32. Kapitel

«Sach mal, wie bescheuert seid ihr eigentlich?»

Der große Kollege stellte ihnen zwei Becher Nescafé mit Aldi-Kaffeeweißer vor die Nase. Kariertes Hemd, graublonder Bürstenhaarschnitt, Draußengesicht, die hängenden Gesichtszüge von einem, der vor kurzem viel abgenommen hatte, aber zu alt für straffe Haut war. Hauptkommissar Kossendey von der Dienststelle in Plön. Danowski ließ sich hin und wieder ganz gern mal ausschimpfen, danach ging’s einem manchmal besser.

Jurkschat nickte zerknirscht. «Das war dämlich, stimmt.»

«Habt ihr ein Glück, dass ich hier alleine Nachtdienst mache.» Kossendey fummelte ein bisschen an seinem alten Windows-Rechner herum, winkte dann ab und murmelte irgendwas Sinnloses wie «Der geht eh nur tagsüber», auch das gefiel Danowski. Mythen und Bräuche der Landbevölkerung.

«Nochmal zum Mitschreiben», sagte Danowski, um ein bisschen Fahrt in die Geschichte zu bringen, denn er wurde immer unruhig, wenn er nachts blutbespritzt in einem Dienstzimmer einhundert Kilometer entfernt von Hamburg saß.

«Nee, nee, nu wart mal», sagte Kossendey. «Mitschreiben tu hier erstmal nur ich. Also, ihr wolltet summa summarum noch mal was genau im Moorwald?»

Danowski und Jurkschat warfen sich einen Blick zu.

«Nee, Leute, jetzt nicht so ’n Verschwörerding hier», sagte Kossendey und ignorierte weiter seinen eigenen Nescafé, für euch zwei People schmeiß ich nicht nachts um drei die Delonghi an, hatte er gesagt. «Raus mit der Sprache.» Danowski schwelgte in der nächsten archaischen Formulierung.

«Gut», sagte Jurkschat, verantwortlich für ihren Einsatz in Anführungszeichen. «Wir haben Grund zu der Annahme, dass zwei Hamburger Mordopfer als Kinder beide in diesem Schullandheim da im Wald waren. Das ist die einzige Verbindung zwischen den Opfern.»

«Grund zur Annahme», sagte Kossendey. «So, so. Eure Schulleichen, also.»

«Genau.»

«Und da dachtet ihr, mitten in der Nacht is besser für ’ne kleine Recherche vor Ort? Bisschen Hausfriedensbruch und so?»

«Wir haben einen Hinweis bekommen», sagte Danowski, «also, der war zeitkritisch.»

«Uih.»

Danowski musste selber fast lachen, aber er nickte ernst. Jurkschat guckte gequält. Na gut. Sie hatte angefangen mit dem Schwindeln. Vor Tagen schon.

«Und eure Dienstgruppenleitung ist informiert über so ’n kleinen Ausflug aufs Land?»

Danowski verließ ein bisschen der Erfindungsdrang. «Wir reichen so was manchmal oft immer nach.»

«Manchmal oft immer», wiederholte Kossendey.

Sie schwiegen einen Moment. Das Doppelfenster stand auf Kipp, und durch den Lamellenvorhang hörte man die ersten Amseln singen.

«Ich sag euch mal was», sagte Kossendey, den sie erst vor anderthalb Stunden kennengelernt hatten. «Für uns ist das hier ’ne recht klare Sache. Der Stollmann steht seit Jahren im Verdacht, was mit dem Tod seiner Frau zu tun gehabt zu haben. Dem ist mal die Scheune abgebrannt, und seine Frau war drin. Unglücksfall. Wir haben nichts gefunden, um das Gegenteil zu beweisen. Nur Geschichten. Schulden. Lebensversicherung. Eigentum, das auf die Frau überschrieben war und wieder an ihn fiel, als sie tot war. Zum Beispiel die Ruine vom Waldheim. So.»

Er klopfte sich auf die Brusttasche seines karierten Kurzarmhemdes, deren Ausschachtelung Danowski schon neidisch betrachtet hatte. Nachts um drei bei einer unverhofften Dienstbesprechung eine rauchen: Er vermisste nicht mehr viele Zigaretten, aber die schon. Kossendey steckte sich eine Gold Dollar an, auf deren Packung das Bild vom Luftröhrenloch war.

«Jetzt trifft er euch zwei Kriminalpolizisten vom LKA im Wald und wird schon mal nervös, weil er denkt, sein Fall wird wiederaufgerollt. Fachleute aus Hamburg und so. Na, wenn der wüsste. Und dann steht da diese Formulierung, sag ich mal, in seinem Beton, die er natürlich nur als Drohung gegen sich selbst auffassen kann. Gibt immer noch Leute im Dorf, die ihn nicht grüßen. Die ganze Familie von seiner toten Frau und ein gutes Dutzend andere.»

«Na ja», sagte Jurkschat, «es war eine klare Selbsttötung.»

