Kapitel 2

 

Leah

 

Beim ersten Schlag des Ledergürtels meines Vaters auf meinen Rücken brennt meine Haut. Ich zucke zusammen und schreie auf, da er mich unvorbereitet trifft. Selbst schuld, denn ich bin eingeschlafen, anstatt auf der Hut zu sein. Wäre ich wach gewesen, hätte ich mich wenigstens auf die Bestrafung vorbereiten können. Die Zeit an der Uni hat mich geschwächt, und ich bin leichtsinnig geworden. Ich habe vergessen, wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Als ich heute Nachmittag nach Hause kam, hätte ich wissen müssen, dass das passieren würde. Dad kam von der Arbeit zurück und benahm sich wie immer, aber Mom war nervöser als sonst. Meine Mutter weiß immer, wenn mein Vater im Begriff ist, eine seiner Bestrafungen zu verhängen. Sie warnt mich nie, denn das würde ihr die gleichen Schläge einbringen, aber sie hat bestimmte Ticks, die ich über die Jahre beobachtet habe. Zeichen, die mir signalisieren, was auf mich zukommt. Nur heute bin ich unvorsichtig gewesen und habe nicht gut genug aufgepasst – ein schwerer Fehler meinerseits.

„AHH!“ Ich schreie erneut auf, als der Gürtel auf meinen Hinterkopf trifft. Meine Kopfhaut brennt, als sich der Riemen in meinen Haaren verheddert und Strähnen aus meiner Kopfhaut reißt. „Hör auf! Dad, bitte!“ Ich springe aus dem Bett und lande mit einem dumpfen Aufprall auf dem Schlafzimmerboden. Ich habe nur zwei Sekunden Atempause, bevor mein Vater mit rotem Gesicht und vor Wut bebender Brust über mir steht. Kurz erhasche ich einen Blick auf sein verzerrtes Gesicht, bevor ich meinen Kopf mit den Armen bedecke, um mein Gesicht vor dem nächsten Schlag zu schützen.

„Du dachtest, du könntest aufs College gehen und dich wie ein kleines Flittchen aufführen! Ziehst mit einer Hure und diesem Jungen aus der Uni zusammen! Du dachtest, du kommst damit durch, dass du in Bars gehst und dich wie eine Schlampe anziehst! Gehst in die Öffentlichkeit und lässt zu, dass Männer dich so sehen!“, schreit mein Vater und versetzt mir einen Schlag nach dem anderen, wobei das Leder auf jeden Zentimeter meines Körpers eindrischt. Ich höre das Schluchzen meiner Mutter vom Flur aus, aber sie greift nicht ein.

Ein Teil von mir hasst sie dafür, dass sie so schwach ist, dass sie mich nicht beschützt.

Aber das letzte Mal, als sie das versucht hat, ist sie im Krankenhaus gelandet.

„Warst du so dumm zu glauben, ich hätte dich nicht im Visier?“ Klatsch, klatsch, klatsch.

„Es tut mir leid!“, schreie ich zwischen den Schlägen, während der Zorn meines Vaters sich auf mir entlädt.

„Es tut dir nicht leid. Aber das wird es, wenn ich mit dir fertig bin.“

Die Hiebe des Gürtels meines Vaters, vermischt mit meinen Schreien, seinem stoßweisen Atmen und dem Schluchzen meiner Mutter hallen im Schlafzimmer wider. Dasselbe Zimmer, in dem ich aufgewachsen bin. Wenn diese Wände sprechen könnten, würden sie Albträume erzählen.

Ich kann nicht sagen, wie lange die Bestrafung andauert. Mein Vater hört erst auf, wenn er völlig erschöpft ist, das weiß ich mittlerweile. Und das dauert normalerweise eine ganze Weile. Das Einzige, was ich tun kann, ist zu beten, dass der nächste Schlag mich bewusstlos macht. Als ich sieben Jahre alt war, hörte ich auf, zu Gott zu beten, dass mein Vater mich nicht mehr schlägt, und fing an, stattdessen für den Schlag zu beten, der mir den Schmerz nehmen würde.

Einen Augenblick später wird mein Gebet erhört, als die Metallschnalle mich an der Schläfe trifft und ich in die Dunkelheit gerissen werde.

