«Ich weiß, dass die Kollegen den Mann hierhergebracht haben.»
«Und warum fragen Sie dann nicht einfach die Kollegen?» Die Krankenschwester machte sich nicht einmal die Mühe, die Kühlschranktür des Aufenthaltsraumes zu schließen, während sie mit Finzi sprach. Offenbar war sie darauf eingestellt, das Gespräch kurz zu halten.
«Die Kollegen haben gesagt, er ist noch hier.»
Sie musterte ihn in seinen Radfahrershorts, seine Körpermitte war genau in ihrer Augenhöhe.
«Gucken Sie ganz in Ruhe, bis Sie sich sattgesehen haben», sagte Finzi.
«Gibt ja nicht viel zu sehen. Muss am kalten Luftzug liegen. Ich mach mal lieber den Kühlschrank zu.» Sie nahm sich einen Vanillepudding und knallte die Tür zu.
«Kleiner Typ, Ende dreißig, Anfang vierzig, schwer zu sagen, innere Verletzungen. Vor drei Tagen gegen Mittag hier mit dem Rettungswagen angekommen.»
«Ich weiß nicht, ob Sie ansonsten hauptsächlich mit Leuten zu tun haben, die auf dem Radweg die Hundekacke nicht weggemacht haben, aber Sie würden sich wundern, auf wie viele Personen diese Beschreibung zutrifft.»
«Schon klar.»
«Zwei oder drei bestimmt.»
«Er war ganz gut angezogen und hatte einen blauen Rucksack dabei.»
Sie blieben auf dem Gang stehen und musterten einander unschlüssig. Die Krankenschwester fing an, ihren Vanillepudding zu löffeln. Mitte vierzig, große Hände, praktische Frisur. Eigentlich genau sein Typ. Früher mal. Vor Meta.
«Okay», sagte Finzi. «Wenn Sie wollen, dürfen Sie mir einen Blasenkatheter legen. Aber nur die ersten paar Zentimeter. Dafür sagen Sie mir, ob mein Mann noch hier ist oder ob ich auf der Intensivstation suchen soll.»
Sie musterte ihn abschätzig und fing an, auf dem Becherboden rumzukratzen.
«Kein Interesse.»
«Was denn? Soll ich mich vornüberbeugen und zweimal tief husten?»
«Hier auf dem Gang?»
«Wäschekammer, Schwesternzimmer, mir ganz egal.»
«Kleine Hafenrundfahrt?»
«Mit Handschuh?»
«Mit Handschuh, ohne Vaseline.»
«Große Hafenrundfahrt, dafür mit?»
«Oder was ganz anderes.»
«Viel mehr hab ich nicht anzubieten. Ich könnte meinen Körper später noch der Wissenschaft vermachen.»
«Sehe ich so aus, als würde ich mich für Wissenschaft interessieren? Ich bin Handwerkerin.»
«Hauptsache, es geht schnell. Wie Pflasterabreißen.»
«Wo möchten Sie denn das Pflaster? Da, wo’s schön ziept?»
«Okay. Ich schau auf der Intensivstation.»
«Momentchen noch.» Bevor sie weitersprach, leckte sie den überhängenden Aludeckel des Puddingbechers ab und warf den ganzen Behälter dann fast ohne hinzusehen in den Papiermüll. «Erst kommen Sie mit auf die Zwosechzehn.»
«Wofür jetzt genau? Ich würd mich nur vorher gern drauf einstellen. Ich hab da so spezielle Lockerungsübungen.»
Sie ging vor und machte ihm die Tür auf. Während er eintrat, sagte sie schnell und leise: «Dreizehn Jahre alt, Fahrrad gegen Auto, zu cool für den Helm. Schwere Gehirnerschütterung, Platzwunde, halben Meter näher am Bordstein und wir würden hier über ein offenes Schädel-Hirn-Trauma reden, oder besser gesagt, wir würden über gar nichts reden. Dem erklären Sie jetzt, dass ich Sie extra geholt habe, damit Sie ihm den Arsch aufreißen. Und Ihr Mann mit dem blauen Rucksack ist auf der Zwozwölf.»
Finzi nickte und setzte, während er ans Krankenbettende trat, sein bestes Na-wen-haben-wir-denn-hier-Gesicht auf.
