Nikolai
Polson, Montana. Während ich die kurvenreiche Straße hinunterfahre, die zum Clubhaus meines Bruders führt, betrachte ich den Ort, der im letzten Jahr mein neues Zuhause geworden ist. Er ist der Vizepräsident des Kings of Retribution MC. Seltsam, wie sehr sich unsere Leben und Lebensweisen einander ähneln, wenn man bedenkt, dass wir uns erst letztes Jahr kennengelernt haben. Logan ist das Produkt einer wilden Romanze, die mein Vater vor Jahren hatte, bevor er meine Mutter heiratete.
Es ist mitten am Abend und die Sonne beginnt am Horizont unterzugehen und färbt den Himmel in verschiedene Blau- und Violett-Töne. Zu dieser Jahreszeit wird es wärmer, aber die Berggipfel in der Ferne sind noch von Schnee bedeckt. Kaum angekommen, erhielt ich eine Nachricht von meinem Bruder. Anscheinend ist ein Haufen Scheiße passiert, während ich weg war. Ein Mann ist tot, und Reid erholt sich von den schweren Verletzungen, die er dabei erlitten hat. Das Gute ist, dass Alba und Gabriels Schwester wohlauf sind, und Albas ungeborenes Kind auch.
Ich biege mit meinem Truck von der Hauptstraße auf den Schotterweg ab, der mich zu meinem Zielort führt. Sobald ich die Hügelkuppe erklommen habe, kommt das Clubhaus in Sicht, und noch nie hat sich die Heimkehr so gut angefühlt. Die Kings haben mich aufgenommen, als wäre ich einer von ihnen. Sie haben mir sogar ein eigenes Zimmer im Clubhaus gegeben, in dem ich schlafen kann, wann immer ich will. Als ich mich umschaue, sehe ich, dass alle Männer anwesend sind, lediglich Reids Motorrad fehlt. Ich parke meinen Wagen an der Seite des Gebäudes, steige aus und gehe hinein. Warme Luft und der Geruch von Tabak strömen mir ins Gesicht, als ich die Eingangstür öffne. Drinnen sehe ich die Jungs um einen großen runden Tisch in der Mitte des schwach beleuchteten Raums sitzen.
„Nikolai. Beweg deinen Arsch hierher“, schallt Jakes dröhnende Stimme durch den Raum. Ein leerer Stuhl wartet auf mich, als ich an den Tisch trete. „Schön, dass du wieder in der Stadt bist.“ Er schiebt ein Glas von der Mitte des Tisches zu mir. Eine Flasche meines Lieblingswodkas steht dort, außerdem noch etwas Bourbon. Ich strecke die Hand aus, kippe die Flasche an und gieße mir einen Schluck in mein Glas.
Zwischen Jakes Fingern balanciert ein kleiner Zigarettenstummel, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnt. „Wie war es zu Hause?“, er hebt die Hand und nimmt einen Zug von seiner Kippe.
„Ungeklärt.“ Ich halte inne und nehme einen Schluck von meinem Getränk, bevor ich meine Aussage vervollständige. „Aber nichts, um das wir uns nicht kümmern können.“
Jake gluckst. „Oh, das bezweifle ich nicht.“
Ich sehe meinen Bruder an, der mir gegenübersitzt, dessen Aussehen dem meinen gleicht, bis auf unsere Haarfarbe. Logan sagt: „Schön, dass du wieder zu Hause bist.“ Er hebt sein Glas in die Luft.
„Es ist gut, wieder daheim zu sein.“ Und ich meine es ernst, wenn ich diese Worte sage. Polson ist Welten entfernt von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin und den ich so lange mein Zuhause genannt habe, aber Polson fühlt sich für mich wie der Ort an, für den ich immer bestimmt war. Ich möchte, dass meine Wurzeln in diesen Bergen festwachsen. Ich atme tief durch die Nase ein und stoße einen langen Atemzug aus. „Abgesehen davon, dass wir einen guten Drink zusammen genießen, worum geht es bei unserem Treffen sonst noch?“, frage ich, während ich mich am Tisch umschaue.