 

***

 

Einige Zeit später blinzele ich und öffne die Augen. Das Zimmer ist leer, durch die Vorhänge des Fensters über meinem Kopf fällt ein wenig Sonnenlicht ein. Der unmittelbare Schmerz, der meinen Körper durchströmt, ist lähmend. Ich beiße mir auf die Lippe und atme scharf ein, während ich mich auf Hände und Knie stemme.

In Gedanken gehe ich alle Symptome durch, die eine Fahrt in die Notaufnahme erforderlich machen würden. Keine Übelkeit oder Schwindelgefühl, das ist normalerweise meine Hauptsorge. Sobald ich es in eine sitzende Position geschafft habe, stütze ich mich mit den Armen auf der Bettkante ab und zische, als meine Rippen aus Protest stechen. Ich glaube nicht, dass sie gebrochen sind, aber sie tun weh und sind wahrscheinlich geprellt. Langsam gehe ich zu dem deckenhohen Spiegel neben der Kommode hinüber. Als ich den Saum meines T-Shirts anhebe, sehe ich den Stiefelabdruck in Größe siebenundvierzig, den mein Vater hinterlassen hat und der meinen Verdacht bestätigt. Ich hebe den Blick auf mein Gesicht und betrachte meine aufgeplatzte Lippe und die deutliche Schwellung um mein linkes Auge. Mit einem Finger berühre ich meine schmerzende Wange. Mein Kinn zittert und ich unterdrücke ein Schluchzen, während ich auf meine Wunden starre.

Mein Vater hat gesagt, er hätte jemanden auf mich abgestellt, während ich in der Uni war. Ich hätte es wissen müssen. Ich wusste, dass es ein Fehler war, mit Alba und Sam ins Crossroads zu gehen. Mein Vater hat seine Methoden, alles herauszufinden. Er ist der Polizeichef von Post Creeks, James Winters. Ihm stehen einige Mittel zur Verfügung. Eines davon ist, dass er mich im Auge behalten kann, auch wenn ich fast vier Stunden entfernt in Bozeman bin. Wenn es nicht einer seiner neuen Lakaien war, der für ihn arbeitet, dann wohl der Sohn des Pastors. Soviel ich weiß, ist Aaron, der Sohn von Pastor Lawson, der Polizeiakademie beigetreten. Aaron ist zurzeit wahrscheinlich der größte Arschkriecher meines Vaters. James Winters hält jeden in dieser Stadt zum Narren. Nach außen hin ist er ein ehrbarer Bürger, ein geachteter Polizeichef und ein rundum gesunder Familienvater, der jeden Sonntag in der ersten Reihe in der Kirche sitzt. Dad ist in dieser Stadt zusammen mit Pastor Lawson aufgewachsen. Man kann sagen, die beiden sind gute Freunde. Mein Vater predigt das Wort Gottes in unserem Haus und verlangt von meiner Mutter und mir ein gewisses Benehmen.

Obwohl ich nicht glaube, dass Gott damit einverstanden wäre, dass er uns seine Meinung einprügelt.

Er ist kein Mann Gottes – er ist der Teufel in Menschengestalt.

 

Als ich meine Mutter in der Küche herumwuseln höre, gehe ich ins Bad, das meinem Schlafzimmer gegenüberliegt, um mich zu waschen. Mein Vater erwartet mich heute Morgen zum Frühstück am Tisch. Das ist eine seiner vielen Regeln: Die Mahlzeiten werden gemeinsam als Familie eingenommen. Familie. Was für ein Witz. Ich wasche mir das Gesicht und wechsle mein blutiges T-Shirt, während ich die Tränen unterdrücke, die zu fließen drohen, da der Schmerz mich zerreißt. Ich verharre für einen Augenblick und nehme einige beruhigende Atemzüge, um mich geistig und körperlich für den bevorstehenden Tag zu wappnen, bevor ich mich auf den Weg durch den Flur in die Küche mache. Als ich die Küche betrete, sitzt Dad am Tisch, mit einer Kaffeetasse vor sich. Er hat seine Uniform angezogen und ist bereit für den Tag. Er blickt nicht von seinem Telefon auf, als ich mir einen Stuhl heranziehe und mich ihm gegenübersetze. Meine Mutter verlässt ihren Platz am Herd, kommt zu mir herüber und küsst mich auf den Scheitel. „Morgen, Leah.“ Dann macht sie sich wieder ans Rührei, ohne mit der Wimper zu zucken – auch das bin ich gewohnt.

