28. Kapitel

Vor ihm verschwand Jurkschat, und Danowski nahm es als gutes Zeichen: Wenn sie sich unsichtbar machen konnte, dann er auch gleich, und das war schon mal ein Fortschritt, unsichtbare Ziele waren sehr schwer zu treffen. Bis dahin: einfach in Bewegung bleiben, solange die Oberschenkel mitmachen. Er ließ sich mit jedem gebückten Schritt das Gesicht peitschen vom Unterholz wie in einem für ihn erfundenen Bestrafungsritual.

Ein paar Meter tiefer merkte er, dass Jurkschats Unsichtbarkeit wie jede Zauberei am Ende leicht zu erklären war: ein morastiger Graben zwischen dem Forstweg und dem Waldrand, in den erst sie und jetzt er gerutscht war. Mit einem sanft schmatzenden Geräusch kam er neben ihr zu liegen, wie sie in Berlin zu sagen pflegten. Er sehnte sich nach zu Hause. Und zwar nicht in den dusseligen Hainbuchenweg, Nähe Stadtpark, City Nord und Polizeipräsidium, auch nicht so richtig nach Finkenwerder und Selbstverteidigung mit Stella und Martha im Garten, stellte er mit schlechtem Gewissen fest, sondern mehr so nach früher, einschlafen am Schlachtensee, Hängematte im Garten in der Kaiserstuhlstraße, er allein abends immer noch draußen, obwohl es längst dunkel war, aber hatten sie da überhaupt je eine Hängematte gehabt? In seiner Erinnerung passte es nicht zu seinem Vater und nur bedingt zu seiner Mutter. Für einen Moment wurde sein ungutes Gefühl, sich hier im Morast vor einem zu verstecken, der auf sie geschossen hatte, von einer weiteren Beklommenheit überlagert: Er musste sich dringend bei seinen Brüdern in Berlin melden, sie mussten beratschlagen, was sie mit dem Haus ihres Vaters machen sollten. Er ahnte, dass das schwierig werden würde. Friedrich oder Karl würden da einziehen wollen, einer oder beide, das Haus war groß genug für zwei Familien, aber sie hatten kein Geld, um ihn auszuzahlen, und wollte er das überhaupt? Wäre es nicht besser, alles zu verkaufen und Berlin endlich hinter sich zu lassen? Und fiel einem, wenn man sein Leben bedroht fand, auf den letzten Metern immer noch allerhand ein, das man dringend erledigen musste? Vielleicht war die offene To-do-Liste die kleine Schwester der Todesangst.

Er spürte Jurkschats Hand am Oberarm und sah in ihre glatten, dunklen Augen über sich, und für einen kleinen Moment hatte er die Illusion, sie wäre transparent und durch ihre Augen liefen die leuchtenden Wolkenfetzen des Nachthimmels. Sie legte hart den Finger auf ihre Lippen, als hätte er jetzt einen Vortrag halten können. Danowski wollte sich zur Seite drehen, aber sie hielt ihn fest.

Schritte vom Weg. Drei, dann vier, eine Pause, noch mal zwei. Danowski dachte an Stiefel und einen schweren Menschen. Dann ein metallisches Einrasten. Keine zehn Meter hinter ihnen regneten die Blätter von den Bäumen, als wollte jemand den Herbst erzwingen. Der Schall reiste durch den Nachtwald wie auf einem Reisigbesen.

Er hörte, wie Jurkschat seufzte, aber mehr so Richtung: Meine Güte, wie blöd kann man sein.

«Schrot», zischte sie in seine Richtung, aber die Information änderte nichts an der Tatsache, dass er nichts davon abkriegen wollte. Jurkschat, die ihn insgesamt gesehen doch immer mal wieder erstaunte, inzwischen viel häufiger als früher, richtete sich halb auf, bis ihre Knie fest im Morast ruhten, und rief nach links in die Dunkelheit: «He! Feuer einstellen!»

Danowski packte sie an der schmalen Schulter, aber sie war wie immer stärker, als er gedacht hätte, und bewegte sich nicht einen Zentimeter, sondern lauschte gespannt zum Forstweg.

«Bist du bescheuert?» Das konnte man nicht flüstern, aber er gab sich Mühe. Feuer einstellen. Wer sagte so was.

Vom Weg hörte er jemanden auf Plattdeutsch fluchen, verschiedene Wortbildungen mit Schiet waren unverkennbar.

«Aufhören zu schießen», rief Jurkschat noch mal, und er war dankbar für die aus seiner Sicht klarere Ansage.

«Was seid ihr für Schwachköppe!»

