenommen und bezahlt hat«, präzisierte Steinmayr.

»Auch keine schlechte Idee, sich ein Alibi zu verschaffen. Meinst du, wir brauchen eine Gegenüberstellung zwischen Brock und dem Boten von ›Chinatown‹?«

»Nicht, solange es keinen dringenden Verdacht gegen Brock gibt«, sagte Steinmayr. »Das einzige denkbare Motiv wäre Karrieresucht. Aber er konnte nicht ahnen, dass Silbermann ihm die Regie für die restlichen Dreharbeiten übertragen würde. Und wahrscheinlich hat er Recht, wenn er sagt, dass er beim nächsten Dreh wieder der Assi ist.«

Die Bedienung brachte das Weizen und das Helle. Sonne würdigte sie demonstrativ keines Blickes. Schließlich wollte er sich kein zweites Mal der gedanklichen Verführung Minderjähriger bezichtigen lassen. Aber er war sicher, dass die Kellnerin es drauf anlegte, sich von Blicken ausziehen zu lassen, was sich vermutlich beim Trinkgeld bemerkbar machte. Sonne prostete Steinmayr zu.

»Wen haben wir noch?«

»Tomaseks Frau. Eine seltsame Person, findest du nicht?«

»Wenn es stimmt, dass ihr Mann sie mit ihrer Kleptomanie erpresst hat, dann wäre das wirklich ein mögliches Motiv. Ihre politische Laufbahn wäre damit am Ende.«

»Und dass es mit ihrer Ehe nicht zum Besten stand, ist offenkundig.«

»Ja, aber das reicht noch nicht für einen Mord. Im Normalfall.«

»Ein Mord ist nie ein Normalfall.«

»Klugscheißer!«

Sie lachten.

»Jedenfalls ist ihr Alibi nicht schlecht. Dass sie auf dieser Tagung in Rom war, lässt sich nachweisen«, sagte Steinmayr.

Zu Sonnes großer Enttäuschung brachte der Koch persönlich die Speisen an den Tisch.

Steinmayr machte sich sofort über das Schnitzel her und drückte sein Bedauern darüber aus, dass die Pommes seit dem Dienstantritt des neuen Kochs nicht mehr mit Kartoffelschale serviert wurden. In dem gemütlichen Lokal hatten sich allmählich die Plätze gefüllt. Auch werktags war es hier jeden Abend voll. Und zu vorgerückter Stunde waren die Cocktails des irischen Barmixers sehr begehrt.

»Meinst du, dieser Polizist, dieser Lechner, hat was mit der Sache zu tun?«, fragte Sonne.

»Eigenartig ist es schon, dass er in der Freien Liste engagiert ist und auch mit den Dreharbeiten zu tun hat.«

»Außerdem ist er der einzige Polizist, auf den wir bislang bei den Ermittlungen gestoßen sind«, sagte Sonne und trank sein Bier aus.

»Und was ist mit dem Typen von deiner Ulrike? Der ist doch bei der Bepo, sagtest du.«

»Erstens ist das nicht meine Ulrike«, echauffierte sich Sonne und fügte in Gedanken ein »leider« hinzu. »Und zweitens sehe ich zwischen ihm und dem Fall keine Verbindung.«

»Was ist, wenn die Gellner was mit Tomasek hatte? Der Knabe schien ja nicht gerne etwas anbrennen zu lassen. Und wer weiß, wie sie an ihre Rolle gekommen ist ... Man hört ja so manches im Showgeschäft.« Steinmayr schmunzelte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ulrike Gellner mit diesem alten Knacker ins Bett gestiegen ist. Sie macht einen durchweg soliden Eindruck auf mich.«

»Aber von ihrem Freund würde sie sich trennen, wenn's um die Karriere geht?«, erinnerte Steinmayr Sonne an die belauschten Informationen aus dem Gespräch mit Natalina Faraldo. Doch Sonne fiel es schwer, sich die bildhübsche junge Frau als Mörderin vorzustellen.

Inzwischen waren beide beim dritten Bier angelangt. Die Kellnerin nahm die leeren Teller wieder mit.

