Kapitel 9

 

Nikolai

 

Ich sehe Logan draußen warten, als ich vor dem Clubhaus vorfahre. Neben ihm steht die Harley, an der er in den letzten zwei Monaten geschraubt hat. Ich steige aus dem Wagen und überquere den Vorplatz. Logan wirft mir die Schlüssel zu. „Sie ist startklar und bereit für die Straße, Bruder.“ Logan steht auf und betrachtet sein Werk mit Stolz.

Ich trete an das Motorrad heran und überprüfe jedes Detail. Die geraden Chromrohre glänzen spiegelblank – ein tiefes Karminrot überzieht den Tank und den Kotflügel, akzentuiert durch perfekt gebrushte Flammen. Ich fahre mit der Hand über die luxuriösen schwarzen Ledersitze und die maßgeschneiderten Satteltaschen. Als Jugendlicher bin ich ein paar Mal gefahren, aber erst als ich nach Polson zog, entdeckte ich meine Liebe für Motorräder und die offenen Straßen. Wie das Boxen ist auch das Motorradfahren zu einer Art Therapie geworden. Ich schwinge mich auf mein Bike. „Danke, Bruder.“

„Probier sie aus.“ Logan grinst.

„Drehen wir zusammen eine Runde?“ Ich stecke den Schlüssel in das Zündschloss.

„Scheiße. Das musst du mich nicht zweimal fragen.“ Logan setzt sich ein paar Meter weiter entfernt auf seine Maschine.

Das laute, dröhnende Geräusch, das nur eine Harley erzeugt, scheint im Gleichklang mit meinem Puls zu schlagen, nur noch stärker. Der Motor heult auf, als ich den Gashebel ein paar Mal drehe, und der Geruch von Benzindämpfen, gemischt mit der Hitze, belebt meine Sinne, während ich mit meinem Bruder an meiner Seite vom Clubhaus losfahre. Sobald wir auf die offene Straße hinausfahren, gebe ich Vollgas. Ich lehne mich in den tiefen Sitz zurück, während wir über die Autobahn brausen, und spüre den Fahrtwind, der mir ins Gesicht peitscht. Ich werde ruhig und lasse meine Maschine zu einer Erweiterung meiner selbst werden. Sie hat jetzt die Kontrolle.

Als Logan und ich zum Clubhaus zurückkehren, ist fast eine Stunde vergangen, und die Schwere, die ich zuvor gespürt habe, ist irgendwo auf der Straße zurückgeblieben. „Genau das habe ich jetzt gebraucht“, sage ich zu meinem Bruder, als wir uns auf den Weg in das schwach beleuchtete Clubhaus machen.

„Eine gute Tour.“ Logan klopft mir auf die Schulter. „Ich bin jederzeit bereit, mit dir eine Runde zu drehen, du musst es nur sagen.“ Jake und Gabriel sitzen an der Bar. „Prez, Gabriel“, begrüßt Logan sie.

„Ich habe mich schon gefragt, wohin zum Teufel ihr zwei verschwunden seid“, grunzt Jake und hebt einen Becher Kaffee an seine Lippen.

„Nikolai hat heute Morgen eine Spritztour mit seinem neuen Bike gemacht und ich bin mitgefahren.“ Logan holt einen Hocker von der Bar, stellt ihn neben Jake und setzt sich.

Jake sieht mich an, während ich mich auf Gabriels anderer Seite niederlasse. „Meine Brüder haben verdammt gute Arbeit an dieser Custom-Harley geleistet. Wie ist sie gefahren?“

„Erste Sahne“, antworte ich und er nickt.

„Du solltest nächstes Wochenende mit uns fahren. Wir werden ein junges Mädchen unterstützen, das sich vor Gericht gegen ihren missbräuchlichen Täter wehrt und hofft, sich aus den Fängen ihrer Familie zu befreien“, erwähnt Jake und ich muss automatisch an Leah denken.

„Alba war heute mit Leah einkaufen. Ich bin mir sicher, dass meine Frau das Mädchen heute Abend hierherschleppen wird“, sagt Gabriel zu Jake, was mir bereits bekannt war. Sam kommt herein und setzt sich zu uns an die Bar, während Jake sich Gabriel zuwendet.

„Ich weiß nicht, warum Alba das Mädchen zwingt, hierherzukommen. Das arme Ding hat Angst vor ihrem eigenen verdammten Schatten. Die Anwesenheit von uns Männern macht ihr Unbehagen nur noch schlimmer“, antwortet Jake.