Nachdem er einen etwa zehnminütigen Vortrag über die Vor- und insbesondere Nachteile von Schädelfrakturen gehalten und dabei mehrfach seinen eigenen blau-silbernen Helm wie eine Monstranz vor sich in die Höhe gehalten hatte, schlüpfte Finzi in Zimmer 212. Zu den vier Betten führte ein kurzer Gang mit Garderobe und Tür zum Bad, und auf diesem hielt er kurz inne. Finzi hasste Krankenhäuser und ihre Gerüche, und ihm war klar, dass er damit keineswegs eine originelle Abneigung hatte. Dennoch fand er, dass er mehr biographisches Recht auf seine Phobie hatte als andere. Die meisten Leute verabscheuten Krankenhäuser, weil sie sie daran erinnerten, wie schwach und krank sie eines Tages vermutlich sein würden, und vielleicht schon morgen. Ihn hingegen erinnerten sie daran, wie schwach und krank er bereits gewesen war, in der Vergangenheit, während seiner jahrelangen intensiv betriebenen Aktivitäten im Bereich des Alkoholmissbrauchs. Hier, in genau so einem Viererzimmer im UKE aufzuwachen, das war ihm zwei- oder dreimal gelungen, und jedes Mal hatte es das Gleiche bedeutet: dass er aus damaliger Sicht Gott sei Dank oder doch eben eher leider noch mal davongekommen war.
Zwei Betten waren belegt, das am Fenster und das am Bad, ein leeres in der Mitte war frisch bezogen, das daneben notdürftig wiederhergerichtet. Finzi schnaufte. Warum war er überhaupt optimistisch gewesen. Und welchen Grund hatte er, wo er gerade schon dabei war, sich und sein Verhalten in Frage zu stellen, um sich überhaupt zu interessieren für einen, den er halbtot im Gebüsch gefunden hatte und der spätestens seit dem Moment seines Abtransports nicht mehr Finzis Problem war?
Finzi räusperte sich. Ein junger Mann im Bett am Fenster, den Finzi für einen Türken hielt, schlug die Augen auf. Der alte Mann im Bett am Bad starrte mit festem Blick an die Decke. Seine dritten Zähne lagen auf dem Rolltisch.
Finzi interessierte sich für Männer, die er halbtot aus dem Gebüsch gezogen hatte, weil die nächste Fahrradschulung erst in einer knappen Woche war, weiter westlich Richtung Schnelsen, und weil er selbst früher das eine oder andere Mal blutend aus einem Gebüsch gekrochen war und diese Phase seines Lebens vielleicht nicht ganz so lange gedauert hätte, wenn sich einer zwischendurch mal nach ihm erkundigt hätte. Zwischen den beiden leeren Betten stand ein Infusionsständer mit zwei halbleeren Tüten und Plastikschläuchen mit Kanülen, die ein wenig im Zug der gerade geschlossenen Tür wackelten.
«Scheiße», sagte der junge Türke. «Ich hab nicht gewusst, dass die Bleche falsch sind, die waren …»
«Geht klar, kein Thema, das mit den Blechen haben wir alles geklärt», unterbrach ihn Finzi.
«Schwören Sie?»
«Klar. Würde ich sofort. Wenn ich wüsste, worum es geht. Mich interessiert aber nur, wo der Typ ist, der hier gelegen hat.» Er zeigte auf das schlecht gemachte Bett.
«Der Chef.»
«Der Chef?»
«So hat der sich vorgestellt. Ich geb ihm die Hand, er schlägt ein und sagt: ‹Ich bin Chef.› Kotzt mich an, wenn alle denken, Türken verwenden keine Artikel. Außerdem hab ich deutsche Staatsbürgerschaft.»
«Die.»
«Das war ein Witz.»
Finzi musste ein bisschen lächeln. «Okay, wo ist Chef?»
«Ausgecheckt. Bevor die Bullen kommen. Das hat er wortwörtlich so gesagt. Fand ich ziemlich theatralisch. Und wenn, dann hatte ich mir das anders vorgestellt, wenn die Bullen kommen.» Der junge Mann machte eine vage, aber abfällige Kinnbewegung in Richtung von Finzis Radlershorts.
«Und wann?»
«Zehn Minuten, Viertelstunde. Aber er hat sich wahnsinnig aufgeregt, weil die Schwester ihm seinen Rucksack nicht geben wollte. Die haben sich schon gedacht, dass er abhauen will. Das war so ’ne Art Pfand für die. Die wollten ihn noch fünf Tage hierbehalten, dem hat ja die Naht noch genässt.»
Im Schwesternzimmer holten sie ihm den blauen Rucksack aus dem Spind.
«Lag denn was gegen den vor?»
«Nee», sagte Finzi und fand den Rucksack vielversprechend leicht. «Dann hätten wir den ja bewacht.»
Die gleiche Schwester wie vorhin hatte jetzt, wo er ihren Gehirnerschütterungspatienten bearbeitet hatte, deutlich weniger Interesse an ihm.
«Und was glauben Sie», fragte Finzi, «kommt der zurück?»
«Wenn er Glück hat», sagte sie. «Er hatte eine OP an der Milz, die Bauchnaht und die Rippen dürften ihm zu schaffen machen, und vor allem braucht er noch ein paar Tage Infusionen.»