»Noch zwei Ramazzotti«, bestellte Sonne. Er war froh, dass er mit der U-Bahn nach Hause fahren konnte. Steinmayr hingegen hatte es nicht mehr weit. Bis zu seiner Wohnung in der Hans-Preißinger-Straße musste er nur ein paar Schritte am Isarkanal entlang gehen. Es blieb nicht bei einem »Ramazzotti«. Und das Trinkgeld für die bauchnabelfreie Bedienung fiel so üppig aus wie der Inhalt ihres Oberteils.

23.20 Uhr

In dem Moment, als Kriminalhauptkommissar Jürgen Sonne vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses in der Kaiserstraße in Schwabing stand und den Klingelknopf mit den Namen »Gellner/ Lambeck« drückte, wusste er noch nicht, wie er seinen späten Besuch begründen würde – sofern ihm jemand öffnete.

Nein, ich bin nicht betrunken, dachte er. Nur etwas lockerer als sonst. Und warum sollte ihm nicht noch spontan eine wichtige Frage eingefallen sein! Der »Isarbulle« besucht seine Zeugen schließlich auch mitten in der Nacht, und niemand wundert sich. Den Entschluss, an der Münchner Freiheit auszusteigen und bei Ulrike Gellner vorbeizuschauen, hatte er spontan gefasst. Der Gedanke, dass ihr Freund möglicherweise bei ihr war, kam ihm erst, als er den zweiten Namen auf dem Klingelschild gesehen hatte. Aber da war zugleich die Vorstellung, die junge Schauspielerin würde ihm im Bademantel oder im durchsichtigen Negligee die Tür öffnen.

Er war doch nicht mehr ganz nüchtern, fuhr ihm in den Sinn. Aber da hatte er den Klingelknopf bereits gedrückt.

Als wenige Augenblicke später der Türöffner summte, wurde ihm plötzlich deutlich, in welch missliche Situation er sich gebracht hatte. Der Alkohol hatte mit einem Schlag sämtliche Wirkung verloren. Selten war er so klar im Kopf gewesen. Einen Moment dachte er daran, einfach kehrtzumachen. Doch seine Hand hatte die Tür bereits aufgedrückt. Das Klingelschild war in der dritten Reihe von unten, also dritter Stock. Wenn er die Treppe und nicht den Lift nehmen würde, hätte er noch eine knappe Minute Zeit, sich einen triftigen Grund für sein abendliches Erscheinen auszudenken.

Kein Bademantel. Kein Negligee. Ulrike Gellner trug eine Jeans und eine dunkelblaue Strickjacke, als sie in der Wohnungstür stand und überrascht ihren Gast begrüßte.

»Herr Sonne, mit Ihnen hatte ich nicht mehr gerechnet.«

Ihre Stimme klang nicht verärgert oder abweisend, was ihm Mut machte und ihn spontan zu den Worten veranlasste: »Unverhofft kommt oft.« Im nüchternen Zustand hätte er diese Bemerkung als extrem albern empfunden. Beide lachten.

»Wir haben ein technisches Problem«, sagte er nun mit ernster Miene. Die Worte fielen ihm ein, während er sie aussprach. »Der Computer unserer Sekretärin ist abgestürzt. Ein Virus.«

»I love you?«

»Was?«

»Ich meine diesen Wurm-Virus mit dem Namen ›I love you?‹, von dem in der Zeitung stand.«

»Ja, so etwas in der Art. Ausgerechnet in dem Moment, als die Sekretärin Ihre Aussage abgeschrieben hatte. Die Staatsanwältin braucht aber morgen früh die Protokolle aller Vernehmungen. Daher muss ich Sie leider noch einmal kurz befragen.«

Er konnte nicht beurteilen, ob seine Schwindelei glaubwürdig war. Ulrike Gellner ließ jedoch keinen Zweifel erkennen, als sie sagte: »Kein Problem, kommen Sie rein! Ich hoffe, die Unordnung stört Sie nicht. Möchten Sie einen Kaffee? Es müsste noch ein Schluck in der Kanne sein.«

Sonne war froh, dass sie ihm nichts Alkoholisches anbot.