„Ja, aber das kommt nicht von ungefähr.“ Sam lässt sich auf einen Hocker am Ende der Bar fallen.

Jake seufzt. „Nein, wahrscheinlich nicht.“

„Da wir gerade von Leah sprechen“, fügt Sam hinzu, „wollte ich eine Sorge ansprechen, die ich in Bezug auf sie habe.“ Seine Aussage lässt mich aufhorchen.

„Was gibt’s, mein Sohn?“ fragt Jake.

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei, dass sie allein wohnt. Ich weiß, dass die Wohnung erstklassig gesichert ist, und sie hat mir beteuert, dass sie damit zurechtkommt, allein zu leben, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie noch nicht so weit ist. Ich habe meiner Freundin versprochen, dass ich mich um sie kümmern werde. Also wollte ich den Club um Hilfe bitten und hoffe, dass ihr mir helfen könnt, eine Lösung zu finden, damit Leah nicht nur sicher ist, sondern sich auch geborgen fühlt.“

In dem Moment, in dem Sam erwähnt, dass er aus der Wohnung auszieht, die er mit Leah teilt, bin ich ganz Ohr. Ich wusste, dass er daran interessiert war, ein Prospect der Kings zu werden, aber ich war mir nicht bewusst, dass er deshalb mein Mädchen allein und auf sich gestellt zurücklassen würde.

Ich weiß, dass meine Meinung in diesem Gespräch keine Rolle spielt, aber ich unterbreche ihn trotzdem. „Ich kümmere mich um Leah.“ Alle sehen mich an, als ich abrupt aufstehe und meinen Hocker quietschend über den Boden rücke. Niemand sagt ein Wort, als ich ihnen den Rücken zuwende und aus dem Clubhaus gehe, weil ich nur eines im Sinn habe. Zu beschützen, was mir gehört. Ich schaue zwischen meinem Truck und meinem Motorrad hin und her und entscheide mich für die Harley. Der Motor heult auf, als ich die Schotterstraße hinunterfahre und eine Staubwolke hinter mir herziehe, während ich das Gelände der Kings verlasse.

Dreißig Minuten später fahre ich vor dem Haus am See vor. Drinnen steuere ich direkt auf die Toilette zu und ziehe unterwegs mein Handy aus der Tasche. Ich tippe auf das Display und rufe meinen Vater an.

„Sohn, schön, von dir zu hören.“ Seine träge Stimme verrät, dass ich ihn geweckt habe.

„Scheiße. Ich wollte dich nicht wecken. In meiner Eile habe ich nicht an die Zeitverschiebung gedacht.“

„Was ist los?“ Mein Vater klingt jetzt hellwach und ich höre Bewegung am anderen Ende.

„Alles ist in Ordnung. Wenn möglich, möchte ich, dass Maxim zu mir in die Staaten kommt“, erkläre ich.

„Erledigt“, antwortet er. „Hat das etwas mit einer bestimmten kleinen Brünetten zu tun?“, stellt er die eine Frage, von der ich bereits ahnte, dass sie als Nächstes kommen würde.

„Ja“, gebe ich freimütig zu. Mein Vater ist vielleicht nicht so oft hier, wie er gehofft hatte, aber er ist präsent genug, um über Leah Bescheid zu wissen. Und ich habe auch nicht gerade versucht, die Anziehungskraft zwischen uns zu verbergen, ich habe bloß nicht auf diese Gefühle reagiert. „Seit heute ist Sam aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Er wohnt jetzt im Clubhaus der Kings, als ihr neuester Prospect.“

Mein Vater seufzt. „Das ist jetzt ein Jahr her. Glaubst du, ihr Vater sucht immer noch nach ihr?“

„Die Kings haben ihn im Auge behalten. Aber ich glaube nicht, dass er aufhören wird, nach ihr zu suchen. Ich möchte, dass Maxim meine Augen und Ohren ist, wenn ich es nicht kann.“

„Verständlich.“ Mein Vater schweigt eine Sekunde lang, dann fügt er hinzu: „Siehst du eine Zukunft mit diesem Mädchen?“

Ich denke über seine Worte nach, jedoch nicht lange. „Ja.“

„Dann nutze alle Mittel, die du brauchst, um diese Zukunft zu sichern. Maxim wird ins Bild gesetzt und in ein paar Stunden nach Polson fliegen.“

Die Bande zwischen meinem Vater und mir war nicht immer so stark wie jetzt, aber in den letzten Jahren ist die Beziehung zwischen uns gewachsen und jetzt ist sie unzerstörbar. „Vielen Dank.“ Das ist das Ende unseres Gesprächs.