«Das seh ich auch. Die Spurenträger sitzen ja quasi mir hier direkt gegenüber. Ihr könnt gleich duschen. Vor allem haben die Jungs – ’tschuldigung, sind wirklich alles Männer –, also, die Jungs haben bei ihm zu Hause vor ’ner Dreiviertelstunde schön was in der Schublade gefunden.»

Zug an der Zigarette. «Schönes mit der Maschine geschriebenes Dokument, richtig noch mit Kugelkopf und Pipapo. ‹Für wenn ich tot bin› oder so was. Riesenrechtfertigungsgeschichte. Warum es wirklich ein Unfall war damals, aber andererseits auch wieder nicht. Und so weiter. Kennt ihr ja, vor allem du.» Er nickte Danowski zu. «Wegen Fallanalyse und Täterprofilen und so. Wie die immer wieder Gründe finden, sich zu rechtfertigen, und gleichzeitig wollen sie gestehen, und dann kommt am Ende immer so eine Soße raus, von der keiner satt wird. Sag ich jetzt mal.» Die Zigarette war durch.

«Für uns ist das ’ne ganz runde Sache. Und ob da jetzt zwei Hamburger Kollegen zufällig in der Nähe waren … ich sag mal, das ändert jetzt für mich konkret nichts an der Sachlage.»

«Okay. Super. Klingt gut», sagte Danowski. Jurkschat nickte vorsichtig.

Kossendey hob abwehrend die Hand. «Momentchen noch. Ich mach trotzdem einen Vermerk, wo drinsteht, was ihr da gemacht habt, eigene Ermittlungen und so weiter, und dass eure Einsatzleitung informiert ist und so, und den unterschreibt ihr mir. Der liegt hier in der Schublade, aber ist klar, sobald irgendwas schiefgeht, dann kommt der in die Akte, als wäre er immer drin gewesen.»

Kossendey steckte sich noch eine an. «Und dann diese Sache da, ‹Mörder müssen sterben›. Wenn ihr rausgekriegt habt, was das mit eurem Fall zu tun hat, dann bindet ihr uns da irgendwie ein, jo. Synergien. Wisst ihr ja. Wenn euch das weiterbringt, dann macht ihr das aktenkundig, dass es ohne die Kollegen in Plön nicht gegangen wäre. Kriegen wir vielleicht auch’n Keks.»

Danowski nickte. «Absolut.» Dann fiel ihm was ein. «Vor seiner Selbsttötung hat Stollmann was von Autonummern gesagt, die er aufgeschrieben hat, wenn ihr die vielleicht findet …»

Kossendey schüttelte den Kopf. «Den Jungs ist das ansonsten erst mal egal», sagte er. «Die haben den Tatort gesichert und den Abtransport überwacht, für die ist das ’ne Hälfte weniger Schreibtischarbeit, wenn wir eure Geschichte erst mal rauslassen. Aber wir fangen jetzt nicht an, für euch noch inoffiziell Beweismittel zu suchen. Merkt ihr selbst, ne.»

«Okay», sagte Danowski. «Und diese Duschen …»

«Eine Sache noch», unterbrach ihn Jurkschat. «Wenn ihr sagt, ihr habt damals nach dem Tod der Frau Stollmann ermittelt, dann habt ihr doch bestimmt jede Menge Akten beschlagnahmt, bevor das Waldheim abgerissen wurde, oder?»

«Klar. Follow the money und so.»

«Kannst du vielleicht mal kurz schauen, ob unsere Mordopfer Thorsten Stahmer und Frank Jablonski beide in den späten Achtzigern oder frühen Neunzigern auf den Gästelisten stehen?»

«Ich denk, das wisst ihr längst?»

«Na ja», sagte Jurkschat. «Schriftlich ist halt immer gut.»

Kossendey warf Danowski einen vorwurfsvollen Blick zu. Anonymer Hinweis. Zeitkritisch. Schon klar. Schön im Sommernachtnebel gestochert, was?

«Du meinst, ob ich jetzt mit euch in die Asservatenkammer gehe, schräg übern Parkplatz, wo eigentlich erst morgen um acht die Kollegin kommt, und ich such mir händisch die Aktennummer raus, und dann finden wir im Regal die Kladden mit den Schülerlisten, und ihr schaut da mal rein, so ganz in Ruhe? Ohne länderübergreifenden Beweismittelantrag und irgendwas anderes?»

Jurkschat wiegte den Kopf. «So in etwa.»

Kossendey stand auf wie ein viel schwererer Mann. «Klar. Können wir machen.»

 

Zwanzig Minuten später hatten sie Thorsten Stahmer gefunden, kurz darauf Frank Jablonski, nicht weit darunter, die Einträge waren nicht alphabetisch. Unterschiedliche Schulen, aber der gleiche Frühsommer, 1988.

«Mitnehmen könnt ihr den Kram nicht», sagte Kossendey. «Da brauch ich dann doch was Offizielles. Ist aber nicht, äh, zeitkritisch.»

Danowski nickte. «Danke.»

«Foto?», fragte Jurkschat und schlenkerte ganz niedlich mit ihrem Telefon.