„Morgen, Mom“, murmle ich.

Eine Minute später stellt sie einen Teller mit Eiern, Würstchen und Toast vor meinem Vater ab, anschließend stellt sie das Gleiche vor mir hin. Doch bevor sie den Tellerrand loslassen kann, hält Dad sie auf. „Nein. Leah bekommt Haferflocken. Während ihrer Abwesenheit hat sich nicht nur ihr Verhalten verschlechtert, sondern auch ihr Gewicht.“

Scham überkommt mich und meine Wangen werden heiß. Ich habe fast mein ganzes Leben lang mit meinem Gewicht gekämpft. An einem Tag hatte ich den Körper eines kleinen Mädchens und am nächsten trug ich einen BH, um meine großen Brüste unterzubringen. Außerdem ragen meine Hüften über die Stuhlseiten hinaus, wenn ich sitze, und ich habe einen etwas rundlichen Bauch. Es dauerte nicht lange, bis die Kommentare meines Vaters über die Jahre hinweg mein Selbstbild veränderten. Die Rüpel in der Highschool waren auch nicht gerade hilfreich. Mein Vater bestand darauf, dass die Hänseleien meiner Mitschüler als Motivation zum Abnehmen dienen würden. Das war nicht der Fall. Wenn überhaupt, brachte es mich dazu, mein Aussehen noch mehr zu hassen. Klein und pummelig zu sein, gepaart mit krausem Haar und einer Brille, machte mich zu einer Zielscheibe. Dieselben Kinder, die mich in der Schule quälten, waren auch die, die sonntags in der Kirche neben mir saßen. Manchmal kann das Leben ganz schön krank und verdreht sein, vor allem für jemanden wie mich. Egal, wie schwierig die Dinge in der Schule waren, sie waren nie so schlimm wie mein Leben zu Hause. Es ist schon ziemlich verkorkst, wenn man seine Tage lieber mit den Kindern verbringt, die einen schikanieren, als nach Hause zu gehen und sich seinem Vater zu stellen.

Schließlich schaue ich von meinem Schoß auf, schiebe mir die Brille auf die Nase und sehe meinem Vater in die Augen. „Du wirst nie einen Mann finden, der dich nimmt, wenn du dich weiter so gehen lässt. Kein Mann will eine fette Frau, Leah.“

Er sollte es wissen. Mein Vater kontrolliert immer noch jeden Bissen, der in den Mund meiner Mutter wandert. Ich beiße mir auf die Unterlippe, während die Demütigung seiner Worte über mich hereinbricht.

Mom stellt eine Schüssel mit Haferflocken vor mich hin. Ich bleibe einige Sekunden lang sitzen. Mein Blick senkt sich abermals. Doch bei den Worten, die mein Vater als Nächstes ausspricht, schnellt mein Kopf in seine Richtung und alle Atemluft verlässt meine Lungen.

„Ich möchte, dass du heute nach Bozeman zurückfährst, deine Sachen packst und wieder zu Hause bist, bevor ich morgen meine Schicht antrete. Du bist fertig mit der Uni. Es war ein Fehler, dich dorthin zu schicken. Du hast dich als zu widerspenstig erwiesen, als dass ich dir erlauben könnte, deine Ausbildung außerhalb von zu Hause fortzusetzen.“

Mein Protest liegt mir auf der Zunge, aber mein Vater ermahnt mich mit seinem Blick, es besser zu lassen. In diesem Haus ist sein Wort Gesetz. Es wird nicht verhandelt und nicht gestritten. Es war ein Wunder, dass mein Vater mich überhaupt aufs College hat gehen lassen. Die Aufgabe einer Frau ist es, zu Hause zu bleiben und sich um ihren Mann und ihre Kinder zu kümmern. Arbeiten gehen und die Familie an der Seite ihres Mannes ernähren, ist nicht ihre Aufgabe. Nein, das würde sie zu einer Gleichgestellten machen. Mein Vater kann sich nicht vorstellen, einer Frau gleichgestellt zu sein. Er begründete seine Entscheidung, mich zur Uni gehen zu lassen, damit, dass er nicht glaube, dass ich einen Mann finden werde, der mich heiratet. Er sagte, ich müsse mich nützlich machen, damit ich für mich selbst sorgen kann. James Winters' Überzeugungen sind veraltet und er ist frauenfeindlich. Gott sei Dank hatten er und meine Mutter nie einen Sohn, dem sie seine verquere Denkweise weitergeben konnten.