Als Nächstes rufe ich Reid an. Er ist derjenige, auf den sich die Kings bei den Sicherheitsmaßnahmen verlassen und der das aktuelle System in Leahs Wohnung installiert hat. Reid nimmt nach dem dritten Klingeln ab. „Ich habe deinen Anruf erwartet“, teilt er mir mit.

„Das spricht sich aber schnell herum.“

Reid lacht. „Ja, Bruder, aber daran solltest du dich inzwischen gewöhnt haben. Ich habe dir alle Informationen gemailt, die du brauchst, um dich in das Sicherheitssystem für Leahs Wohnung einzuloggen. Derzeit sind die Kameras außerhalb des Komplexes positioniert, um jeden möglichen Winkel zu erfassen.“

„Und drinnen?“

Reid räuspert sich. „Nein.“

„Danke.“

„Wir sehen uns später, Bruder.“ Reid beendet den Anruf, und ich logge mich in meine E-Mails ein, öffne die, die Reid mir geschickt hat, und klicke auf den Link, den er angegeben hat. Nachdem ich das Passwort eingegeben habe, beginne ich mit dem Live-Video-Streaming vor Leahs Wohnung. Ich suche den Parkplatz ab, finde aber ihr Auto nicht; dann fällt mir ein, dass sie mit ihrer Freundin einkaufen ist. Zu wissen, dass sie nicht allein ist, beruhigt mich ein wenig.

Den Rest des Vormittags und bis in den Nachmittag hinein sitze ich da und beobachte das Sicherheitsvideo. Außerdem habe ich beschlossen, ein neues Telefon für Leah zu bestellen. Eines, von dem ich weiß, dass es nicht zurückverfolgt werden und mit dem ich ihren Aufenthaltsort aufspüren kann, falls es nötig sein sollte. Während ich das Video auf dem Schreibtisch laufen lasse, hole ich meinen Laptop aus einem anderen Zimmer und öffne die Akten, die wir über Leahs Vater haben. Leider haben wir nicht viele Anhaltspunkte. Er ist seit Jahren bei der Polizei von Post Creek, verheiratet mit Mary Winters. Er und seine Frau gehen regelmäßig in die Kirche. Sein Status in der Gemeinde scheint ungetrübt zu sein. Er ist sauber – zu sauber. Als hätte sich jemand zu sehr bemüht, ihn in ein perfektes Licht zu rücken. Das allein ist schon ein rotes Tuch. Ich glaube nicht an diese Illusion. Mein Instinkt sagt mir, dass ich tiefer graben muss, und ich werde dabei Hilfe brauchen. Mir kommt nur ein Name in den Sinn. Luka. Er hat schon früher mit meiner Familie gearbeitet. Wenn man jemanden sucht, ist er der richtige Mann. Will man mehr Details über eine Person herausfinden, so ist man auch dafür bei ihm an der richtigen Adresse. Ich öffne die Schreibtischschublade meines Vaters und hole das Wegwerfhandy heraus, mit dem ich ihn kontaktiert habe.

 

Ich: James Winters.

624 Sycamore Ln. Post Creek,

MT Cop

 

Ich warte auf seine Antwort.

 

Luka: Nachricht erhalten.

 

Ich lege das Telefon zurück in die Schublade. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein Auto auf den Parkplatz des Komplexes fährt. Ich beobachte Leah beim Einparken. Sie wartet ein paar Minuten, bevor sie aus ihrem Fahrzeug steigt und mustert dann eingehend ihre Umgebung.

Braves Mädchen.

Meine Augen kleben am Bildschirm, während sie sich auf den Weg zu ihrer Haustür macht, und der Schwung ihrer Hüften versetzt mich in einen tranceartigen Zustand. Sie sieht sich um, bevor sie die Tür aufschließt und eintritt. Den restlichen Tag über bleibt sie in der Wohnung.

  

***

 

Am nächsten Morgen gehe ich später als sonst zur Arbeit. Reid wird heute in der Werkstatt arbeiten und vor Ort sein, bevor Leah eintrifft. Da ich Baupläne brauche, die inzwischen geliefert worden sein sollten, mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Nach meinem routinemäßigen Frühstücksstopp fahre ich schließlich vor dem Gebäude von Kings Construction vor.