„Gabriels Frau hat eine Freundin, die auf der Suche nach Arbeit ist. Das Mädchen muss eine Weile untertauchen“, informiert mich Logan. Ich beobachte, wie Gabriel sich ein wenig anspannt, und frage mich, ob das etwas mit dem zu tun hat, was Alba gerade durchgemacht hat.
„Hat das etwas mit dem Angreifer deiner Frau zu tun?“, mein Blick richtet sich auf Gabriel.
„Nein. Nie wieder wird ein Mann ihr etwas antun.“ Gabriels Tonfall ist leise und vielsagend.
„Albas Freunde Leah und Sam sind auf der Suche nach Arbeit. Wir dachten, sie könnten bei Kings Construction anfangen. Das heißt, wenn du damit einverstanden bist. Leah ist diejenige, die in Schwierigkeiten steckt, aber sowohl Sam als auch Leah brauchen einen Neuanfang“, fügt Jake hinzu.
Eine Frau?
„Leah versteckt sich vor ihrer Familie, vor ihrem Vater, um genau zu sein. Wir kennen nicht alle Details, aber genug, um zu wissen, dass er sie vor ein paar Wochen verprügelt hat, und das ist schon öfter vorgekommen. Sie hat eine Todesangst vor ihm.“ Mehr braucht Jake nicht zu sagen.
„Habt ihr nachgeforscht, um mehr über ihren Vater herauszufinden?“
„Wir prüfen gerade, wer er ist“, sagt Jake.
„Wenn sie unter eurem Schutz steht, dann auch unter meinem.“ Ich wende mich an Gabriel, da er sie wahrscheinlich wesentlich schneller benachrichtigen kann als alle anderen. „Schick sie gleich morgen früh zu mir und ich kümmere mich um alles.“ Gabriel nickt zur Antwort, dann zieht er sein Handy aus der Innenseite seiner Kutte und tippt mit den Fingern auf den Bildschirm. Meine Gedanken kreisen um die Probleme, mit denen mein Vater zu kämpfen hat, und um die Tatsache, dass ich hier bin und nicht dort, um ihm bei unseren zukünftigen Lieferungen zu helfen.
„Wie geht’s dem Alten?“, fragt Logan.
„Es geht ihm gut.“
„Du hast erwähnt, dass die Dinge in Übersee noch ungeklärt sind. Kann der Club bei irgendetwas helfen?“ Logan gießt sich einen kleinen Jameson in sein Glas. Die anderen Männer beäugen mich, gespannt darauf, mehr zu erfahren.
Ich atme erschöpft aus, als der Jetlag einsetzt. „Leider kann man von hier aus nichts tun. Eine Waffenlieferung wurde von ihrem Ausgangspunkt gestohlen und einer unserer Männer ist unglücklicherweise gestorben.“ Abrams kalte, tote Augen, gefolgt von der Erinnerung an das tränenüberströmte Gesicht seiner Frau, nachdem wir ihrer Familie die letzte Ehre erwiesen haben, kommen mir in den Sinn, und meine Hand verkrampft sich um das Glas in meiner Hand.
„Verdammt, Bruder. Tut mir leid, das zu hören. Irgendwelche Hinweise darauf, wer dahintersteckt?“, fragt Logan, bevor er ein Streichholz über die raue Oberfläche des Tisches zieht und sich eine Zigarette anzündet.
„Wir vermuten, dass Miran Novikoff hinter den Diebstählen steckt. Es hat ähnliche Vorfälle mit anderen Gruppierungen in anderen Gebieten gegeben“, erkläre ich ihnen.