„Habe ich mich klar ausgedrückt, Leah?“, schnauzt er, als ich nicht sofort antworte.

Ich schlucke. „Ja, Sir.“

Zufrieden mit meiner Antwort, steht mein Vater vom Tisch auf, geht zu meiner Mutter hinüber und küsst sie auf die Wange. Ich beobachte, wie sie ihre Augen schließt und sich in seine Berührung hinein lehnt. Nach fast zwanzig Jahren mit diesem Monster kann man immer noch die Liebe und Hingabe sehen, die sie für ihn empfindet. Ich möchte sie hassen. Ich möchte sie so sehr hassen wie ihn. Ich möchte sie packen, schütteln und fragen: „Wie kannst du ihn noch lieben? Warum lässt du zu, dass er uns das antut?“ Mom ist immer auf seiner Seite. Nicht, dass sie mich nicht lieben würde, denn das tut sie. Ich glaube nur, dass sie ihn mehr liebt.

In dem Moment, in dem Dad aus der Haustür geht und man seinen Wagen aus der Einfahrt fahren hört, setzt sich Mom auf den Stuhl neben mir. Sie streckt ihre Hand aus und berührt meine geprellte Wange. „Oh, Leah.“

Ich lasse endlich die erste Träne kullern.

„Warum musst du deinen Vater verärgern? Du wusstest doch, dass er jemanden beauftragen würde, nach dir zu sehen. Ich habe dir gesagt, dass du dich nicht mit den falschen Leuten einlassen sollst, Leah. Dein Vater hat mir von dem Kleid und der Bar erzählt. Er sagt, du verbringst viel Zeit mit einem Footballspieler und bist sogar bei ihm und einem schwangeren Mädchen eingezogen. Um Himmels willen, Kind.“ Mom schüttelt den Kopf.

Sie bezieht sich auf meine Freunde Sam und Alba. Meine einzigen Freunde. Zwei Menschen, die es geschafft haben, über mein Äußeres und meine wahnsinnige Unbeholfenheit hinwegzusehen und mein wahres Ich zu erkennen. Solche wahren Freunde hatte ich noch nie. Und jetzt bin ich gezwungen, sie und die Uni aufzugeben. Da ich keine Kraft habe, mich mit meiner Mutter auseinanderzusetzen, stütze ich mich mit einer Hand auf den Tisch und mit der anderen auf der Stuhllehne ab und stehe auf. Durch die Bewegung zwicken meine Rippen und ich wimmere. Mom schaut mit beschämtem Gesicht weg. „Ich mache mich jetzt fertig und fahre nach Bozeman“, sage ich ihr und verschwinde wieder in meinem Zimmer. Ich mache mir nicht die Mühe, meiner Mutter irgendetwas zu erklären. Es spielt keine Rolle, dass Sam nur ein Freund ist. Männliche Freunde sind gegen die Regeln und die habe ich gebrochen. Ich habe noch eine weitere missachtet, als ich mich so angezogen habe und in diese Bar gegangen bin. Es spielt keine Rolle, dass meine Handlungen harmlos waren. Entscheidend ist, dass ich die Grenzen überschritten habe, die mein Vater mir gesetzt hat.

„Es tut mir leid, Leah“, sagt sie, kurz bevor ich die Tür schließe. Ich spare mir eine Antwort.

Als ich mich auf den Weg zurück nach Bozeman machen will, sehe ich Mrs. Mae auf ihrer Veranda gegenübersitzen. Ich kenne Mrs. Mae schon mein ganzes Leben. Als Kind hatte ich keine Freunde, aber als ich fünf Jahre alt war, fuhr ich in der Gegend vor meinem Haus mit dem Fahrrad, als ich Musik aus einem offenen Fenster von Mrs. Maes Haus hörte. Es dauerte nicht lange, bis mich meine Neugierde übermannte und ich mich auf die andere Straßenseite schlich, um hineinzuspähen. Da entdeckte ich die Quelle der Musik – Mrs. Mae spielte Klavier. Ich war wie hypnotisiert.

„Willst du nur dastehen, Kind, oder möchtest du reinkommen?“, fragt sie.

