34. Kapitel

«Wie seht ihr denn aus?»

«Das Gleiche könnten wir dich fragen.»

«Könnt ihr ruhig fragen. Ist schnell beantwortet. Ich seh aus wie einer, der nachts auf der Elbbrücke einen Stein an den Kopf gekriegt hat, in einen Kofferraum geworfen wurde, sich das Hemd ausgezogen und dann ein Missverständnis mit den Kollegen von der Polizei gehabt hat. Aber was ist eure Entschuldigung für diese knapp sitzenden Uniformen aus Schäbig-Holzbein?»

«Das geht ungefähr in die gleiche Richtung. Wirf noch einen Scheunenbrandstifter mit rein, der drei Meter neben uns Suizid mit der Schrotflinte begangen hat, dann hast du das ganze Bild.»

«Nee, zu kompliziert. Wenn ich Hufe trappeln höre, denk ich an Pferde, nicht an Zebras. Weißt du doch, Adam. Ganz einfache Regel, die du auch mal in dein kleines Köpfchen kriegen solltest. Für mich seht ihr in den Phantasieuniformen eher aus, als würdet ihr nebenberuflich strippen. Du hast ja ’n ganz gutes ‹YMCA› drauf, Meta, wenn du in Stimmung bist.»

«Irgendwie verstehe ich nicht, dass du jetzt schon wieder Witze machen kannst.»

«Sind das so Uniformen, wo man vorne dran zieht, und dann sind an der Seite so Klettverschlüsse, und man kann die einfach, ratsch!, einmal ganz abreißen, erst das Hemd, dann die Hose, und Adam hat so ’nen Ledertanga drunter?»

«Ja, ganz genau, Finzi, darum würde ich mich jetzt auch gern mal langsam umziehen.»

«Juckt im Schritt, oder was.»

«Leute, ganz ehrlich. Finzi. Adam. Hört doch mal auf. Wir müssen reden. Ganz in Ruhe.»

«Meta, im Ernst, ich bin todmüde, und Finzi sieht auch aus, als könnte er …»

«Nee, tut mir leid, Adam. Kaffee muss reichen.»

«Dann brauch ich noch einen. Da vorn, Freie Tankstelle.»

«Und dreimal Bifi im Teigmantel, wenn du eh aussteigst.»

Im Auto war die Stimmung irgendwie noch richtig gut, unerklärlich, eigentlich. Oder doch. Klassenfahrtatmosphäre, Erleichterung, Übermüdung. Und die alten grünen Uniformen.

 

Später saßen sie bei Finzi und Meta in Hammerbrook in der Küche und breiteten Notizen auf dem Tisch aus. Telefone aus, das hatten sie gleich verabredet. Danowski sah auf dem privaten was von Leslie, auf dem Diensttelefon Behling. Alles musste warten, bis sie einen Überblick hatten. Nach einer Weile holte Meta einen Moderationskoffer aus dem Schlafzimmer: Aluschale, Schnappverschlüsse, Karteikarten, Post-its und Zettel in allen Formen und Farben, dicke Stifte, Reißzwecken.

«Du machst mir Angst», sagte Danowski zu ihr. «Also, noch mehr als sonst.»

«Es ist Metas Welt», sagte Finzi. «Wir leben nur darin.»

«Wir werden so einen Ärger hierfür kriegen», sagte Meta und fing an, Namen und Orte auf Zettel zu schreiben und an die Küchenwand zu hängen.

«Verstehe ich nicht. Wenn andere das in einem Album machen, heißt das Scrapbooking, und wenn wir das an der Küchenwand machen, kriegen wir Ärger», sagte Finzi, der von ihnen dreien mit Abstand am fittesten aussah, vom Pflaster oberhalb der Schläfe abgesehen.

«Wenn wir es nicht richtig machen», sagte Meta. «Also, wer weiß was, und was sagen wir wem wie, damit wir …»

«Nee, Meta», sagte Danowski. Sie machte so eine Art Schweigefuchs mit den Fingern in seine Richtung, das hatte sie sich offenbar bei den Ermittlungen in der Schule abgeschaut. Wahrscheinlich dachte sie immer noch, dass er einfach nur ins Bett wollte, aber ihm ging’s um was anderes. Finzi betrachtete ihn von der Seite, und Danowski spürte, dass er ihm recht gab.

«Thorsten Stahmer und Frank Jablonski waren als Schüler zur gleichen Zeit in einem etwas heruntergekommenen Ferien- und Schullandheim. Die Zeit dort muss sie sehr geprägt haben, denn Frank Jablonski hat sich später das Motto vom Waldheim als Tattoo stechen lassen, ex silvis, aus den Wäldern. Und offenbar sind sie lange nach der Schulzeit in Kontakt geblieben. Wir wissen aber nicht, warum. Aber wir haben eine eindeutige Verbindung zwischen den beiden Opfern etabliert», dozierte Jurkschat, und Danowski merkte, dass sie möglichst keine Pause machte, damit er nicht einhaken konnte, hier und da sprach sie mit einem fast unheimlichen Brunnensound übers Einatmen hinweg weiter. Er machte sich Sorgen um sie. Sobald er zum Sprechen anhob, wurde sie lauter.

