Leah
Ich weiß, dass Nikolai sich Sorgen macht, wie ich den ersten Besuch am Grab meiner Mutter verkraften werde, und wenn ich ehrlich bin, geht es mir genauso. Zu wissen, dass sie tot ist, ist eine Sache, aber auf den Grabstein mit ihrem Namen zu starren, ist eine andere. In gewisser Weise macht es das Ganze noch realer. Ich bin mir nicht sicher, warum ich so lange gewartet habe, um hierherzukommen. Letztendlich fühle ich, dass ich nun damit abschließen kann. In den ersten paar Monaten nach meiner Entführung empfand ich nichts als Wut. Ich war wütend auf sie, denn hätte sie mich vor all den Jahren an erste Stelle gesetzt, hätte ich die jahrelangen Misshandlungen durch diesen Mann nicht ertragen müssen, und sie wäre noch am Leben. Ich war wütend, weil sie ihn mir vorzog. Ich war wütend, weil sie gewartet hat, bis es zu spät war, ihre Tochter mehr zu lieben als das Monster, das sie geheiratet hat. Ich gebe zu, dass ich mich schuldig gefühlt habe, weil sie deswegen getötet wurde, aber Nikolai hat mich schnell eines Besseren belehrt. Er sagte, sie hätte getan, was Eltern tun sollten. Und er hat recht. Die Schuldgefühle, die ich mit mir herumtrug, nachdem ich von ihrem Tod erfahren hatte, fressen mich nun nicht mehr innerlich auf. Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach einer Mutter-Tochter-Beziehung gesehnt, wie sie die Kinder hatten, die in meiner Umgebung aufwuchsen. Ich sehnte mich nach einer echten Familie, bis ich Alba und Sam und später die Kings traf. Zuerst wurden Alba und Sam meine Familie, und bald darauf adoptierten mich die Kings als eine der ihren. Sie waren es, die mir die wahre Bedeutung von Familie zeigten. Dann kam Nikolai. Mein Mann lehrte mich die Bedeutung von Geduld, wahrer Liebe und Loyalität. Und eines der wichtigsten Dinge, die er mir beibrachte, war Selbstwertgefühl. Er hat mir gezeigt, dass ich es wert bin, dass er auf mich wartet. Immerhin hat es ein ganzes Jahr gedauert, bis er zu meinem Mann wurde. Jetzt verbringt er seine Tage damit, mich zu lieben und dafür zu sorgen, dass ich mich selbst liebe. In den letzten Monaten habe ich sogar Demetri näher kennengelernt. Nikolais Vater hat mir gezeigt, wie es ist, einen Dad zu haben. Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich für ihn eine Tochter bin und nicht nur die Frau, die seinen Sohn geheiratet hat. Ich bezeichne James Winters nicht mehr als meinen Vater. Als ich aufgewachsen bin, war er ein Monster, und jetzt ist er nicht mehr als eine Randnotiz. Er kontrolliert nicht mehr mein Leben und verfolgt mich nicht mehr in meinen Träumen.
„Geht es dir gut, Malyshka?“ Nikolai legt seinen Arm fest um meine Taille.
Ich lehne mich weiter an ihn und genieße seine Wärme. „Ja, mir geht’s gut.“
Er drückt meine Hüfte. „Bist du sicher?“
Ich nicke. „Ich bin sicher. Ich bin froh, dass ich gekommen bin. Es war an der Zeit. Ich bin bereit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und vorwärtszugehen.“
Ich habe meine Mutter geliebt. Sie war nicht perfekt, doch auch sie hat mich trotz allem auf ihre Weise geliebt. Ich weiß das, weil sie es am Ende bewiesen hat. Im Leben müssen wir lernen, die Dinge zu akzeptieren und loszulassen, die wir nicht ändern können. Wir müssen auch lernen, wann wir den von anderen verursachten Ärger auf sich beruhen lassen müssen. Solange man selbst an der Wut festhält, behält die Person, die einen verletzt hat, diese Emotion, sogar im Tod. Ich habe Monate damit verbracht, wütend zu sein, und heute lasse ich los. Ich habe eine schöne Zukunft vor mir – eine Zukunft, in der kein Platz für die negative Energie ist, mit der ich gekämpft habe. Als ich vor dem Grab meiner Mutter stehe, spüre ich, wie das letzte bisschen davon meine Seele verlässt.