„Novikoff“, wiederholt Jake. „Der Name kommt mir bekannt vor.“
„Es gibt sie schon seit einiger Zeit. Novikoff war ein guter Freund meines Großvaters und sie waren gemeinsam im Geschäft. Novikoff hat früher hier in Montana Geschäfte gemacht und ist immer noch in Kanada tätig. Früher hat er meinen Großvater auf seinen Reisen hierher begleitet. Deshalb ist dir sein Name wahrscheinlich ein Begriff. Als mein Großvater starb, brach mein Vater alle Verbindungen zu Novikoff ab. Man kann sagen, dass es böses Blut zwischen den beiden Familien gibt. Bis jetzt spielte er noch keine Rolle. Im letzten Jahr haben seine Organisationen jedoch zahlenmäßig zugenommen. Kleinere Gruppen tauchen überall in Russland auf. Sie rekrutieren massenhaft.“
„Was für einen Scheiß machen die denn?“, mischt sich Quinn ein, der die ganze Zeit über geschwiegen hat.
„Alles, was ihnen Geld einbringt. Drogen, Sex, Menschenhandel“, erzähle ich Quinn, und sein Gesicht verhärtet sich.
„Ich verachte Leute, die Menschen entführen und sie wie eine Ware verhökern.“ Quinn stellt sein Bier ab. „Wir alle hier sind selbst Kriminelle und haben in unserem Leben Dinge getan, über die man besser nicht spricht, aber Menschenraub ist für mich das Schlimmste, was man machen kann. Frauen und Kinder zu verkaufen.“ Quinn schüttelt den Kopf. Solange ich ihn kenne, ist dies das erste Mal, dass ich ihn wirklich leidenschaftlich über ein Thema reden höre. „Solche Wichser sind der Abschaum unter den Kriminellen, und ich würde die Welt gerne von ihnen befreien, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte.“ Alle Männer an diesem Tisch, mich eingeschlossen, nicken zustimmend.
Meine Augen fühlen sich schwer an und mein Kopf beginnt zu pochen. Ich lasse den Rest meines Getränks unberührt, stoße mich vom Tisch ab und stehe auf. „Diese lange Nacht hat mich ziemlich geschafft. Ich glaube, ich schlafe heute hier.“ Ich unterdrücke ein Gähnen.
„Wir anderen sind auch bereit, Feierabend zu machen. Wir melden uns morgen wieder bei euch“, kündigt Jake an. „Wenn jemand etwas braucht, wisst ihr, wo ihr mich finden könnt. Ich bin zu erschöpft, um heute Abend nach Hause zu fahren.“
Am nächsten Morgen wache ich noch vor den anderen im Clubhaus auf, ziehe mich an und mache mich auf den Weg zur Geschäftsstelle, einem kleinen einstöckigen Gebäude auf dem Grundstück, in dem wir alle unsere Materialien und Maschinen für die von uns durchgeführten Arbeiten unterbringen. Nach Eingabe eines Sicherheitscodes öffnet sich das Tor, und ich fahre meinen Wagen auf meinen üblichen Platz.
Drinnen schalte ich das Licht ein. Das Wichtigste zuerst – ich brauche Kaffee. Ich gehe in den kleinen Pausenraum, stelle die Kaffeemaschine an und warte darauf, dass sie meine Tasse füllt. So beginnen die meisten meiner Arbeitstage. In etwa zwei Stunden werden meine Männer ankommen. Jake hat sich um Kings Construction und den Laden gekümmert, während ich verreist war. Außerdem erholt sich Reid gerade von seiner Tortur und ist nicht in der Lage, sich um die E-Mails und potenziellen Angebote der Firma zu kümmern, die in den letzten Wochen eingegangen sind. Mit meinem Kaffee in der Hand gehe ich zu meinem Arbeitsplatz und mache mich ans Werk.
Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug, während ich mich in E-Mails, Rechnungen, Kontoauszügen und Gehaltsabrechnungen vergrabe. Ich höre das unverwechselbare Geräusch von Garys altem Pick-up, der draußen vor der Tür vorfährt, und muss schmunzeln, als das verdammte Ding einen lauten Knall von sich gibt, bevor er den Motor abstellt. Ein paar Sekunden später klopft er mit den Fingerknöcheln gegen meine offene Tür und ich hebe meinen Kopf.