«Finzi hat Unterlagen gefunden bei einem Angriffsopfer, auf denen mein Name steht. Andere Namen sind unleserlich gemacht worden, aber da kann man vielleicht im Labor was erreichen.»

«Glaub ich nicht», sagte Finzi halblaut. «Das geht nur bei Bleistift und Kuli. Das war richtig dicker Filzer. Außerdem war das ein Irrer.»

«Das wissen wir nicht», sagte Jurkschat. «Dafür brauchen wir die Kriminaltechnik. Aber wenn wir das … Ich meine, das ist die Verbindung. Thorsten Stahmer ist mein Exfreund, ich steh auf diesem Zettel, und man muss ja auch mal ganz ehrlich sagen, dieser Typ, den du da gefunden hast, Finzi …»

«Der Chef.»

«Ja, meinetwegen, keine Ahnung. Das war auch am Rande einer Schule. Welcher Schule?»

«Grundschule und Gymnasium Niendorf», sagte Finzi. Meta machte einen dritten Schulzettel und hängte ihn neben «Gymnasium Klein-Flottbek: Thorsten Stahmer» und «Gesamtschule Pulvermühle: Frank Jablonski».

«Und dann wirft dich jemand in einen Kofferraum …», fuhr sie fort.

«Das war nicht der Chef. Der Chef ist klein und hat eine echt amtliche OP-Narbe. Der hievt mich über keine Leitplanke.»

«Jedenfalls fährt der dich über die B430 Richtung Lütjenburg, genau die gleiche Gegend, wo wir beim Waldheim diese Inschrift im Betonfundament finden, ‹Mörder müssen sterben›. Es ist besser, wenn wir uns das gleich eingestehen, also, wenn wir davon ausgehen, dass das zusammenhängt und dass ich die Schnittstelle bin», sagte Jurkschat. «Wir müssen irgendeinen Weg finden … Ich meine, ich hätte das gleich sagen sollen, aber jetzt …» Sie gestikulierte Richtung Wand, und Danowski merkte, wie unangenehm es ihm war, sie in diesem Zustand zu sehen. Er merkte, wie sehr er sich immer auf sie verlassen hatte. Und wie wenig er das damals gemerkt hatte.

«Jedenfalls gut, dass du die Personenbeschreibung von den Kollegen aus Lütjenburg hast», sagte Meta laut und tippte an die Wand. «Mann, südländischer oder gut gebräunter Typ, dunkles Haar, Anfang, Mitte fünfzig, etwa ein Meter achtzig. Leider haben wir kein Phantombild. Das kommt aber sicher noch. Die Geschichte, dass du den auf der alten Elbbrücke anhalten wolltest, weil sein linker Frontscheinwerfer kaputt war, und dass er durchgedreht ist und dich überwältigt hat, ist gut. Den Teleskopstock hast du im Kofferraum gefunden. Der Mercedes war ganz frisch gestohlen, sagen die Kollegen in Lütjenburg. Sobald du also von denen was hörst über den Typen, Finzi, können wir …»

«Meta», sagte Danowski, sehr laut. Und dann noch mal, ganz sanft, unter Schlafentzug neigte er zu Extremen: «Meta.»

«Ich hätte das gleich Behling sagen sollen, du hattest recht», sagte Jurkschat. «Scheiß Beförderung.»

Finzi merkte auf. «Das war das erste Mal, dass ich dich Scheiße sagen gehört habe.»

«Ich habe nicht Scheiße gesagt. Ich habe scheiß gesagt. Als Adjektiv.»

«Meta», sagte Danowski. «Was war damals mit Thorsten und dir? Wie habt ihr euch kennengelernt? Was ist das, worüber du nicht sprechen willst?»

«Das war alles ganz normal», schrie Meta, und Danowski wagte nicht, in Finzis Richtung zu schauen. Dies war ein viel zu privater Moment, bei dem er eigentlich nichts zu suchen hatte. Seitdem er Meta Jurkschat kannte, hatte sie nur einmal die Stimme erhoben, und das war gewesen, als sie einen amerikanischen Regierungsbeamten aufgefordert hatte, die Waffe fallen zu lassen, und daneben lief ein Hubschrauberrotor.

«Wie man sich halt so kennenlernt. Ich versteh das nicht. Was hat das mit mir zu tun. Ich bin da reingeraten, ach, ich bin da nicht mal reingeraten.»

Finzi sagte nichts. Danowskis Impuls war, die Sache seinem Freund zu überlassen und sich jetzt aus dem Staub zu machen, aber erstens hatten sie das hier irgendwie zu dritt angerichtet, und zweitens wurde ihm langsam klar, dass er endlich mal was für Finzi tun konnte statt immer nur umgekehrt.

«Du hast neulich gesagt, du willst nicht darüber reden, wie ihr euch kennengelernt habt», sagte Danowski. «Ich hab das durchgewunken, weil ich geglaubt habe: Vielleicht kriegen wir die Geschichte fertig, ohne dich da groß reinzuziehen, dann muss ich auch keine Peinlichkeiten aus der Vergangenheit hören. Aber dafür ist es jetzt zu spät.»