Finzi nickte. Als sie draußen war, machte er das Hauptfach vom Rucksack auf und kippte den ganzen Inhalt auf den Kaffeetisch der Schwestern und Pfleger. Ein Baumwoll-Pulli, ziemlich schmuddelig, ein zusammengerolltes Sakko in der Farbe der Anzughose, an die Finzi sich erinnerte, eine kleine Waschtasche, eine Edeka-Tüte mit, wie Finzi durch Abtasten feststellte, Schmutzwäsche. Kein erfahrener Stadtstreicher. Und: kein Ausweis oder so was, keine Brieftasche. Der Mann hatte sich geweigert, seinen Namen zu sagen. Vermutlich waren ihm seine Unterlagen und sein Geld geklaut worden, oder er hatte die Sachen woanders bei sich getragen, näher am Körper.
Vorn in der kleineren Tasche, in der die Eltern, die diesen Rucksack liebten, die Reiswaffeln und Trinkpäckchen von Alnatura für ihre Kinder unterbrachten, bevor sie sie damit zum Musik- oder Schwimmunterricht schickten, fand er Taschentücher, ein paar Münzen und in einer A5-Klarsichthülle drei oder vier zusammengefaltete Blätter, Karopapier, wie aus einem Schulheft gerissen. Und den Aufkleber einer Prepaid-SIM-Karte, mit dem man sich seine eigene Nummer merken konnte. Den hatten die Kollegen entweder übersehen, oder es hatte sie nicht so besonders interessiert, wer die hilflose Person aus dem Gebüsch war. Finzi nahm sein eigenes Telefon und fotografierte die Nummer. Wenn der Mann mit der geflickten Milz sein Telefon gerettet hatte und am Körper trug, konnte er ihn auf die Weise vielleicht finden.
Der Papierkram entpuppte sich als eine Liste oder Tabelle mit unverständlichen Einträgen. In einer Spalte untereinander Daten, die bis in die frühen Zweitausender zurückreichten. Dann eine Spalte, in der offenbar Orte oder ihre Abkürzungen aufgelistet waren. Ganz am Anfang einmal ausgeschrieben «King Horse», dann in der Folge «KH».
Von wegen Kiosk. King Horse. Das war eine Kneipe am Rand vom Kiez Richtung Altona, an die er sich dunkelbraun erinnerte. Darum hatte er gedacht, der andere hätte «Kiosk» gesagt, weil er davon ausgehen musste, dass die Erinnerung an seine Sauftouren die Wirklichkeit überschrieb. Aber er hatte richtig gehört.
Finzi kniff die Augen zusammen, weniger, weil die Handschrift klein oder unleserlich gewesen wäre, im Gegenteil; mehr, weil er immer älter und leseblinder wurde. Auf dem Fahrrad merkte er das nicht so. King Horse. Dann: «SS», das stand für Super Sputnik. Und noch zwei, drei Abkürzungen mehr, die ausgeschrieben für Läden standen, in denen Finzi vor vielen Jahren auch schon abgestürzt war. Dann eine Spalte mit einer Art Code, «HB7», «HB6», sein Blick glitt ratlos darüber. In der letzten Spalte Symbole, die er gar nicht verstand, weshalb ihm umso klarer wurde, worauf er sich hier eingelassen hatte.
Viele von denen, die in die Obdachlosigkeit verschwanden, hatten irgendeine Art von psychischer Krankheit. Paranoia, Schizophrenie, Bipolar, er war da kein Experte, aber er hatte oft genug vergleichbares Gekritzel gesehen, um das Aufzeichnungssystem eines Verrückten zu erkennen. Diese hilflosen Versuche, die sie alle unternahmen, um dem Chaos der Welt irgendeine Art von Sinn zu entlocken. Gesunde taten das im Kopf und mit den Geschichten, die sie einander und sich selbst erzählten. Irre, indem sie Namen, Codes und geheimnisvolle Symbole in Tabellen kritzelten.
Finzi drehte das erste Blatt um, weniger aus Interesse, mehr, um Zeit zu gewinnen, während er sich über eine Sache klar wurde: Nämlich, dass er gerade dabei war, die Verantwortung für das weitere Schicksal eines psychisch gestörten Obdachlosen zu übernehmen.
Noch konnte er gehen. Er schuldete niemandem was.
Dann sah er, dass ein paar Namen auf der Rückseite standen, die jemand mühevoll ausgeschwärzt hatte, als hätte er sich beim Telefonieren ablenken wollen oder einfach nicht mehr aufhören können mit dem Übermalen, die Namen waren geradezu vernichtet.
Nur ein Name stand noch da.
Meta Jurkschat.