„Hey, Boss. Seit wann bist du wieder in der Stadt?“, fragt er und stopft sich die Reste seines Frühstückssandwichs in den Mund. Gary ist einer unserer Vorarbeiter und ein verdammt fähiger Mann.
„Seit gestern Abend.“ Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und strecke meinen Rücken.
„Scheiße. Und du bist hier, bevor alle anderen Kerle ihr Maurerdekolleté aus dem Bett hieven?“ Er schüttelt den Kopf und ich kichere über seine bildliche Ausdrucksweise.
„Keine Ruhe für die Gottlosen, mein Freund“, sage ich ihm.
„Ich hoffe, du hast dir wenigstens etwas Freizeit gegönnt, während du weg warst“, fügt er hinzu. Das ist alles, was Gary an Fürsorge zu bieten hat. So ist er zu den meisten der Männer, die hier arbeiten. Das ist eine weitere verlässliche Eigenschaft von ihm: Er ist eher von der rauen Sorte. Im Gegenzug haben die Männer großen Respekt vor ihm und ich auch. Gary wendet den Kopf, als er ein weiteres Fahrzeug auf den Parkplatz fahren hört, das uns ankündigt, dass die anderen Jungs eintreffen. „Nun, ich lasse dich dann mal in Ruhe. Ich werde mich auf den Weg machen und dieses Sicherheitsmeeting über die Bühne kriegen und die Männer an ihren Einsatzort bringen.“
Bevor er geht, greife ich nach dem Stapel Schecks, der in der Ecke meines Schreibtischs liegt. „Gib die für mich aus.“
Gary schnappt sie sich aus meiner ausgestreckten Hand. „Wird gemacht. Es ist eine Schande, dass Miss Martinez uns verlassen hat. Ich werde ihren Kaffee und die Kokosnusskekse vermissen, die sie ab und zu mitgebracht hat.“
„Was stimmt denn nicht mit meinem Kaffee?“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Gary lässt den Kopf hängen und seine Schultern beben vor unterdrücktem Lachen. Bevor er antworten kann, höre ich, wie jemand durch die Vordertür hereinkommt. Gary steckt seinen Kopf in den Flur.
„Hallo, junger Mann, wie kann ich dir helfen?“, fragt Gary, als er meinen Arbeitsplatz verlässt, und gleichzeitig vibriert mein Handy auf meinem Schreibtisch. Ich drehe es um, wische über den Bildschirm und lese eine SMS von Gabriel.
Gabriel: Sam und Leah sollten bald da sein.
Ich lege mein Handy weg. Als ich aufschaue, sehe ich Gary wieder in meiner Tür stehen. Er deutet mit dem Daumen über seine Schulter.
„Ein Typ namens Sam ist hier draußen, mit einer jungen Frau.“
Das muss Leah sein. Sie sind früh dran. Das gefällt mir. Es zeigt, dass sie eifrig sind. „Schick sie rein.“
Gary nickt. „Ich melde mich später bei dir, Boss“, sagt er und verschwindet. Sekunden später erscheint Sam an meiner Tür. „Mr. Volkov.“
„Sam?“ Ich stehe auf.
„Ja, Sir.“ Er reicht mir die Hand und schüttelt meine kurz.
„Mir wurde gesagt, Sie würden gemeinsam mit jemandem eintreffen.“ Bei meinen Worten schaut Sam nach links und streckt seine Hand aus. Ich beobachte, wie eine junge Frau erscheint und an seine Seite tritt.
„Ja, Sir. Das ist Leah.“ Sam stellt seine Freundin vor, und meine Augen bleiben eine Sekunde lang auf ihrem Gesicht haften, bevor ich den Rest ihrer Erscheinung mustere. Ihre weite Kleidung verdeckt nicht die vollen Kurven, die sich darunter verbergen.