Leah sitzt hinter ihrem Schreibtisch und tippt auf ihrer Tastatur, als ich durch die Eingangstür trete. Sie blickt flüchtig von ihrem Bildschirm auf und sieht mich an, bevor sie die weiße Tüte in meiner Hand bemerkt. Dann schaut sie genauso schnell wieder weg, wobei sich ihre Wangen rot färben. Sie ist so verdammt liebenswert. Ich gehe um die Ecke ihres Schreibtischs und trete hinter sie. Während ich mich vorbeuge, streife ich sie sanft mit meinem Arm, als ich die Tüte aus der Bäckerei vor sie hinstelle. Ihr Haar ist heute zu einem Zopf geflochten, sodass ich mich zu ihr hinunterbeugen und ihr ins Ohr flüstern kann. „Guten Morgen, Malyshka.“ Sie holt tief Luft und ich kann sehen, wie sie eine leichte Gänsehaut bekommt, von meinem warmen Atem, der über ihre Haut streicht. Sie schluckt.

„Guten Morgen, Nikolai.“ Ihre süße Stimme lässt meinen Schwanz zucken. „Ich kann heute Morgen nicht mit dir frühstücken, aber ich hole dich zum Mittagessen ab.“

„Hm …“ Leah zögert.

In diesem Moment bemerke ich eine blaue Karte, die neben der Tüte liegt, die ich ihr gerade vor die Nase gestellt habe – eine Visitenkarte des örtlichen Fitnessstudios. Ich nehme sie in die Hand.

„Hey“, sagt sie und greift danach, um sie mir zu entreißen. Was soll der Scheiß? Verdammt, nein.

Ich werde wütend, als ich die Karte anstarre. „Wer ist Rhett?“, frage ich.

Leah verschränkt ihre Arme unter der Brust. „Er leitet das Fitnessstudio in der Stadt.“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt. Du bist gut so, wie du bist.“

Ihr schwerer Seufzer lässt mich wissen, dass sie langsam frustriert von mir ist. „Ich überlege, ob ich einen Selbstverteidigungskurs machen soll, okay.“

„Du willst Selbstverteidigung lernen?“, frage ich sie, wobei mein Tonfall etwas weicher wird.

Anstatt Augenkontakt mit mir aufzunehmen, starrt Leah förmlich ein Loch in meine Brust. „Ich muss in der Lage sein, auf mich selbst aufzupassen.“ Dann wird ihre Stimme leiser und sie zieht sich in sich selbst zurück. „Ich habe mich neulich so hilflos gefühlt.“

„Sieh mich an.“ Schnell dreht sich ihr Gesicht nach oben, ihre Augen treffen auf meine. „Ich werde es dir beibringen.“

Ihre Augen weiten sich. „Du?“

„Ja.“

„Aber warum?“, fragt sie.

Ist ihr nicht klar, welche Macht sie über mich hat? Der Gedanke, dass ein anderer Mann sie berührt, sie unterrichtet, macht mich wütend bis ins Mark. Die Worte sprudeln aus mir heraus, bevor ich zweimal darüber nachdenken kann. „Ich will nicht, dass ein anderer Mann dich anfasst.“ Leahs Augen weiten sich angesichts meines Geständnisses.

„Okay“, sagt sie nach einer langen Pause.

„Gut. Deine erste Lektion wird heute Abend sein.“ Ich lege die Visitenkarte nicht auf ihren Schreibtisch zurück, sondern stecke sie in meine Tasche. Im Gehen betrete ich mein Büro und hole die Materialien, die ich für den bevorstehenden Arbeitstag brauche. Bevor ich zur Tür hinausgehe, halte ich inne. „Ich bringe das Mittagessen mit.“

Nach dem Lunch mit Leah schien der Tag kein Ende zu nehmen. Nach mehreren Besprechungen, Stapeln von Papierkram und einer feierlichen Grundsteinlegung für das riesige Berghotelprojekt außerhalb der Stadt konnte ich nur noch an Leah denken. Ich warte nun schon seit über einer Stunde auf sie. Entgegen meinem eigentlichen Wunsch, sie von der Arbeit abzuholen und ihren süßen Hintern mit mir nach Hause zu schleppen, entschied ich mich stattdessen, ihr die Adresse zu schicken. Ich wollte sehen, ob sie das Training wirklich durchziehen würde, anstatt zu riskieren, dass sie das Gefühl hat, ich würde sie dazu zwingen. Nachdem ich ein paar Geräte weggeräumt habe, um auf dem Boden Platz für Leah zu schaffen, beginne ich, mehrere Matten auszulegen.