«Ich guck mal eben weg», sagte Kossendey.

Danowski wollte noch was richtig Nettes sagen, aber der Plöner Kollege kam ihm zuvor.

«Richtig gut drauf seid ihr aber nicht, oder?», sagte er. «Keiner fragt mich mal, was eigentlich so los war im Waldheim. Ich bin ja sozusagen vom Fach. Also, für wenn’s Beschwerden gab und so wegen dem Waldheim.»

Jurkschat steckte gerade ihr Telefon in die Tasche, mit dem sie die Seiten in der Anmeldungskladde des Waldheims fotografiert hatte. Sie runzelte die glatte Stirn.

«Na ja», sagte Danowski. «Manchmal, wenn sich zwei Meter neben einem einer mit der Schrotflinte den Kopf wegschießt, vergisst man, was man gerade fragen wollte.»

«Nee, stimmt, kenn ich», sagte Kossendey.

«Was war da eigentlich so los früher im Waldheim?», fragte Jurkschat. «Gab’s da irgendwelche Beschwerden oder so?»

Kossendey nickte. «Gute Frage. Beschwerden gab’s einige, über die Jahre. Lehrer haben sich bei uns über so Sachen wie fehlende Hygiene und mangelnde Sauberkeit und so beklagt, baufällige Einrichtungen. Die wollten sich ja auch absichern gegen die Eltern. Anzeige ist raus, und so. Wir waren da meist nicht so beeindruckt und haben das eher so für Hamburger Schnöseltum gehalten, weil’s da eben mal’n paar Fliegen aufm Klo gab und Stroh in der Matratze. No offense.»

Danowski winkte ab.

«Aber es gab auch drei-, viermal ernstere Sachen über die Jahre. Schlägereien unter Schülern, sodass dann die Schullandheimleitung gezwungen war, uns zu alarmieren, das dürfen die gar nicht unterm Deckel halten, wenn die den Krankenwagen holen. Auch’n paar Sachen, die so Richtung Sexualdelikte gingen. Knapp vor Nötigung. Grapschen, Exhibitionismus, also, gefummelt wird ja immer, aber: schon bisschen an der Grenze für so ’n Ferien- und Schullandheim. Ich würd insgesamt sagen, die hatten keinen guten Ruf. Und dann kommen irgendwann auch nur noch Problemklassen, klar.»

«Habt ihr die Akten noch von den Anzeigen damals?», fragte Jurkschat hoffnungsvoll.

«Nee», sagte Kossendey. «Die sind in Kiel archiviert oder vernichtet, je nachdem. Dat dürt. Da müsst ihr mal ’ne andere Nacht wiederkommen. Oder doch mal ’n Antrag stellen zur Abwechslung.»

 

Als sie geduscht hatten, gab Kossendey ihnen zwei Uniformen aus dem Ersatzfach. «Aber schön gebügelt zurückschicken!», sagte er und klopfte ihnen im Ernst auf die Schultern, als sie gingen.

Beim Einsteigen sagte Danowski: «Ich lass mich nach Plön versetzen.»

«Ich auch», sagte Jurkschat.

«Nee», sagte Danowski, «ich hab’s zuerst gesagt. Das ist jetzt mein Ding.»

«Du spinnst», sagte Jurkschat. «Du kannst doch jetzt nicht so eine Art Copyright anmelden darauf, den Kossendey hier gut zu finden.»

«Ich sag ja nur, dass ich zuerst …»

Und da war er auch schon wieder. Kossendey klopfte ihnen mit dem Ehering aufs Dach. Jurkschat ließ das Fenster runter.

«Wo ihr gerade da seid, fahrt doch mal kurz rauf nach Lütjenburg, zu den Kollegen von der Verkehrspolizei, Oberstraße dreizehn, gleich am Ortseingang. Die haben heute Nacht bisschen nach Alkohol geguckt, viele Scheunenfeste und so, die Bauern drehen durch bei der Hitze. Dabei haben sie einen halbnackten Typen aufgegabelt, der behauptet, er wäre auch ein Polizist aus Hamburg. Leute, was ist los bei euch. Police Academy, neuer Teil, oder was.» Kossendey hielt einen gelben Post-it-Zettel so, dass das Laternenlicht von der Hamburger Straße darauf fiel. «Andreas Finzel. Kennt ihr den?»

Danowski wollte «Wie bitte?» fragen, aber er war nicht schnell genug.

«Das kann nicht sein», sagte Jurkschat. Dann das Horrorwort, das Danowski auch als Erstes durch den Kopf gegangen war: «Alkohol?»

«Na ja, hört sich für mich stark so an», sagte Kossendey. «War wohl aggressiv und bewaffnet.»

Jurkschat schlug mit dem Handballen aufs Lenkrad, sodass sie Danowskis «Dreck» übertönte.

«Menschenskinder, Polizei aus Hamburg», sagte Kossendey. «Kommt doch nächstes Mal einfach wieder in den Ferien, wenn ihr Sehnsucht nach Holstein habt.»