Meta Jurkschat merkte, dass sie schweigsam war auf der Fahrt nach Klein-Flottbek zum Gymnasium, wo ein paar Schüler vor einer guten Woche die Leiche von Thorsten gefunden hatten. Adam schien sich erst über ihr Schweigen zu wundern, er rutschte ein bisschen hin und her auf dem Beifahrersitz. Die Osdorfer Landstraße zog sich nach Westen wie die trostlose Geschäftsstraße zwischen zwei südlichen amerikanischen Kleinstädten, Fast-Food-Filialen, Autohändler, Baumärkte, scheinbar von der Sonne versengt, in Wahrheit wohl eher ausgewaschen vom Regen, der für zwei, drei unerklärliche Wochen verschwunden war. Nach einer Weile döste Adam ein, oder er verhielt sich so, als wäre er.
Finzi rief an, aber Meta drückte ihn weg über die Freisprecheinrichtung. Sie war in Gedanken bei Thorsten, und sie konnte sich nur auf einen Mann zur Zeit konzentrieren.
Sie wäre gern mal nach Amerika gefahren, aber Thorsten wollte immer nur wandern oder klettern oder beides, zwischendurch Mountainbike oder was mit Neopren. Im Prinzip war’s ihr recht gewesen, sie mochte es, durchtrainiert zu sein und überall mithalten zu können. Davon profitierte sie immer noch, sie war in Form. Im Gegensatz zu Adam, der langsam ein bisschen die Konturen verlor.
Das war das Problem. Dass sie von Anfang an das Gefühl gehabt hatte, bei Thorsten mithalten zu müssen. Sie hatte sich nie entspannt in seiner Gegenwart, es gab immer was in seinem Blick, das ihr sagte, sie wäre für irgendwas nicht gut genug. Etwas zog sich zusammen in ihr, ein ungutes Gefühl, das sie nicht gespürt hatte, seit sie ihre Sachen vor drei Jahren zu Finzi gebracht hatte. Sie hatte sich selbst nicht gemocht, als sie mit Thorsten zusammen gewesen war. Und es hatte nicht unbedingt daran gelegen, wie er sie angesehen und wie er mit ihr geredet hatte. Das Gefühl war indirekter. Es lag daran, dass sie geblieben war, obwohl er nie mit ihr zufrieden gewesen war.
Doch, dachte Meta Jurkschat. Thorsten war jemand gewesen, bei dem es ihr im Nachhinein nicht undenkbar erschien, dass jemand ihn hatte umbringen wollen. Dass jemand sich mit aller Macht hatte befreien wollen von ihm.
Vor zwei oder drei Nächten hatte sie geträumt, sie wäre es gewesen, die Thorsten umgebracht hatte. An etwas annähernd Radikales hatte sie während der Zeit mit ihm niemals gedacht, sie hatte nie Gewaltphantasien, damals nicht und heute auch nicht. Also, fast nie. Aber im Nachhinein ergab es Sinn, zumindest im Traum. Dass sie ihn damals umgebracht und seine Leiche in irgendeiner hintersten Ecke versteckt hatte. Es fühlte sich richtig an, auch wenn es sie im Traum bedrückte.
«Weißt du, was ich neulich geträumt habe?», fragte sie, als sie sich der Schule in Flottbek näherten.
Danowski rieb sich die Augen. «Komm ich drin vor?»
«Nein.» Als sie weitersprechen wollte, hob er wie dankend die Hand und schüttelte kurz den Kopf. Okay. Sagte sie eben nichts.
Es war kaum vierzehn Uhr, als sie den Wagen auf den Lehrerparkplatz stellte. Das Gymnasium Klein-Flottbek war ein rotes Backsteingebäude in der klassischen Feuerzangenbowle-Schulform, wilhelminische Architektur, vermutete sie. Bevor sie Thorsten kennengelernt hatte, hatte sie sich für so was interessiert, Architektur. Was einen sonst so umgab. Danach nur noch Sport und Körper. Der Fahrradhof war fast leer, das ganz Gebäude umwehte ein Schleier der Verlassenheit.
Adam dachte offenbar das Gleiche. «Sind doch erst in einer Woche Ferien», sagte er.