»Gerade durch, setzen Sie sich, wo Platz ist«, sagte sie und räumte einen Stapel Zeitschriften und ein Drehbuchmanuskript vom Sofa. Sie goss ihm eine Tasse Kaffee ein. »Milch? Zucker?«

Er verneinte.

Ihre Wohnung war modern und hell eingerichtet. Einige Möbel erkannte er aus dem IKEA-Katalog wieder, zum Beispiel die Billy-Bücherregale und die Bonde-Schrankwand.

»Ich bin gerade nochmal meinen Text für morgen durchgegangen. Sie können mich ja abfragen, wenn Sie wollen«, sagte sie und lächelte ihn an. Sonne wusste nicht, ob sie das ernst gemeint hatte, und lächelte einfach nur etwas verlegen zurück.

»Erst muss ich Sie nochmal die Fakten vom Tattag abfragen«, sagte er und stellte die gleichen Fragen wie schon zwei Tage zuvor in der Zeugenvernehmung. Sie gab die gleichen Antworten.

»Und jetzt hören Sie mich noch meinen Text ab?«, fragte Ulrike Gellner, sprang auf und drückte dem überraschten Kommissar das Drehbuch in die Hand. Sie hatte es also doch ernst gemeint. »Seite neunundvierzig. Ich spreche die gelb markierten Passagen, lesen Sie den Volker?«

Sonne zögerte zunächst, dann dachte er: Warum nicht? Er war zwar kein Schauspieler, aber lesen konnte er.

»Dorothea, wo bist du so lange geblieben? Ich habe dich vermisst! Ich habe mir Sorgen gemacht«, las er etwas hölzern und wich unbewusst dabei ihren Blicken aus.

»Mach dir keine Gedanken, Volker. Ich bin kein Kind mehr. Du weißt, dass ich auf mich aufpassen kann. Und bald werde ich fort sein.«

»Wir werden uns lange Zeit nicht sehen. Aber ich werde jeden Tag, den du in Amerika verbringst, an dich denken.«

»Ich auch an dich.«

»Er geht langsam auf sie zu und nimmt sie in den Arm«, las er die Regieanweisung vor.

»Regieanweisungen werden nicht vorgelesen«, sagte sie und ging auf ihn zu. Beide standen sich plötzlich gegenüber, schüchtern wie zwei Teenager. Sein Polizisten-Gewissen redete auf seinen Verstand ein. Wenn er sich jetzt nicht beherrschte, könnte ihm das eine Menge Ärger einbringen.

Anstatt die im Drehbuch vorgeschriebene Umarmung durchzuführen, sagte sie nur: »Ich finde, das Du im Drehbuch klingt viel netter als das Sie, oder?«

»Stimmt, du hast Recht«, sagte er. Und nach einem kleinen Moment der Schüchternheit, in dem beide nicht so recht wussten, was sie sagen sollten, fügte Sonne hinzu: »Sag Jürgen zu mir.«

Sie reichten sich die Hände. Und berührten sich einen Augenblick länger, als es für einen freundschaftlichen Handschlag notwendig gewesen wäre. Er konnte ihren Blicken nicht mehr ausweichen. Ihr Lächeln wirkte echt, nicht seifenopernkünstlich. Er wollte sie umarmen, aber er rührte sich nicht. Dann legte sie zaghaft ihre Hand auf seinen Unterarm, küsste ihn links und rechts auf die Wange und sagte: »Ich bin die Ulrike.« Nachdem sie vorher auf dem Sessel und er auf dem Sofa gesessen hatte, setzte sie sich nun neben ihn.

»Wollen wir Ihren ... sorry, deinen Text weiter üben?«, fragte er.

»Ehrlich gesagt, gefällst du mir besser, wenn du dich selber spielst«, antwortete sie. Er lächelte verlegen. Hatte sie ihm gerade ein Kompliment gemacht?

»Ich muss gestehen, dass ich kein Seifenopernfan bin. Habe dich nie in ›Liebe und Schmerz‹ gesehen«, gab er zu und bildete sich ein, dass sie näher an ihn herangerückt war.