Maxim kommt in den Fitnessraum, als ich eine weitere Matte auslege. „Dein Mädchen ist auf dem Weg.“

Mir fällt auf, wie er explizit dein Mädchen sagt. Mit einem Klatschen landet die Matte auf dem Boden. „Danke, Maxim. Du siehst müde aus von deiner langen Nacht. Geh, ruh dich aus“, sage ich ihm, während ich meine Arbeit fortsetze. Als ich aufblicke, sehe ich ihn immer noch in der Tür stehen. „Was gibt’s, spuck’s ruhig aus?“ Ich werfe die letzte Matte hin.

„Bedeutet sie dir etwas?“, fragt Maxim und es überrascht mich nicht, dass er das fragt. Ich kenne Maxim schon fast mein ganzes Leben. Fast so lange wie Sasha und Victor. Wie auch sie betrachte ich ihn als Familie.

„Das tut sie“, antworte ich ihm und werfe zum hundertsten Mal einen Blick auf die Uhr an der Wand.

„Das ist eine gute Sache“, verkündet Maxim und geht davon.

Zehn Minuten später taucht Leah auf. Allein. Sie trägt schwarze Leggings, Turnschuhe, ihr wildes, lockiges Haar zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt und ein lockeres T-Shirt und schaut sich im Fitnessraum um, während sie auf mich zukommt. „Wow. Dein Haus ist fantastisch, Nikolai. Zumindest nach den ersten Blicken, die ich erhaschen konnte, als ich von einem großen, wütend aussehenden Mann hereingeführt wurde, der kein Englisch zu sprechen scheint.“

Ich schmunzle über ihre Beschreibung von Maxim, die bis auf ein Detail zutreffend ist. „Er spricht sehr gut Englisch.“ Leah wippt von einem Fuß auf den anderen, ihr Blick klebt an meiner nackten Brust. „Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt“, bemerke ich, weil sie spät dran ist.

„Fast hätte ich das“, gibt sie zu.

„Bist du bereit, anzufangen?“ Leah nimmt immer noch keinen Augenkontakt auf. „Sieh mich an.“ Ihr Blick wandert zu mir hinauf. „Bist du bereit?“

„Könntest du dir zuerst ein Hemd anziehen?“, fragt sie und versucht, meinen nackten Oberkörper nicht länger anzustarren, und ich mache mir nicht die Mühe, mein Grinsen zu verbergen.

„Komm mit“, sage ich und drehe mich von ihr weg, greife nach meinem Shirt, das über einer der Hantelbänke in der Nähe hängt, und ziehe es mir über den Kopf, während Leah ihre Brille abnimmt, sie in ihre Tasche legt und die Tasche auf den Boden neben der Bank wirft. „Ich werde dich jetzt berühren und in deinen persönlichen Bereich eindringen. Bevor wir beginnen, musst du damit einverstanden sein und mir das erlauben.“ Ich stelle mich vor sie und lasse etwa einen Meter Abstand zwischen uns. Leah gelingt es nicht, die zahlreichen Emotionen zu verbergen, die sie empfindet, während sie meine Worte abwägt.

Schließlich nickt sie, gefolgt von einem Seufzer. „Ich muss das tun“, ihre Worte klingen ein wenig unsicher, während sie sie ausspricht. Ich sage nichts und warte weiter darauf, dass sie mir ein eindeutiges Okay gibt. Leah strafft ihren Rücken und zeigt etwas mehr Zuversicht. „Ich gebe dir die Erlaubnis.“

Ich trete ein wenig näher an sie heran. Dann greife ich nach unten und hebe den Saum ihres Shirts an.

„Warte. Was machst du da?“, ruft sie aus und legt ihre Hände auf meine.

Ich binde den überschüssigen Stoff ihres Hemdes zu einem Knoten auf Höhe des Hosenbundes ihrer Leggings. „Deine lockere Kleidung wird im Weg sein“, informiere ich sie, während meine Fingerknöchel absichtlich über ihre Haut streifen und sie errötet.

„Oh.“

Ich trete ein paar Schritte zurück und sehe sie einen Moment lang an. Ich mache eine drehende Bewegung mit meinem Finger und sage: „Wende dich mit dem Rücken zu mir.“ Doch sie zögert. „Ein Täter sucht sich jemanden, der nichts ahnt. Wenn er sich von hinten an eine Frau heranschleicht, ist sie leichte Beute. Dreh dich von mir weg.“ Ich bewege mich langsam und warte, bis Leah ihre Position eingenommen hat. Ich betrachte ihren Hintern und die Art und Weise, wie sich ihre Leggings an ihre üppigen Kurven schmiegen. Dann trete ich auf sie zu und nehme sie in den Schwitzkasten, wobei ihr Hintern gegen meinen Oberschenkel drückt und meinem Schwanz gefährlich nahe kommt. Ich spüre, wie sich ihr Atem beschleunigt, als ich sie fest an meine Brust ziehe. „Wenn dein Angreifer dich in diese Lage bringt, gibt es vier Möglichkeiten, dich zu befreien. Nimm meinen Arm.“ Ohne zu zögern, legt Leah ihre Finger um meinen Unterarm. „Zieh meinen Arm nach unten, dreh den Kopf zur Seite und geh in die Hocke.“

„Etwa so?“ Leah macht genau das, was ich ihr sage.