„Bist du bereit, zu gehen?“
Ich starre noch eine Sekunde lang auf den Grabstein, um mich im Stillen zu verabschieden, dann wende ich mich Nikolai zu. „Ja. Lass uns gehen.“
Als wir uns auf den Weg zum Auto machen, fragt Nikolai: „Was willst du heute machen?“
Ich lächle. „Meinst du, die Familie hat Lust auf einen Grillabend?“
Nikolai grinst. „Na klar, wann haben die Jungs keine Lust auf gutes Essen und Trinken?“
Zwei Stunden später schallt Gelächter durch meinen und Nikolais Garten. Nachdem Nikolai einen Aufruf an Logan getätigt hatte, tauchten alle Männer des Clubs samt Frauen wenig später auf.
Ich sitze auf Nikolais Schoß auf der Terrasse und kichere über das Geplänkel von Quinn und Reid. Sie streiten sich darüber, wessen BBQ-Sauce besser ist. Logan schüttelt den Kopf. „Manche Dinge ändern sich nie.“
„Wer ist diesmal dran mit Gewinnen?“, fragt Bella.
Alba hat mir mal erzählt, dass Quinn und Reid immer wieder den gleichen Streit haben. Dann sind alle gezwungen, darüber abzustimmen, wessen BBQ besser ist. Sie sagt, die Jungs wechseln sich bei der Wahl des Gewinners ab. Sie hat auch erzählt, dass Quinn und Reid wissen, dass die Abstimmung so abläuft, aber sie machen trotzdem mit, weil es eben zur Tradition gehört.
„Quinn“, antwortet Gabriel, der mit seiner Tochter auf dem Arm auf unsere Gruppe zugeht. Valentina ist so niedlich mit ihrem Prinzessinnen-Badeanzug und ihren Schwimmflügeln.
Ich schaue ihm über die Schulter und sehe, wie Alba im Pool umherwatet und ihrem Sohn beim Planschen zusieht. Ich klettere von Nikolais Schoß und sage ihm: „Ich ziehe mich um und gehe ein bisschen in den Pool.“
Nikolai zieht an meiner Hand und ich beuge mich hinunter und küsse ihn. „Ich bin gleich wieder da.“
Oben im Schlafzimmer angekommen, ziehe ich schnell mein Kleid aus und meinen Bikini an. Vor ein paar Wochen war ich mit den Mädchen einkaufen und sie haben mich zu einem Zweiteiler überredet. Er ist rot und hat eine hoch taillierte Hose, die mir diesen Vintage-Fünfzigerjahre-Look verleiht. Durch den tiefen Ausschnitt des Oberteils sehen meine Brüste fantastisch aus. Nikolai steht in der Tür zu unserem Zimmer und seinem glühenden Blick auf meine Brüste nach zu urteilen, würde ich sagen, dass er es genauso sieht.
„Hey“, kichere ich und lenke seine Aufmerksamkeit von meinen Brüsten auf mein Gesicht. Er löst sich vom Türrahmen und schlendert mit einem Blick auf mich zu, den ich nur zu gut kenne und der ein vertrautes Kribbeln zwischen meinen Schenkeln verursacht.
„Malyshka“, raunt er. Nikolais Kosename für mich rollt ihm herrlich über die Lippen, während er hinter mich tritt und sein Gesicht in meine Halsbeuge legt. Meine Haut kribbelt in dem Moment, in dem seine Hände meine Hüften packen und mich zurück an seine Erektion ziehen. Ich seufze, während ich hinter mich greife und mit meinen Fingern durch sein Haar fahre. „Nikolai.“
„Hast du Lust auf eine schnelle Nummer?“, raspelt er in meine Ohrmuschel, während er an den Bändern meines Bikinis zieht und das Oberteil auf den Boden zu unseren Füßen fallen lässt. Meine Brüste fühlen sich schwer an vor Verlangen. Nikolai weiß, wonach sich mein Körper sehnt und nimmt sie in seine Handflächen.
„Ich habe auf alles Lust, was mein Mann mir geben will.“
Meine Worte sind die einzige Ermutigung, die er braucht. Mit einem Knurren beugt Nikolai mich nach vorne, bis meine Hände fest auf dem Bett vor mir liegen. Meine Badehose wird mir von den Beinen gerissen und in der nächsten Sekunde ist Nikolai in mir. Ich schreie: „Oh, Gott!“
Dann beweist mir mein Mann, dass es auch eine schnelle Nummer in sich hat, und ich beweise ihm, dass ich wirklich immer Lust auf ihn habe.