»Macht nichts. Ich würde mir so was privat wohl auch eher nicht anschauen. Mit dem Soap-Geschäft habe ich eh längst abgeschlossen. Magst du noch etwas trinken? Ich hätte einen guten Grappa da.«

Jetzt war's eh zu spät. Er sagte dankend ja.

»Wolltest du schon immer Schauspielerin werden?«, fragte er, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Seine Art zu fragen erinnerte ihn an das Interview eines Schülerzeitungsreporters, der zum ersten Mal seinem großen Idol leibhaftig begegnet.

»Ja, schon in der Schule war ich in der Theatergruppe aktiv. Aber ich wollte um jeden Preis zum Fernsehen.«

»Und durch die Playboy-Fotos wurdest du entdeckt?«

»Mehr oder weniger. Ich war plötzlich bekannt, wenn auch der Ruhm eines Playmates gewöhnlich nicht länger als vier Wochen andauert – bis das nächste Heft erscheint. Und den Namen merkt sich auch keiner. Damals allerdings haben die Bilder mich in so manche peinliche Situation gebracht. Ich war achtzehn, kurz vor dem Abi. Einige Lehrer haben das nicht verkraftet, ein Playmate zu unterrichten.«

»Auch für einen Polizisten ist es nicht einfach, ein Playmate zu vernehmen«, sagte er lächelnd.

»Gefallen dir die Bilder?«

»Ich habe sie nie gesehen. Es ist Jahre her, und ich bin kein Abonnent.«

»Warte, ich zeig sie dir!«

Sie stand auf und ging zu dem IKEA-Schrank, aus dem sie das Magazin hervorholte und vor ihn auf den Couchtisch legte. Er klappte das Centerfold in der Mitte des Heftes auf.

»Die Aufnahmen wurden auf Teneriffa gemacht«, erläuterte sie. Aber er interessierte sich weniger für die Landschaft auf den Bildern. Sie zeigten ein braun gebranntes Mädchen mit nassen blonden Haaren, etwas länger, als sie heute waren. Auf einem Foto trug sie nur einen Ohrring und hielt in der Hand lachend eine Wasserpistole. Auf einem anderen Bild war sie nur mit einem Paar Turnschuhen bekleidet, saß auf einem Felsen und blickte verträumt in die Ferne. Darunter stand der Text: »Die 18-jährige Ulrike Gellner kennt aus ihrer Heimat Wuppertal fast nur Wolken und Regen. Unter der glutheißen Sonne von Teneriffa träumt sie von einem Mann, der sie beschützt und ihr Geborgenheit schenkt.«

Er blätterte nochmal um und sah sie auf einem doppelseitigen Foto mit geschlossenen Augen und leicht gespreizten Beinen auf dem Rücken auf einem Handtuch am Strand liegen.

»Sehr verführerisch.«

»Alles echt«, erwiderte sie und lachte. »Damals jedenfalls noch.«

»Ach, du hast Mutter Natur nachgeholfen?«

»Warum nicht? Ist nichts anderes, als wenn man sich schminkt oder die Haare färbt. Nur ein bisschen kostspieliger ... Habe so aus 86 Zentimetern 91 gemacht. Ich bin sicher, es würde dir gefallen.«

Bevor Sonne sich kneifen konnte, um sicherzustellen, ob es sich um einen Traum handelte, hatte sie ihre Strickjacke ausgezogen. Drunter trug sie ein tief ausgeschnittenes enges weißes T-Shirt, unter dem sich ihre Formen deutlich abzeichneten.

»Stimmt«, sagte er etwas verlegen. »Das sieht wirklich nicht schlecht aus. Ich finde, du könntest dich ruhig nochmal beim Playboy bewerben.«

»Pssst«, unterbrach sie ihn und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Ich bin froh, dass bei eurer Sekretärin der Computer abgestürzt ist«, flüsterte sie fast unhörbar.

Sonne war sich immer noch nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch in der U-Bahn eingeschlafen war und es sich um einen Traum handelte. Wenn, dann war es ein ziemlich schöner Traum.