Jurkschat zog ihn hoch. Sobald er stand, spürte Danowski den Matsch an seinen Jeansknien. Mit zwei Schritten waren sie auf dem Weg. Es war nicht der erste Jäger, den Danowski in seinem Leben gesehen hatte, aber über ein bisschen Gamsbarthut und Lodenjoppe hätte er sich schon gefreut. Stattdessen dunkle Funktionsjacke, Wanderhose, Laufschuhe, die Flinte glänzte im Mondlicht wie ein kostbares Küchengerät, alles ganz edel, da mochte jemand Ausrüstung, dünne Mütze sportlich ganz weit in den Nacken geschoben. Ende fünfzig, mehr Fleisch im Gesicht als sonst wo am Körper, schwitzend, da half das ganze atmungsaktive Zeug nichts.

«Habt ihr sie noch alle, hier im Dunkeln rumzuhuschen?» Danowski kannte den Holsteiner Sound von seinen Ostseeferien und von der einen oder anderen Ermittlung früher am Stadtrand: Man wusste nie so ganz, ob man gerade angefrotzelt oder zur Sau gemacht wurde. Er beschloss, das alles erst mal Jurkschat zu überlassen. Was offenbar sowieso ihr Plan gewesen war.

«Können wir nur zurückgeben, die Frage», sagte sie, «vor allem, weil ja wohl Schonzeit ist. Ist ja lebensgefährlich, hier einfach so rumzuballern.»

Aber das war ein Fehlgriff. Der andere legte sich die Flinte über die Schulter, als wollte er den Städtern zeigen, dass man in ihrer Gegenwart sowieso nichts anderes tun konnte als lang zu schnacken.

«Nee, Mädchen», sagte er, als wäre ihm der Buchstabe d unbekannt, «is zwar nicht gerade Hochsaison, aber für Rehböcke is nur im Frühjahr Schonzeit. Außerdem weißt du ja nicht, ob ich auf Waschbären gehe, die haben gar keine.» Offenbar, stellte Danowski fest, gab es in Norddeutschland nicht nur das Golfplatz-Du, sondern auch das Auf-freier-Wildbahn-fast-abgeknallt-Du.

«Sehen wir aus wie Waschbären?», fragte Jurkschat.

«Du nich», sagte der Jäger unverschämt. «Aber er hier. Schon’n bisschen so Waschbären-Statur, nicht wahr. Vor allem die Hände.»

«Das sind sehr intelligente Tiere», sagte Danowski, der insgesamt dankbar war, in den nächsten Minuten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erschossen zu werden. Andererseits immer ärgerlich, wenn so was wie Schüsse in der Nacht nichts mit dem Fall zu tun hatten, weil das dann hieß, dass man womöglich umsonst nachts hundertzwanzig Kilometer von zu Hause Richtung Hohwachter Bucht im Wald herumkroch.

«Die sind sogar zu intelligent», sagte der Jäger. «Zu intelligent, um sich nachts auf Privatgelände rumzutreiben. Sauerei ist das.»

«Wir haben uns verlaufen», sagte Danowski.

«Erzählt mir doch keinen Scheiß. Ihr kommt hier aus Hamburg rauf, keine Ahnung, warum, einer nach dem anderen, und macht hier irgendeinen Scheiß, brecht die Türen auf, schmeißt die Scheiben ein, irgendwelche Arschlöcher klauen die alten Tische und Stühle für ihre Möbelgeschäfte, so Hipsterkram, der ganze Retroschiet, ihr klaut alles, was nicht niet- und nagelfest ist, aber mir reicht das jetzt, ihr bumst hier rum oder was auch immer, ich hab den ganzen Schietkram jetzt abreißen lassen, letzten Herbst schon.»

«Dann gehört Ihnen das hier alles?», fragte Jurkschat und suchte offenbar was zum Schreiben.

«Aber sicher. Wem sonst.»

«Und Sie haben ans Waldheim verpachtet?»

«Bis die Arschlöcher pleitegegangen sind. Könnt ihr mal sehen. Typisch Pädagogen. Kriegen Fördermittel oben und unten reingeschoben, und dann setzen sie das Ding am Ende trotzdem in den Sand. Ich bin auf zwei Jahren offener Pacht sitzengeblieben. Und das Haus war auch runter.»

«Das Haus ist weg?», fragte Jurkschat.

«Absolut.» Triumphierend. «Nur der Container mit den Einbauten steht noch hier rum. Den Abtransport will der Insolvenzverwalter nicht zahlen. Mir egal. Da läuft zwar die ganze Zeit die Uhr, aber ich zahl das nicht mehr. Entweder ein neuer Investor, oder das kommt am Ende doch aus der Insolvenzmasse. Ich zahl da nichts.»