„Ich nehme an, dass Leah für sich selbst sprechen kann.“ Ich räuspere mich und warte, bis sie langsam ihren Blick zu mir hebt. Bernsteinfarbene Augen, umrahmt von dunklen Wimpern und einer Brille, schauen nervös in meine, und es fühlt sich an, als würde jemand den Sauerstoff aus dem Raum saugen.
Was zum Teufel?
Ich verscheuche, was auch immer da über mich kommt. „Setzt euch“, winke ich mit der Hand zu den beiden Stühlen vor meinem Schreibtisch, während ich Platz nehme. „Ich habe gehört, ihr sucht nach Arbeit?“ Ich sehe Leah an, die sich auf ihrem Stuhl niederlässt. „Ja. Benötigen Sie Referenzen oder Arbeitszeugnisse?“, fragt Leah nervös. Ich schaue zwischen ihr und Sam hin und her, dessen Hand sie nicht losgelassen hat, was mich etwas irritiert.
„Die Kings haben sich für dich verbürgt.“ Ich konzentriere mich wieder auf Leah. Ihre unruhigen Beine zeigen, wie unwohl und nervös sie sich fühlt, und ihr starrer Ausdruck spiegelt die Angst wider, die sie empfindet. Ich denke an das Gespräch zurück, das ich gestern mit den Jungs im Clubhaus geführt habe, weshalb sie unter ihrem Schutz steht. Mein Blick verweilt auf den verblassenden blauen Flecken, die ihr Gesicht zieren. Wut kocht in meinem Bauch auf. Ich betrachte sie noch etwas länger, nur für eine Sekunde, und mustere ihr herzförmiges Gesicht und ihr langes, widerspenstiges, lockiges Haar. Leah beißt sich auf die Lippe, hebt ihre Hand und spielt mit ihrer Brille. Mein Mund zuckt, als sie ihr Gesicht auf ihren Schoß richtet und ihre Wangen rot werden. „Leah“, sage ich sanft zu ihr und sie sieht mir wieder in die Augen. Und verdammt, wenn mich das nicht anmacht. „Hast du schon mal in einem Büro gearbeitet?“
Leahs Lippen spitzen sich und sie holt tief Luft, bevor sie spricht, und ich freue mich auf den Klang ihrer Stimme. „Nein, aber ich lerne schnell und kenne mich mit Computern aus.“ Ihr Ton ist sanft und lieblich.
„Ich habe kein Problem damit, es dir beizubringen“, versichere ich ihr und ein kleines Lächeln ziert ihr Gesicht.
Verdammt. Sie. Ist. Wunderschön.
Ich sehe Sam an. „Wie schnell kannst du anfangen?“
„Heute“, sagt er eifrig.
„Gut.“ Ich drehe mich auf meinem Stuhl um, öffne eine kleine Schrankschublade und blättere durch die Papiere, bis ich auf ein Bewerbungsformular stoße. Ich drehe mich wieder um, greife über den Schreibtisch und reiche es ihm. „Füllt das aus und gebt Gary Bescheid. Er ist der ältere Mann, den du vorhin getroffen hast. Er wird dich dem Team zuteilen, in dem er dich braucht.“ Nach einer kurzen Erörterung der Bezahlung steht Sam auf und ich ebenfalls.
„Ich weiß die Möglichkeit zu schätzen.“ Und wir schütteln uns wieder die Hände. Dann schaut er zu Leah, die immer noch sitzt. „Ist es für dich in Ordnung, dein Vorstellungsgespräch allein weiterzuführen?“
Bevor Leah antworten kann, entgegne ich für sie: „Bei mir ist sie sicher.“
Nach einem Moment des Zögerns nickt Leah ihrem Freund zu. „Ich komme schon klar, Sam“, versichert sie ihm mit einem Lächeln, und ich wünschte, es wäre für mich bestimmt. Ich frage mich, ob die beiden mehr als nur Freunde sind, und merke, dass mir die Vorstellung nicht gefällt.