Als Nikolai und ich auf die Party zurückkehren, werfen mir Alba und Bella einen wissenden Blick zu. Ich werde rot. „Was?“ Ich schaue zwischen den Schwestern hin und her.
Bella grinst. „Du hast vergessen, dein Schlafzimmerfenster zu schließen.“ Alba kichert über meinen verblüfften Gesichtsausdruck.
„Oh mein Gott.“ Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. „Bitte sag mir, dass uns sonst niemand gehört hat.“
Alba beißt sich auf die Lippe. „Ähm, ich bin mir ziemlich sicher, dass Gabriel es mitbekommen hat. Denn kurz darauf hat er die Musik aufgedreht.“
„Na toll. Ich werde ihm nie wieder in die Augen sehen können.“
Auf mein Geständnis hin bricht Alba in Gelächter aus.
„Halt die Klappe“, lache ich, während ich mich an den Rand des Pools setze und sie mit Wasser bespritze. Bald zieht unser Gelächter die Aufmerksamkeit von Mila, Sofia, Emerson, Grace und Glory auf sich.
„Was ist so lustig?“, fragt Mila und watet zu uns herüber. „Nichts“, lüge ich und werde noch röter.
Glory, die auf einem monstergroßen, aufblasbaren Flamingo sitzt und an einer Margarita nippt, senkt ihre Sonnenbrille und mustert mich von oben bis unten. Und dann sagt sie mit ernstem Gesicht: „Unsere süße Leah hat sich gerade einen guten Volkov-Schwanz gegönnt. Diesen Blick erkenne ich überall.“
Ich kann nicht fassen, was ich soeben gehört habe.
„Mein Gott, Glory. Denk manchmal vielleicht erst nach, bevor du sprichst, ja?“, tadelt Grace ihre beste Freundin.
„Wo bleibt denn da der Spaß?“, kontert sie. „Wenn du nicht ehrlich zu deinen Freundinnen sein kannst, zu wem denn dann?“
Dann fügt sie hinzu: „Außerdem ist es ja nicht so, dass die Männer dort drüben nicht den gleichen Scheiß machen. Sie kratzen sich an den Eiern und beglückwünschen sich gegenseitig zu ihrem Erfolg.“
Acht Augenpaare drehen sich um und schauen dorthin, wo sich die Männer versammelt haben. Als ob sie spüren würden, dass wir über sie sprechen, drehen die Männer ihre Köpfe. Wir brechen in schallendes Gelächter aus.
Stunden später, als die Sonne unterzugehen beginnt, stehe ich am See und denke kurz darüber nach, wie perfekt der heutige Tag war, als eine Hand mein Haar aus dem Nacken streicht und Nikolais warme Lippen sich auf die Stelle unter meinem Ohr legen. „Was machst du hier so ganz allein, Malyshka?“
Ich schmiege mich in Nikolais Umarmung und starre hinaus auf die Sonne, die über dem Wasser untergeht. „Ich denke nur nach.“
„Worüber?“
„Darüber, wie glücklich ich bin.“
„Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, oder? Dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um dir zu geben, was du verdienst.“
„Ich weiß, dass du das tun würdest, und das machst du schon jetzt.“
„Ich möchte nicht, dass du jemals das Gefühl hast, etwas zu verpassen.“
„Ich habe nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Ich weiß, dass manche Frauen danach streben, das College abzuschließen und Karriere zu machen, aber das ist nicht mein Traum, Nikolai. Mein Traum war es immer, eine richtige Familie zu haben, zu lieben und geliebt zu werden.“
Nikolai legt seine Arme um mich und wiegt meinen wachsenden Bauch in seinen Handflächen. Ich lächle, als unsere Tochter sich mit Saltos bemerkbar macht, die sie immer macht, wenn sie Nikolais Stimme hört. Noch im Mutterleib und schon ein Papamädchen.
„Danke“, sagt Nikolai.
Ich lehne meinen Kopf zurück und schaue zu ihm hoch. „Wofür?“
„Dafür, dass du mich liebst, meine Frau geworden bist und mir ein Kind schenkst. Du und das Baby seid meine Welt. Du hast mir alles gegeben, was ich je in meinem Leben zu erreichen hoffte.“ Dann küsst er mich.