Ich lächle breit und eile die Stufen ihrer Veranda hinauf. Mrs. Mae steht schon an der Tür, um mich zu begrüßen. „Du bist das kleine Mädchen der Winters, nicht wahr?“

Ich nicke und meine Locken fallen mir über die Augen. „Ich heiße Leah.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Leah. Mein Name ist Mae. Wie wäre es, wenn du reinkommst, während ich deine Mutter anrufe und ihr sage, wo du bist, damit sie sich keine Sorgen macht.“

„Okay, Mrs. Mae“

Ich beobachte, wie Mrs. Mae Mommy anruft. Sie sprechen eine Minute lang miteinander, bevor Mrs. Mae auflegt. Sie schenkt mir ein warmes Lächeln. „Würdest du gerne Klavier lernen?“

Ich nicke eifrig.

Das war der Tag, an dem Mrs. Mae mehr als nur eine Nachbarin wurde. Sie wurde meine beste Freundin und mein Zufluchtsort. Mrs. Mae brachte mir das Klavierspielen und das Kochen bei. Sie war meine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte, wenn die Welt da draußen mich verschluckte und wieder ausspie. Es dauerte nicht lange, bis Mrs. Mae merkte, dass ich mich nach einer Art emotionaler Verbindung zu einem anderen Menschen sehnte. Sie hatte ihren Mann verloren, bevor sie die Chance hatten, eigene Kinder zu bekommen, und sie heiratete nie wieder. Ich war vielleicht noch ein Kind, aber ich glaube, ich war auch ihre beste Freundin.

Mrs. Mae steht von ihrem Platz auf der Veranda auf und winkt mich zu sich. Ich möchte nicht, dass sie meinen gegenwärtigen Zustand sieht, aber ich kann sie auch nicht ignorieren. Es ist ja nicht so, dass sie nicht die Spuren gesehen hätte, die der Gürtel meines Vaters hinterlassen hat. Neben meiner Mutter ist Mrs. Mae die einzige Person, die weiß, was in meinem Haus vor sich geht. Sie glaubt, ich würde nicht wissen, dass sie meinen Vater zur Rede gestellt hat, als ich zehn war. Ich war mit einem blauen Auge zu meiner Klavierstunde erschienen. Mrs. Mae bezahlte schwer für das Gespräch mit meinem Vater. Gleich in der nächsten Nacht wurde sie bei einem Einbruch überfallen. Sie erlitt ein gebrochenes Handgelenk und ihre Wohnung wurde durchwühlt. Ich wusste, dass mein Vater hinter dem Vorfall steckte, und ich vermute, dass Mrs. Mae das ebenfalls ahnte. Umso mehr habe ich sie dafür geliebt, dass sie versucht hat, sich für mich einzusetzen.

Als ich die Straße zu ihrem Haus überquere, schenkt mir Mrs. Mae ein breites Lächeln. Je näher ich komme, desto schwächer wird es. Mit einer zittrigen Hand hält sie sich den Mund zu. „Lieber Gott. Komm her, Kind.“ Sie nimmt mich in die Arme und führt mich ins Haus zum Küchentisch. „Setz dich hierher, damit ich dich ansehen kann.“ Ihr Gesicht verhärtet sich, als sie das Licht anknipst, um einen besseren Blick auf die Verletzungen zu werfen. „Es muss etwas getan werden. Jemand muss diesem Mann Einhalt gebieten.“

Ich lasse die Schultern sinken und schüttle den Kopf. „Man kann ihn nicht aufhalten. Mein Vater ist der Mann, zu dem die Leute gehen, wenn sie Hilfe brauchen. Leider funktioniert das nicht, wenn die Person, die dich beschützen sollte, dir auch noch wehtut.“

Mrs. Mae setzt sich auf den Stuhl neben mich und nimmt meine Hand in ihre. „Du solltest diesen Ort verlassen, Leah. Geh und sieh nie wieder zurück.“

Ich wische die Träne weg, die mir über die Wange läuft, sage aber nichts. Ich wünschte, es wäre so einfach – dass ich einfach in mein Auto springen und meine Probleme hinter mir lassen könnte. Ich habe kein Geld, keine Familie und kann nirgendwo hin. Es vergehen einige Minuten, bis Mrs. Mae aufsteht und mir den ersehnten Frieden beschert, nach dem ich mich gesehnt habe, als ich die Straße überquerte. „Komm und spiel etwas für mich, bevor du gehst.“

Ich setze mich auf die vertraute Bank mit Mrs. Mae an meiner Seite, fahre mit den Fingerspitzen über die vertrauten Tasten und lächle zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden. Von dem Moment an, als meine Finger im Alter von fünf Jahren erstmals diese Klaviertasten berührten, wurde das Instrument zu meiner Flucht – eine Möglichkeit, all den Schmerz loszulassen. Das alte Klavier weint, wenn ich meinen Kummer in die Noten lege. Wenn ich die Augen schließe, verblasst die Welt um mich herum und ich verwandle meinen Schmerz in eine wunderschöne Melodie.