Jurkschat hatte jetzt doch ihren Polizeiausweis und die Dienstmarke rausgezuppelt.

«Darf ich mal Ihren Waffenschein und den Jagdschein sehen, bitte?»

Der Jäger holte eine kugelschreibergroße Stablampe aus der Innentasche, warf einen Blick auf Jurkschats Ausweis und sagte: «Interessiert mich erst mal gar nicht, mit dem Astra-Wappen da.» Aber seine Tonlage hatte sich verändert. Das Nassforsche ging inzwischen deutlich ins Klamme.

«Astra-Wappen ist ja eher ein Herz», sagte Danowski.

«Aber ich will man nicht so sein. Müsst ihr aber mit zu mir nach Hause kommen. Ich wohn auf der anderen Seite vom Wald, hinterm Gelände vom alten Waldheim. Könnt ihr euch auch gleich das Fundament angucken, das ich da gegossen habe. Also hab gießen lassen. Von Lütjenburg sind die gekommen, mit drei Betonmischern. Diese Woche. Ist noch nass. Nicht betreten, klar.»

Danowski warf Jurkschat einen Mondblick zu. Sie zuckte kurz mit der Unterlippe: Ja, der Typ war nicht in Ordnung, sah sie auch so.

«Versteh ich nicht», sagte Danowski.

«Du musst ja was machen, damit die Baugenehmigung erhalten bleibt. Baumaßnahmen einleiten und so was. Das Waldheim ist weg, aber ich hab für die nächsten Käufer ein schönes Betonfundament gießen lassen, fast vierhundert Quadratmeter. Ist noch frisch. Riecht ihr das nicht?»

Stadtnase. Danowski roch nur Wald und das verschossene Pulver vom Flintenlauf. Dafür war er empfindlich.

Jurkschat nickte. «Stimmt. Da ist Beton in der Luft.»

«Und was waren das für Arschlöcher aus Hamburg», fragte Danowski, «die hier immer wieder vorbeigekommen sind?»

Sie liefen jetzt hinter dem Jäger her, Waldspaziergang zu dritt, da unterhielt man sich doch.

«Keine Ahnung. Irgendwelche Typen. Seid ihr deshalb hier?» Mit einem leichten Anflug von Hoffnung.

«Wäre zumindest interessant für uns», sagte Jurkschat.

«Immer die gleichen zwei, drei Autos. Über Jahre. Immer mal wieder.»

«Ich glaube, Sie sind genau der Mann, der sich die Autonummern aufschreibt von Leuten, die sein Privatgelände betreten», sagte Danowski.

«Klingt negativ, wenn man’s so sagt, aber stimmt, ja, irgendwo hab ich die. Guck ich gleich.»

Jurkschat machte einen dunklen Walddaumen nach oben. «Sagt Ihnen vielleicht der Ausdruck ex silvis was, aus den Wäldern?»

«Klar. War das Motto von den Spinnern vom Waldheim. Groß über der Tür.»

Danowski nickte zu Jurkschat. Sie machte eine kleine Beckerfaust in Hüfthöhe, es sah ungelenk aus, und er musste lächeln. Jetzt brauchten sie nur noch die formale Bestätigung. Aber sie wussten, dass Thorsten Stahmer hier als Kind gewesen war. Und dass Frank Jablonski sich das Motto hatte stechen lassen, sagte im Grunde schon alles.

Das Licht aus dem Wald veränderte sich, es nahm eine etwas dichtere Qualität an, flächig, hellgrau. Durch die Bäume schien, was der Grundbesitzer hatte gießen lassen: das leicht trapezförmige graue Betonfundament, das feucht auf einer Lichtung vom Mond beschienen wurde. Je näher sie kamen, desto mehr beschleunigte sich der Schritt des Rehwild- oder Waschbärenjägers, Danowski kam kaum noch mit, plötzlich ging alles sehr schnell, das Gehen durch den Wald und auch, dass der Mann mit der Schrotflinte immer wütender wurde, Danowski hörte ihn schnaufen.

Am Rand der Lichtung blieben sie stehen, der Weg ein wenig abschüssig hinunter zum Betonfundament.