„Gut. So kannst du verhindern, dass dein Angreifer dir die Kehle zudrückt. Wenn du dich tief fallen lässt, hast du eine bessere Hebelwirkung für deinen nächsten Schritt.“

„Okay.“

„Jetzt gehst du mit deinem linken Fuß zurück und stellst ihn hinter mein Bein.“

„So?“, fragt sie.

„Ja. Jetzt verlagerst du dein Gewicht nach hinten und drehst dich.“ Als Leah dies tut, befreit sie sich aus meinem Griff. „Gut.“

„Oh mein Gott. Das hat sich ganz einfach angefühlt.“

Ich schüttle den Kopf. „Ich unterrichte dich, ich greife dich nicht an. Bei einer echten Bedrohung wird dein Angreifer sein Bestes tun, um dich zu überwältigen.“

„Dann lass es uns noch einmal probieren.“ Leah zieht ihren Pferdeschwanz ein wenig fester und ihre Entschlossenheit spornt auch mich an.

Wir führen die Übung mehrmals durch, bis sie sich sicher genug fühlt, um ein paar weitere zu lernen. Ich zeige ihr eine Stunde lang verschiedene Möglichkeiten, wie man sich aus den Fängen eines Angreifers befreien kann, bevor ich zu verletzlicheren Situationen übergehe. Nach einer kurzen Wasserpause weise ich Leah an, sich auf den Boden zu legen.

„Was hat das Hinlegen mit Selbstverteidigung zu tun?“, fragt sie nervös.

„Ein Täter könnte versuchen, mehr zu tun, als dich zu entführen. Er könnte sich dir aufdrängen wollen. Du musst wissen, wie du dich gegen einen Vergewaltiger wehren kannst, der dich auf den Boden drückt.“ Ich beschönige meine Worte nicht.

Langsam lässt sich Leah auf die Matte sinken, setzt sich auf ihren Hintern und legt sich mit dem Rücken auf den Boden, die Beine in den Knien angewinkelt. Mir schießen unanständige Gedanken durch den Kopf, während ich auf sie hinabschaue, wie sie dort liegt, den Blick an die Decke gerichtet. Mit jedem Atemzug hebt und senkt sich ihre Brust. Ich sollte nicht hier stehen und mir vorstellen, wie ich mein Gesicht zwischen ihren Schenkeln vergrabe und ihre Unschuld schmecke. Aber ich tue es. Das ist genau das, was ich mir ausmale und noch so viel mehr. Ich reiße mich am Riemen und schiebe diese Gedanken beiseite. Leah vertraut mir und ich würde nie etwas tun, was dieses Vertrauen gefährdet.

Ich knie mich hin und lenke ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Augenkontakt.“ Es dauert einen Moment, aber dann sieht Leah mich endlich an. „Bereit?“

„Bereit.“

Ich lege meine Hände auf ihre Knie, spreize ihre Beine und stelle mich zwischen sie. „Wenn ich mich über dich beuge, möchte ich, dass du deine Hände mit den Handflächen nach oben ausstreckst. Drück sie gegen meine Brust.“ Leah tut wie ihr geheißen, während ich über ihr stehe. „Er wird versuchen, dich zu würgen“, erkläre ich ihr und lege meine Hände sanft um ihren Hals, ohne Druck auszuüben. „Bring deine rechte Hand zu meiner linken und deine linke Hand zu meiner rechten. Präg dir das gut ein.“

„Verstanden.“

„Stoß deine Ellbogen nach unten, auf meine Arme. Fest.“ Sie tut es, dann wartet sie auf weitere Anweisungen. „Wenn das seinen Griff nicht bricht, heb deine Hüften vom Boden, wiederhole den Vorgang und drück deine Ellbogen nach unten, während du deinen Hintern Richtung Boden bewegst. Dadurch erhältst du mehr Hebelwirkung und Kraft.“ Leah führt die Aktionen ohne Probleme aus, aber ich will sie weiter herausfordern.