Die Sonne ist bereits untergegangen, als ich die Wohnung erreiche, die ich mit Sam teile. Vor ein paar Monaten habe ich Alba und Sam in der Universitätsbibliothek kennengelernt. Sie kamen eines Tages aus heiterem Himmel auf mich zu und fingen ein Gespräch an. Seitdem sind wir drei unzertrennlich. Sam kommt aus Texas und ist Footballspieler mit einem Stipendium an der Montana State University. Alba ist in meinem Alter und im ersten Studienjahr, genau wie ich. Sie ist aus Polson nach Bozeman gekommen. Lange Rede, kurzer Sinn: Alba hat erfahren, dass sie schwanger ist, und wollte auf dem Campus wohnen und Online-Kurse belegen. Sie und Sam fragten mich, ob ich mit ihnen in einer Wohnung wohnen wolle. Dummerweise dachte ich, mein Vater würde es nicht herausfinden. Es war Monate her, dass er mich wegen irgendetwas gerügt hatte. Ich dachte, wenn ich ihm wöchentlich Bericht erstatte und oft nach Hause komme, würde er nicht herumschnüffeln.

Als ich meinen alten Toyota vor der Wohnung parke, stelle ich den Motor ab und atme tief ein. Die vierstündige Fahrt war brutal. Bei jeder Kurve und jeder Bodenwelle, die ich passierte, wollte ich weinen. Die Schmerztablette, die ich vor Stunden eingenommen habe, hat wenig dazu beigetragen, die Beschwerden zu lindern. Ich schnappe mir meine Tasche vom Beifahrersitz, greife hinein und finde die Tablettendose, die ich suche. Ich schraube den Deckel ab, nehme zwei weitere Pillen heraus, stecke sie mir in den Mund und trinke eine halbe Flasche Wasser. Nachdem ich mich einen Moment gesammelt habe, suche ich den fast leeren Parkplatz nach Sams Wagen ab. Ich atme erleichtert auf, als ich ihn nicht sehe. Seit ein paar Wochen wohnt Alba nicht mehr hier. Sie hatte Ärger mit einem Stalker und ist zurück nach Polson gefahren. Die ganze Situation war beängstigend. Alba, Sam und ich waren zum Abendessen ausgegangen. Als wir in unsere Wohnung zurückkehrten, war sie durchwühlt worden. Und nicht nur das, es war auch noch eine unheimliche Nachricht für Alba hinterlassen worden. Ich brachte die erschrockene Alba nach Hause nach Polson, während Sam zurückblieb und sich um die Polizei kümmerte. Ich war schockiert, als Alba mich zu einem MC-Clubhaus lotste. Es stellte sich heraus, dass ihre Familie zu den Kings of Retribution gehört. Ich weiß nicht viel über den MC, aber ich lebe auch nicht so weit hinter dem Mond, dass ich nicht von ihnen gehört hätte. Wenn man einen Polizisten zum Vater hat, erfährt man so einiges. Alba hat nur Gutes über den Club erzählt. Um ehrlich zu sein, vertraue ich ihren Worten eher als denen meines Vaters.

Ich schüttle diese Gedanken ab, öffne die Autotür und steige aus, um mir den kalten Winterwind um die Nase wehen zu lassen. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich und mache mich auf den Weg in die Wohnung. Zum Glück ist es nicht dasselbe Apartment, in das eingebrochen wurde. Sam hat es geschafft, dass wir in eine andere Wohnung ziehen konnten. Trotzdem ist es mir unheimlich, wenn ich allein zu Hause bin.