Wahnsinn, wie viele Leichen man da einbetonieren könnte. Die Teilnehmer einer ganzen Klassenfahrt. Und dann schweifte er ab und dachte daran, wie Stella ihn mit sechs einmal abends im Bett, nachdem er ihr vorgelesen hatte, gefragt hatte, was Laich ist. Und Danowski hatte Komet im Mumintal zugeklappt und ihr erklärt, wie die Fische und die Frösche aus ganz vielen feuchten, glibschigen Eiern entstanden, die im Wasser zusammenklebten, und dass die aus den Fischen kamen oder den Fröschen, und dass man diese Eier Laich nannte.

Stella hatte im Dunkeln so blicklos geguckt wie Jurkschat jetzt und nachgedacht und ihn gefragt, warum er denn in seinem Beruf so viel mit Laich zu tun hätte. Danowski, der es gewöhnt war, Fragen über seine Arbeit nicht so ohne Weiteres beantworten zu können, sagte: gar nichts.

Stella: Aber du erzählst doch immer davon.

Er: Immer?

Stella: Neulich abends. Als du Mama erzählt hast, dass ihr bei der Arbeit wieder ganz kleinen Laich gefunden habt.

Und Danowski wusste noch, wie Stella immer wütender geworden war, weil er sie nicht verstand, wütend und traurig, damals, in der alten Wohnung mit Blick auf die Aral-Tankstelle in Bahrenfeld: einen kleinen Laich, Papa, Laichchen!

Und irgendwann hatte Danowski begriffen, dass sie «Leichen» beim Hören des Elterngesprächs über den Flur für die Verkleinerungsform von «Leich» gehalten hatte, so, als wäre etwas großes Totes «Leich» und etwas kleines «Leichen». Als er versucht hatte, ihr die Wahrheit zu erklären, hatte ihn die Sechsjährige immer wieder gefragt: Aber woher kommt denn das Wort? Woher kommt denn das?

Getröstet hatte er sie irgendwann, und eingeschlafen war sie auch, aber woher das Wort Leiche kam, wusste er bis heute nicht. Nur, woher die Leichen kamen, das verstand er von Fall zu Fall.

«Seht ihr diesen Schietkram?», schnaufte der Jäger und holte eine noch größere Stablampe aus einer anderen Tasche seiner Funktionsjacke. «Die sind mir durchs Fundament gelaufen.»

Er leuchtete in Richtung Betonfundament, aber in Wahrheit erkannte man die Konturen auf dessen Oberfläche im tanzenden Kegel schlechter als ohne. Jurkschat legte ihm die Hand auf den Arm, bis er die Lampe sinken ließ. Danowskis Augen gewöhnten sich noch besser an die schwindende Dunkelheit, und nach drei, vier Atemzügen konnte er lesen, was hier jemand in ziemlich geraden Schritten in den feuchten Beton getrampelt hatte, bis drei, vier Meter hohe Buchstaben darin standen:

MARDER

MÜSSEN

STERBEN

«Auch Hausmarder haben das ganze Jahr über keine Schonzeit», sagte Jurkschat. «Stimmt schon.»

Sie traten einen Schritt vor, aber der Jäger, dem das Land gehörte, folgte ihnen nicht. Die Dunkelheit hielt sich fest in den Mulden und Furchen der getretenen Buchstaben, während die Oberfläche des Betons nach und nach vom Mondlicht Richtung Morgendämmerung glitt.

«Da steht nicht Marder», sagte Danowski. «Das ist kein A. Das ist ein O. Oder ein Ö. Da, wo die Fußspuren weggehen vom Fundament, das sind die Punkte auf dem Ö, die sind …»

«Stimmt», sagte Jurkschat, «das ist aber wirklich schwer zu erkennen, das Wort Mörder ist nicht besonders sauber gearb…»

Danowski wusste sofort, dass irgendwas falsch und daher unbedrohlich war am Geräusch des nächsten Schusses und dass der Angriff diesmal nicht ihnen galt, denn dieser Schuss klang gedämpft, zugedrückt, mehr wie etwas Platzendes, und statt Blättern und Schrotresten ging etwas anderes auf sie nieder, ein dunkler Niesel, durchmischt mit einer Art Graupel, organisch, wie Danowski durch die Nase merkte, und er griff nach Jurkschat und sie nach ihm, während sie sich umdrehten und zurückwichen Richtung Betonlichtung.

Ein paar Meter hinter ihnen sackte der Körper des Jägers, von dem sie bisher weder den Jagd- noch den Waffenschein gesehen hatten, entlang seiner Schrotflinte Richtung Boden. Wo sein Kopf gewesen war, gab ein wegkippender Stumpen aus Halsgewebe, Schädelknochen und Kieferresten den Blick frei auf Vögel, die aus den Bäumen aufflogen.