„Aber was ist, wenn das nicht klappt? Ich habe nicht besonders viel Kraft im Oberkörper.“ Ich sehe, dass sie anfängt, an sich selbst zu zweifeln, und das will ich nicht zulassen.

„Lass uns die Bewegungen noch einmal durchgehen. Diesmal bringst du deinen Hintern nach unten und stößt deine Hüfte zur Seite. Ich möchte, dass du diesen Fuß nach oben stemmst“, ich tippe auf ihr linkes Bein. „Trete mit deinem Fuß auf meinen Beckenknochen. Es mag anfangs schwierig sein, aber versuche es. Gib nicht auf. Mach es mit dem anderen Fuß auf der anderen Seite noch einmal. Kämpf weiter, bis du mich wegstoßen und meinen Griff um dich brechen kannst.“ Leah starrt zu mir hoch, mit Angst in den Augen. Auch wenn es mir nicht gefällt, dass sie sich in einer so verletzlichen Situation fürchtet, muss sie sich durch ihre Angst hindurchkämpfen. „Ich weiß, dass du Angst hast und nicht glaubst, dass du genug Mut oder Kraft hast, doch das hast du. Du bist stärker als du denkst, Malyshka.“ Ich stelle mich noch einmal hin und lege meine Hände um ihren Hals. „Zeig es mir, Leah. Kämpfe.“

Diesmal werde ich aggressiver in der Art, wie ich mit ihr umgehe. Ich will, dass sie spürt, was vor sich geht. Eine Sekunde lang wehrt sie sich und vergisst alles, was ich ihr gerade beigebracht habe. Plötzlich setzt ihr Kampfgeist ein. Sie führt eine Bewegung nach der anderen aus. Ein gutturaler Schrei entweicht ihrem Körper, als sie mich aggressiv von sich wegstößt und mir dann mit voller Wucht ins Gesicht tritt. Ich falle zurück auf meinen Hintern.

„Oh mein Gott! Nikolai, es tut mir so leid.“ Leah krabbelt über den Boden, bis sie direkt vor mir sitzt. „Ich weiß nicht, wo das herkam. Geht es dir gut?“ Ich reibe mir die Seite meines Gesichts. „Lass mich mal sehen“, Leah streicht meine Hand fort und drückt sanft mit ihren Fingerspitzen gegen meine Wange; ihr Gesicht ist von Sorge gezeichnet. „Es tut mir leid. Du hast da auch einen kleinen Kratzer. Ich werde etwas finden, um ihn zu säubern.“ Leah will aufstehen, aber ich packe ihr Handgelenk und ziehe sie zurück auf den Boden.

„Du hast nichts getan, was dir leidtun müsste.“ Ich streiche ihr die losen Haarsträhnen aus dem Gesicht und widerstehe dem überwältigenden Drang, sie zu küssen. Leah dreht den Kopf, um ihr Erröten zu verbergen.

„Es ist schon spät. Ich sollte gehen.“

In meiner Verzweiflung, sie zum Bleiben zu bewegen, sage ich das Erste, was mir einfällt. „Bleib. Iss mit mir zu Abend.“ Es ist keine Frage, aber ich werde sie nicht zwingen, wenn sie sich entscheidet zu gehen.

Sie zögert einen Moment, beißt sich auf die Unterlippe, als wolle sie Nein sagen, aber sie tut es nicht. „Okay.“

Ich stehe auf, ziehe sie mit mir hoch und zupfe am Saum ihres Oberteils. „Du solltest Sachen tragen, die dir stehen. Es gefällt mir nicht, wie du deinen Körper versteckst.“

Leah senkt ihren Kopf und zupft an ihrem Shirt. Ich spüre ihre Unsicherheit und das macht mich wütend. Da ich sie nicht in Verlegenheit bringen will, führe ich sie in die Küche und lasse das Thema fallen.

„Setz dich. Ich koche.“

„Du kannst auch noch kochen?“ Leah lässt sich auf einen Hocker an der Kücheninsel gleiten. „Was kannst du nicht?“, murmelt sie und ich kichere.

„Es gibt viele Dinge, die ich nicht kann. Aber ich kann ein anständiges Beef Stroganoff zubereiten“, erwidere ich, während ich die Speisekammer und den Kühlschrank nach allen Zutaten durchstöbere, die ich brauche. In der nächsten Stunde führen wir Small Talk. Nichts Ernstes. So zwanglos haben wir noch nie miteinander geplaudert, seit wir uns das erste Mal getroffen haben. Leah ist unaufgeregt, regelrecht entspannt.

„Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“ Leah setzt sich auf ihren Platz und stützt ihr Kinn auf die Handflächen, während sie mir dabei zusieht, wie ich unser Essen auf den Tellern anrichte.

„Ich schlage dir einen Deal vor. Ich beantworte eine Frage, wenn du dann dasselbe tust.“ Ich stelle ein Glas vor sie hin.

„Persönlich?“ Sie malt Achten auf die Arbeitsplatte.

„Ja. Ich würde dich gerne besser kennenlernen.“ Mit den beiden Tellern in der Hand rucke ich mit dem Kinn: „Setzen wir uns ins Wohnzimmer und schauen einen Film, während wir essen.“ Leah steht auf und folgt mir. Ich warte, bis sie auf dem Sofa Platz genommen hat.

„Stimmt es, dass die Volkovs eine Mafia-Familie sind?“

„Ja.“ Ich reiche ihr einen Teller und setze mich neben sie. Ich schnappe mir die Fernbedienung, schalte den Fernseher ein, entscheide mich für einen beliebigen Filmkanal und warte auf ihre Reaktion.

„Ooh. Herz über Kopf. Einer meiner Lieblingsfilme.“ Leah lächelt, dann hebt sie ihre Gabel und nimmt einen Bissen. Sie stöhnt, während sie kaut und die Gabel für den nächsten bereithält. „Der Mann kann kochen“, seufzt sie, nachdem sie einen weiteren Bissen genommen hat und das Geräusch lässt meinen Schwanz zucken.

„Ich bin dran“, sage ich ihr und nehme ebenfalls einen Bissen von meinem Essen. „Willst du demnächst noch mal mit mir essen?“ Meine Frage ist nicht das, was sie erwartet hat, und ihre Gabel erstarrt in der Luft, als sie einen weiteren Happen nehmen will. Leah dreht ihren Kopf und sieht mich an.

„Das war’s? Du verschwendest deine einzige Frage, um mich das zu fragen?“ Ich esse meine Mahlzeit weiter.

„Wie ein Date?“, fragt sie, als hätte sie mich missverstanden.

„Ja. Ein Date“, stelle ich klar. Was sie nicht weiß, ist, dass diese Verabredung eine Premiere für mich sein wird. Ich hatte schon Frauen – viele. Aber bis jetzt hatte ich noch kein Date. Leah bringt mich dazu, mich nach Dingen zu sehnen, die ich nie zuvor gewollt habe.

„Das würde mir gefallen.“ Damit erlöst sie mich endgültig aus meinem Elend und das darauffolgende Lächeln besiegelt den Deal.

Als wir mit dem Essen fertig sind, lehnen wir uns gemütlich zurück und sehen uns den Rest des Films an. Es war der typische Plot: Junge trifft Mädchen, sie verlieben sich und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ich schaue mir so einen Scheiß nie an. Ich koche Frauen kein Abendessen und ganz sicher schaue ich mir keine kitschigen Filme mit ihnen an. Ich ficke. Und das war’s.

Aber bei ihr ist das was anderes. Scheiße, was macht diese Frau mit mir? Ich werfe einen Blick auf Leah, die konzentriert auf den Bildschirm schaut, und frage mich, ob es so einen Mist wie im Film überhaupt gibt. Sie ist bereits in Gefahr. Bin ich selbstsüchtig, wenn ich sie für mich gewinnen will? Meine Familie hat Feinde. Der Sohn von Demetri Volkov zu sein, hat meinem Leben einen Stempel aufgedrückt und schon unzählige Male habe ich das zu spüren bekommen. Wenn ich mich mit den falschen Leuten anlege, werden sie Leah töten, nur um an mich heranzukommen. Bin ich bereit, all das für die Liebe zu riskieren?

Als der Film zu Ende ist, hat sich Leah in die Ecke der Plüschpolster gekuschelt und schläft fest. Ich schaue auf die Uhr. Es ist schon spät. Anstatt sie zu wecken, stehe ich auf. Ich lege meine Arme unter sie und hebe Leah vom Sofa, ziehe sie dicht an meine Brust, während sie ihr Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. Ich trage sie nach oben in mein Zimmer und lege sie sanft auf mein Bett, nehme ihr die Brille ab und lege sie auf den Nachttisch. Dann ziehe ich die Bettdecke vom Fußende des Bettes hoch und decke sie zu.

Ich setze mich auf den Stuhl vor dem Fenster und schaue ihr in der Dunkelheit beim Schlafen zu.