Sie nickte. Die Hausmeisterloge war leer. Auf den glänzend beige gefliesten Fluren kam ihnen kein Kind entgegen. Es roch nach Reinigungsmitteln, Turnschuhen und Schulbroten. Sie sah, wie Adam sich die empfindliche Nase rieb. Aus den Fundkisten quollen die aufgegebenen Markenklamotten der vorigen Jahreszeit. Dahinter eine Vitrine mit Töpferarbeiten, die nicht ganz maßstabsgetreue Sonnensystem-Scheiben darstellten, dort bogen sie ab in den Gang, der mit «Schulbüro/Schulleitung» beschildert war. Ein älterer Mann in graublauem Kittel und mit Gummihandschuhen war dabei, mit einem viel zu kleinen Schwamm für die Beseitigung eines roten Graffitos zu kämpfen.
eichenfrei
paß dabei
las Meta Jurkschat und dachte sich den Rest.
«Witzig», sagte Adam in diesem nüchternen Tonfall, der sie insgeheim wahnsinnig machte.
Der Hausmeister hielt inne und nickte ihnen zu. «Ohne Worte», sagte er.
«Kann man ja so nicht sagen», sagte Adam und ging weiter. Sie hingegen blieb stehen.
«Haben Sie die Schüler nach Hause geschickt?», fragte sie.
«Also, ich nicht», sagte der Hausmeister, leicht gebückt, grauer Bürstenhaarschnitt. Er sah eher aus wie ein Rentner, der das hier in seiner Freizeit aus Gewohnheit machte. «Aber der Direktor. Der Unterricht ist so gut wie eingestellt. Und Nachmittagsbetreuung ist hier jetzt so oder so nicht so das Thema, sag ich mal.»
«Weil die Kinder älter sind?»
«Ja, und die meisten Fünft- und Sechstklässler haben Mütter, die nachmittags zu Hause sind.» Er setzte den scharf riechenden Schwamm ans kleine e des Wortes, das «leichenfrei» heißen sollte. «Oder die haben Haushälterinnen in den Familien. Elbvororte, verstehen Sie, ne.»
Adam hatte schon die Tür zum Sekretariat aufgemacht.
«Sind Sie gleich noch da?», fragte sie den Hausmeister.
«Eigentlich nicht. Muss ich?»
«Eigentlich nicht. Aber besser wär’s.»
«Ich kann mir das nicht erklären. Echt. Vor meiner Nase. Ich sag Ihnen, so was macht einen fertig.»
Der Schulleiter war nicht älter als Adam, vielleicht nicht mal älter als sie, aber er sah aus wie ein Mann aus einer anderen Zeit: fleischig und gesetzt, seltsam beige und grau und erwachsen, mit moderner schwarzer Brille, aber für ein viel kleineres Gesicht, im karierten Hemd mit weit ausgestellten Ärmeln. Chinos und Wandersandalen ohne Strümpfe.
«Bei der Hitze», sagte er, als er ihren Blick merkte, und es klang eher triumphierend als entschuldigend. Dann winkte er mit den Zehen, bis er die Füße unter seinen Schreibtisch zurückzog.
«Markus Pringler», sagte Adam, mit einem Blick auf seine Notizen offenbar eine leichte Fassungslosigkeit wegen der Zehen überspielend.
«Schuldig im Sinne der Anklage. Und Sie sind …»
«Hauptkommissar Adam Danowski. Aber die Ermittlungen führt …»
«Die schöne Kollegin?» Der Schulleiter lächelte unverfänglich und streckte ihr die Hand hin. Sie zu ergreifen, hieß, seinem in diesem Kontext abwegigen Kompliment quasi das Gütesiegel der Akzeptanz zu verleihen. Sie auszuschlagen, würde bedeuten, einen womöglich wichtigen Zeugen gegen sich aufzubringen.
Sie nickte knapp und setzte sich, die Hände dicht am Körper. «Hauptkommissarin Meta Jurkschat.»
Pringler nahm ein Wasserglas mit seiner ausgestreckten Hand, als hätte er das von Anfang an vorgehabt. Über ein leichtes Aufstoßen sagte er: «Möchten Sie auch ein Wasser? Kaffee kann ich Ihnen leider nicht anbieten, uns sitzt der Rechnungshof im Nacken. Kaffee gibt’s für schulfremde Personen erst bei Besprechungen über neunzig Minuten. Ich hoffe, so lange wird das hier nicht dauern.» Er lachte in ihre Richtung. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihre Blusenknöpfe überprüfte.
«Können Sie einfach so auf eigene Faust den Schulbetrieb einstellen, eine Woche vor den Ferien?», fragte sie.
«Normative Kraft des Faktischen», sagte Pringler. «Es kommt kaum noch die Hälfte der Schüler, seitdem … Seit dem Vorfall.»