Mit meinem Schlüssel schließe ich die Tür auf und trete ein. Sobald ich verriegelt habe, schalte ich das Licht ein. Ich hatte vor, heute Nacht hierzubleiben und mich auszuruhen, bevor ich morgen packe und nach Hause fahre, aber Sam hat mir auf dem Weg hierher geschrieben, dass er die Wohnung seines Vaters früh verlassen hat und den ersten Flug aus Texas nehmen wird. Ich kann nicht riskieren, dass Sam mich in meinem jetzigen Zustand sieht, und ich ihm dann erklären muss, warum ich wegziehen werde. Also packe ich jetzt und fahre heute Abend nach Hause. Am liebsten würde ich mich hier in meinem Bett verkriechen, wo ich mich sicher fühle, und darauf warten, dass mein Freund nach Hause kommt. In meinem Zimmer lasse ich mich auf den Boden neben dem Kleiderschrank sinken, als mir ein Schluchzen entweicht. Ich fühle mich so hoffnungslos.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, während ich auf dem Boden kauere und meine Gefühle mich überwältigen, aber der Klang von Sams tiefer Stimme, als er meinen Namen ruft, lässt mich aufschrecken. Schnell ziehe ich mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf, um mein Gesicht zu verbergen, und wische mir mit dem Ärmel die Tränen weg, während ich mein Bestes gebe, um meinen Schmerz vor meinem Freund zu verbergen. Aber Sam entgeht nichts.

„Leah, was ist los?“, fragt er, seine Worte sind voller Sorge. „Nichts“, die Lüge verschlägt mir fast den Atem, während ich versuche, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

Ich höre, wie er vorsichtig weiter hereinkommt. „Blödsinn. Sieh mich an, Leah.“ Sein Tonfall wird sanft. Er hockt sich hin, umklammert meinen Ellbogen und zwingt mich, ihm ins Gesicht zu sehen und ich wehre mich nicht. Ich habe nicht die Kraft dazu.

Sam holt scharf Luft, kurz bevor sein Blick einen mörderischen Ausdruck annimmt. Er ist sehr beschützerisch, wenn es um die geht, die ihm wichtig sind. „Was zum Teufel, Leah. Wer hat dir das angetan? Ich werde sie verdammt noch mal umbringen.“ Er bläht seine Nasenflügel auf.

Seine Sorge macht mich fertig und ich breche zusammen. Ein Aufschrei entfährt mir und Sam zögert nicht, mich in seine Arme zu nehmen. Ich ignoriere den Schmerz in der Seite, als er mich drückt. Doch mein Zusammenzucken bleibt nicht unbemerkt. Sein Körper strafft sich und er drückt mich sanft an seine Brust. Sein Blick fällt auf meinen Oberkörper. „Zeig es mir.“

Sams Augen glühen vor Intensität und ich gehorche tapfer seiner Aufforderung. Ich ziehe mein Sweatshirt über meine Rippen und zeige ihm die Spuren, die mein Vater hinterlassen hat.

„Leah“, knirscht Sam. „Wer hat dir das angetan?“

„Mein Vater“, stammle ich, während mir ein steter Strom von Tränen über das Gesicht rinnt.

„Ich …“ Ich atme tief ein. „Er zwingt mich, nach Hause zu kommen und die Uni abzubrechen.“

„Warte mal. Beruhige dich, Süße. Dein Vater hat dir das angetan?“

Ich nicke. „Ja. Mein Vater hat mich beobachtet und weiß, dass ich hier lebe – dass ich ins Crossroads gehe. Ich habe gegen die Regeln verstoßen, Sam.“

Sein Kiefer zuckt. „Er hat dir das angetan, weil du in eine Bar gegangen bist und bei mir wohnst?“

Ich weine noch heftiger. „Ja. Ich habe es vermasselt. Ich war nicht vorsichtig genug. Ich wollte doch bloß ein normales Leben führen. Ich wollte Freunde haben. Ich dachte, ich könnte glücklich sein und es vor ihm verbergen“, schluchze ich.