„Am Ende des Tages warte ich auf dich, um dich nach Hause zu fahren“, versichert er ihr und verlässt dann meinen Arbeitsplatz.
Schweigen erfüllt den Raum und ich merke, dass Sams Anwesenheit ihr Halt gegeben hat, denn jetzt, wo er weg ist, wirkt sie noch angespannter als vorher. „Möchtest du etwas Kaffee oder vielleicht Wasser?“, frage ich.
„Ähm, Wasser, danke.“ Ich stehe auf, verlasse meinen Schreibtisch, gehe durch den Flur zum Pausenraum, hole mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und kehre in mein Büro zurück. Die Tür ziehe ich hinter mir zu.
Leahs Körperhaltung wird steif und sie sieht verängstigt aus. Das kann ich ihr nicht verdenken. Welche Frau würde einem Mann vertrauen, nachdem sie von einem anderen geschlagen wurde?
„Ich verspreche, schnell zu lernen und nicht weiter zu stören“, platzt sie plötzlich heraus.
„Du hattest den Job schon, bevor du hier reingekommen bist, Leah.“
„Hatte ich?“, fragt sie und legt den Kopf schief, sodass ihre offenen Locken über ihr Gesicht fallen.
„Jake hat mir erzählt, dass du dich vor deinem Vater versteckst. Stimmt das?“ Anstatt mich auf meinen Stuhl zu setzen, lasse ich mich auf der Kante meines Schreibtischs nieder, direkt vor Leah.
Sie wendet den Blick ab und starrt aus meinem Bürofenster. „Ja.“
Ich weiß nicht, was über mich kommt. Ich strecke die Hand aus und streiche mit meinen Fingern an ihrem Kinn entlang, um sie dazu zu bewegen, mich anzuschauen. Ich hatte erwartet, dass sie bei meiner Berührung zusammenzucken würde, aber das geschah nicht. Die Traurigkeit in ihren Augen saugt mich förmlich ein und ich habe das Gefühl, in ihr zu ertrinken. „Vertraust du Jake und seinem Club?“ Ihre Unterlippe zittert, aber sie nickt. „Gut. Das solltest du. Es sind gute Männer und sie möchten, dass du dasselbe mit mir tust. Glaubst du, das kannst du?“
Leah blinzelt. „Dir vertrauen?“
„Ja.“
„Mein Vater ist Polizist“, gibt sie mir eine Information, die mir noch nicht bekannt war. „Er ist einfallsreich und wird wahrscheinlich nicht aufgeben, bis er mich gefunden hat.“
Mein Blick wird ernst und kalt. „Ich gehe davon aus, dass du weißt, dass die Männer, die dich beschützen, alles tun werden, um dich in Sicherheit zu bringen.“
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, als Leah mit den Augen rollt und mir eine andere Seite von sich zeigt. „Ich lebe nicht hinterm Mond. Ich habe schon einiges mitbekommen.“ Sie verschränkt die Arme unter ihren großen Brüsten, was sie noch voller erscheinen lässt.
Ich möchte, dass sie den nächsten Teil versteht, also sorge ich dafür, dass ich ihre volle Aufmerksamkeit habe. „Dann weißt du auch, dass dein Vater mir niemals über den Weg laufen sollte.“ Ich halte einen Moment inne und lasse meine Worte sacken. „Du wirst hier für mich arbeiten. Ich bezahle dich jede Woche in bar. Solange du auf der Gehaltsliste stehst, wirst du nicht auf seinem Radar auftauchen. Wenn du etwas brauchst, sag es mir. Ich werde dich beschützen.“ Auf diese Weise verspreche ich, alles zu tun, was nötig ist, um Leah aus der Gefahrenzone zu bringen – weg von ihrem Vater.