«Seitdem bei Ihnen an der Schule eine mumifizierte Leiche gefunden wurde.»
«Außerdem hat sich das halbe Kollegium krankgemeldet. Es gab da so einen gewissen Dominoeffekt, müssen Sie wissen. Irgendwann ist die kritische Masse erreicht, dann bricht der Betrieb zusammen. Mir ist das auch nicht recht, können Sie mir glauben. Und stellen Sie sich mal die Anmeldezahlen fürs nächste Schuljahr vor. Ich meine, der Zug ist lange abgefahren, aber Sie glauben gar nicht, wie viele Eltern jetzt noch versuchen, abzuspringen.»
Wie zur Bestätigung klingelte das Telefon. Pringler ignorierte es.
«Geisterschule», sagte Adam nachdenklich. «Leichenfrei.»
«Na ja», sagte Pringler. «Jetzt sind ja unsere Retter da. Vor allem unsere Retterin. Was gedenken Sie denn zu tun?»
«Die Listen, um die wir gebeten haben …»
«Sind hier», fiel er ihr ins Wort. Dann erzählte er, was sie schon von Karin Busche kannten: wie die hinteren Ecken eines Schulkellers in Vergessenheit gerieten, solange die Schule auf einen Beschluss, einen Plan und die Mittel zur Sanierung wartete. Sie waren nächstes Jahr dran.
Meta sah Adam von der Seite an, mit Nachdruck. Er verstand genau, was sie meinte: Mach du mal mit Mobbing weiter, ich brauch einen Moment.
«Mobbing?», wiederholte Pringler. «Spektakuläre Fälle in den letzten Jahren? Meine Güte, wir sind doch hier nicht bei Stern-TV oder so was. Ich hab ein hervorragend geschultes Kollegium, Vertrauenslehrer, die Schülervertretung macht ständig irgendwelche Seminare deshalb, wirklich, mit allem Pipapo. Sind aber mehr so kosmetische Maßnahmen. Denn insgesamt ist das bei uns nicht das Thema. Ist auch, ganz offen gesprochen, nicht das Umfeld dafür hier.»
Adam runzelte die Stirn.
«Alkohol, bisschen Komasaufen, das waren mal so die Themen. Jetzt geht’s eher darum, wie kriegen wir die Schüler vom Smartphone weg. Wir mussten ein paar Klassenchats verbieten in der Unterstufe, weil die Schüler da nicht altersgerechte Videos geteilt haben, statt sich über die Hausaufgaben auszutauschen. Aber Cybermobbing oder so was … Nee, ich klopf mal auf Holz. Bei uns gottlob nicht. Ist aber vielleicht auch ein Stück weit ein Medienphänomen.»
Adam streifte sie mit einem Blick von der Seite. Sie nickte so leicht, dass nur er es merken konnte.
«Wir hätten dann gern mal eine möglichst detaillierte Aufstellung von Ihnen darüber, was Sie im Jahr 2015 gemacht haben», sagte er.
«Wie bitte?»
«Also, am liebsten einen Terminkalender mit schriftlichen Erklärungen. Wie gesagt, fürs ganze Jahr.»
«Sie meinen, so eine Art …»
«Nennen Sie’s ruhig Alibi. Aber sehr viel globaler. Wir können den Todeszeitraum nur schlecht eingrenzen. Irgendwann im Jahr 2015 halt.»
«Wie kommen Sie darauf, dass ich …»
«Kommen wir gar nicht. Am liebsten würden wir das von allen, die hier an der Schule arbeiten, abfragen, aber dazu fehlen uns die Ressourcen. Fangen wir also ganz oben an. Der Fisch und so weiter.»
Mit Genugtuung registrierte Meta, dass Pringler nicht mehr sie ansah, sondern auf seine Tischplatte starrte wie ein Schüler, der gerade eine richtig fette und richtig ungerechte Strafarbeit bekommen hatte. Zum Abschied streckte sie ihm die Hand hin. Seine war selbst für den warmen Tag etwas zu feucht.
Der Winkel, in dem Thorstens Leichnam gelegen hatte, verschlug ihr den Atem. Die Kollegen hatten ihn freigegeben, er sah aus wie jeder andere verräumte und verkramte Keller. Was für ein elendes, spitzwinkliges Loch unter der Treppe.