„Shh.“ Sam zieht mich an seine Brust. „Es wird alles gut werden.“

„Es wird nie wieder gut werden, Sam. Niemals.“

 

***

  

Ein dumpfes Geräusch lässt mich aus dem Schlaf aufschrecken. Ich öffne die Augen und finde mich auf meinem Bett liegend wieder. Ich erinnere mich nicht einmal daran, eingeschlafen zu sein. Sam muss mich hier hingelegt haben. Ich greife nach meiner Brille, die auf dem Tisch neben dem Bett liegt, setze sie auf und schaue auf die Uhr. Es ist fast ein Uhr nachts. Ich sehe Sam an meinem Kleiderschrank stehen und meine Sachen in einen Müllsack stopfen. „Sam, was machst du da?“

Er blickt mich über seine Schulter an. „Wir verschwinden. Ich lasse dich nicht zurück nach Hause zu diesem Bastard gehen. Ich bringe dich weg von hier und weg von ihm.“

Mein Herzschlag beschleunigt sich und in meinem Magen bildet sich ein Knoten. „Das kann ich nicht tun. Mein Vater …“ Ich bringe die Worte nicht heraus, bevor Sam mich unterbricht und mir ins Gesicht schaut.

„Du gehst nicht zurück, Leah“, sagt er unerbittlich.

„Mein Vater wird mich finden und nach Hause schleppen. Ich kann mich nicht vor ihm verstecken, Sam. Er ist ein Polizist. Er hat seine Methoden.“

Sam lässt den Müllsack auf den Boden fallen und setzt sich neben mich auf das Bett. „Willst du zurückgehen? Sag mir die Wahrheit.“

Ich schüttle den Kopf. „Ich will ihn nie wieder sehen. Aber …“

„Kein Aber. Du wirst nicht zurückgehen. Ich will nur, dass du mir vertraust. Kannst du das tun? Kannst du mir vertrauen, dass ich das hinkriege?“

Sam ist mein bester Freund. Ich zögere nicht, zu antworten. „Ja.“ Meine Antwort klingt zittrig. Ich bin verzweifelt. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wegzulaufen, aber da ich kein eigenes Geld habe und nicht weiß, wohin ich gehen soll, kam eine Flucht nie infrage. Sam gibt mir einen Ausweg. Egal, wie viel Angst ich habe, ich muss versuchen, diesem Monster zu entkommen.

„Wir nehmen nur das Nötigste für den Anfang mit. Den Rest hole ich später.“

Panik macht sich in mir breit. „Sam, was ist, wenn mein Dad mich jetzt gerade beobachten lässt? Wie soll ich mit dir hier wegkommen, ohne dass er es merkt?“

„Das habe ich im Griff. Nachdem du eingeschlafen bist, habe ich meinen Wagen auf dem Parkplatz auf der Rückseite des Komplexes geparkt und bin durch die Terrassentür zurückgekommen. Wir fahren jetzt los. Ich werde uns ein Hotelzimmer buchen.“ Sam stopft die letzten Klamotten in den Sack und bindet ihn zu. „Das ist alles, was du für den Moment brauchen wirst. Die restlichen Sachen sind im Wagen. Nimm deine Handtasche. Es ist Zeit, zu gehen.“

Mir schwirrt der Kopf, weil alles so schnell geht. „Bist du dir bei all dem sicher, Sam?“

„Ja, verdammt, das bin ich. Und jetzt komm. Ich helfe dir auf.“

Sam hilft mir, vom Bett aufzustehen. Er hält mir den Mantel auf, damit ich meine Arme hineinschieben kann, und dann greife ich nach meiner Handtasche. Sam öffnet die Glasschiebetür, die auf die Terrasse führt, und wirft den Müllsack über das Geländer. Dann klettert er hinüber und hilft mir, es ihm gleichzutun: „Es ist ein Stückchen zu Fuß zum Wagen. Schaffst du es, oder soll ich dich tragen?“

„Ich denke, ich schaffe es.“

Während er den Arm um mich legt, um mich zu stützen, gehen Sam und ich durch das kleine Waldgebiet hinter unserer Wohnung, bis wir die gegenüberliegende Seite des Komplexes erreichen, wo sein Wagen geparkt ist. Sam wirft den Müllsack auf den Rücksitz, dann läuft er zur Beifahrerseite und hilft mir, hineinzuklettern. Sobald er sich auf dem Fahrersitz niedergelassen hat, dreht er die Heizung voll auf. Ich wende mich ihm zu, greife nach seinem Arm und drücke ihn fest. Ich will den Mund öffnen, um ihm zu danken, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich weine zum gefühlt millionsten Mal in vierundzwanzig Stunden. Zum Glück sind keine Worte nötig. Sam wirft mir einen beruhigenden Blick zu, bevor er den Gang einlegt und vom Parkplatz fährt.