Der Hausmeister schüttelte resigniert den Kopf, als sie das Gleiche von ihm verlangten wie vom Schulleiter. «Glauben Sie, ich schreib mir auf, was ich das ganze Jahr über mache?»
«Nein», sagte Adam. «Stichpunkte reichen.»
Sie nickte. Molkenbuhr und Kalutza waren längst dabei, die Vorgeschichten und Hintergründe von Leuten wie dem Hausmeister durchzukämmen nach irgendetwas, was eine Verbindung zu Thorsten oder zu Frank Jablonski hätte sein können. Bisher ohne jeden Erfolg.
«Und eine Liste von allen Leuten, die 2015 Schlüssel hatten zu den Kellerräumen hier», sagte sie.
«Die kann ich Ihnen gleich geben», sagte er. «Die ist recht überschaubar. Und die ganzen Schulschlüssel können Sie nicht nachmachen lassen ohne jede Menge Papierkram.»
Theoretisch, dachte Meta mit einer leichten Müdigkeit. Sie schlief schlecht. Praktisch gab es im Großraum Hamburg mindestens ein Dutzend sogenannte heiße Schlosser, die einem alles duplizierten, was man ihnen vorlegte.
«Kann ich den Rest jetzt wegschmeißen?», fragte der Hausmeister, denn Adam hatte angefangen, sich mit spitzen Fingern die aufgewickelten alten Schaubilder anzuschauen, hinter denen die Schüler Thorstens Leiche gefunden hatten. «Ich meine, die, wo so Leichensachen dran waren, haben Ihre Kollegen mitgenommen, und bei denen hier haben sie nichts gefunden. Fingerabdrücke oder so. Die können weg, oder?»
Adam nickte geistesabwesend. Dann entrollte er ein Schaubild, an dessen Oberseite man lesen konnte, dass es um «Fluß- und Meerestiere Schleswig-Holstein» ging. Er drehte sich zu ihr und hielt die Schautafel wie ein Kartenständer, sodass er fast ganz dahinter verschwand. Die Kollegen hatten im Keller ein paar gute alte 90-Watt-Birnen eingedreht, darum konnte sie alles genau erkennen.
«Zufall oder Absicht?», fragte Adam von hinter dem Bild. Sein Arm zeigte um die Kante, vage in die Bildmitte. Ein aalartiges Tier mit neun Kiemenöffnungen und einem runden Maul mit spiralförmig angeordneten Zähnen. Ein Abgrund von einem Maul. Neunauge.
«Nimm mal mit», sagte sie. Adam nickte.
«Thorsten Stahmer und ein Fisch namens Neunauge. Meta, fällt dir dazu irgendwas ein?»
Sie betrachtete die Abbildung des fremden Tieres.
«Hat er gefischt oder so?»
«Früher vielleicht. Nicht zu unserer Zeit. Obwohl, kann schon sein. Ich weiß es nicht.»
«Ist er mal im Urlaub gebissen worden von so einem Biest oder so was?»
«Nein. Quatsch. Diese Bisse sind total selten.»
«Irgendwo tot aufgefunden zu werden, ist auch total selten. Das ist also kein Kriterium.»
Neunauge. Ihr fiel nichts dazu ein. Außer, dass die Zahl neun … Einmal hatte sie Thorsten gefragt: Findest du mich schön?
Warum eigentlich? Warum fragte man so was? Weil man verliebt war, oder weil man Angst hatte, der andere war es nicht genug? Was für eine Antwort erwartete man darauf, außer: Natürlich, unbeschreiblich?
Sie wusste es nicht mehr, es erfüllte sie mit Scham. Aber sie erinnerte sich, was Thorsten gesagt hatte: Du bist eine Siebeneinhalb, aber für eine Polizistin bist du eine Neun.
«Irgendwas mit der Zahl neun?», fragte Adam. Manchmal vergaß sie, wie gut er sie kannte.
Für eine Polizistin bist du eine Neun. Aber eigentlich eben nur eine Siebeneinhalb. Diese Art, wie er es schaffte, einem in den Kopf zu kommen. Eine Siebeneinhalb, und wenn er das sagte, musste man, und wenn es noch so kurz war, darüber nachdenken, warum er das nicht auf acht aufrundete, oder ob siebeneinhalb am Ende schon übertrieben war, und eigentlich meinte er sieben oder sechs, kurz über Durchschnitt.
Sie hatte zu viel mit Männern zu tun. Sie brauchte irgendeine Freundin.
«Meta? Irgendwas mit Zahlen?»
Sie schüttelte den Kopf.