Finzi nickte. Die Küchenuhr zeigte elf Uhr vormittags. Am schlimmsten war der Stau auf der Rückfahrt rein in die Stadt gewesen. Wenn einem der Tag durch die Finger rann, obwohl man so viel wiedergutzumachen hatte.

«Diesen ganzen Kram hier», sagte Danowski und fuchtelte seinerseits zur Wand, «kriegen wir im Präsidium nicht mehr sauber erklärt, ohne dich da reinzuziehen. Wenn wir mit diesem Sachstand zurück zum Präsidium kommen, geht Finzi gleich in die Frühpension, ich bin durch mit der Fallanalyse, und, ja, vielleicht wär das gar nicht so schlimm, aber … Ich würd’s doch lieber selbst entscheiden, wenn’s so weit ist. Und deine Beförderung …»

Meta schüttelte den Kopf. «Hier geht’s doch gar nicht um die Beförderung. Nicht mehr jedenfalls.»

«Lass mich ausreden», sagte Danowski, dem dieser Satz neu war. Sonst ließ er die anderen immer gern reden.

«Dann sag irgendwas Neues», sagte Jurkschat.

«Ich ahn schon, was jetzt kommt», sagte Finzi. «Bin kurz davor, mir die Hände zu reiben.»

Danowski war zu müde, um Ironie zu erkennen, da machte er sich keine Illusionen. «Wir behalten das hier», er zeigte wieder an die Wand, «noch ein paar Tage für uns, und in der Zeit schauen wir, ob wir irgendwo durchbrechen können. Finzi hat die Unterlagen von dem Mann aus der Hecke hier …»

Finzi nickte, öffnete die Küchentischschublade und legte die Klarsichthülle mit den Aufzeichnungen des Heckenmannes auf den Küchentisch.

«… und vielleicht finden wir darin doch etwas, das uns hilft, den zu finden. Wenn wir dann die Verbindung zwischen ihm, Stahmer und Jablonski verstehen, wird sich der Rest entweder von selbst auflösen, oder wir bringen das dann ins Präsidium. So oder so haben wir dann aber nicht nur ein Problem, sondern die Lösung, und damit verbessern wir unsere Lage ganz entscheidend. Wenn wir nichts finden, ist unsere Lage ehrlich gesagt so beschissen, dass es auf die paar Tage mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt.»

Danwoski dachte daran, was er früher ins Glückstagebuch geschrieben hätte: In großem Mist einen guten Plan gehabt. Jurkschat und Finzi überzeugt.

«Du müsstest dich mal reden hören», sagte Finzi und kratzte sich mit dem Zehennagel am Unterschenkel des anderen Beines. «Problem, Lösung, Durchbruch – der konstruktive Kram passt nicht zu dir, Adam. Wobei …», er hustete ein bisschen, «… das Ganze ist immer noch dämlich genug. Also gut.»

Danowski zog die Augenbraue hoch. Jurkschats Votum fehlte noch.

Bis eben hatte sie am Küchentresen gelehnt, ein schmaler Schlauch war das hier, sie mussten einander ausweichen mit den Füßen, und Finzi mit seinen nackten Mauken mittendrin. Jetzt beugte sie sich vor und nahm die Hülle mit den Codes, unter denen am Ende ihr Name stand, vom Tisch.

«Das hier ist der Schlüssel», sagte sie.

«Sei vorsichtig», hörte Danowski sich sagen. «Das ist immerhin ein Beweismittel.»

«Erst mal ist das was, wo mein Name draufsteht», sagte Jurkschat, steckte das Zeug in eine Plastiktüte, griff nach ihrem Schlüssel und ihrer Brieftasche, nahm ihre Jeansjacke vom Haken und sagte: «Ich meld mich jetzt krank.»

«Wieso das denn», sagte Finzi, «du hast dich noch nie krankgemeldet.»

«Ja, aber auf eine Lüge mehr oder weniger kommt’s jetzt auch nicht mehr an», sagte Jurkschat. «Jedenfalls gefällt mir euer Gekicher nicht und wie abenteuerlich ihr das irgendwie alles auch findet. Ich glaub, ich muss mal ein, zwei Tage raus. Ich fahr zu meinen Eltern. Wenn mir hierzu was einfällt, sag ich Bescheid.» Sie schwenkte die Tüte.

Finzi kam halb vom Tisch hoch, aber er war zu weit weg.

«Und dass du seit Tagen weißt, dass mein Name irgendwo draufsteht und mir nichts sagst, das kotzt mich am allermeisten an. Glaubst du wirklich, du musst irgendwas für mich regeln? Merkst du nicht, dass das immer umgekehrt läuft?» Das Unheimlichste war, dass Jurkschat Finzi nicht anschaute, während sie ihm das eine Stufe über Küchenlautstärke sagte. Danowski zog ein bisschen die Schultern hoch, als könnte er sich dadurch unsichtbar machen.

«Meta», sagte Finzi.

Dann war sie weg.

«Du hättest sie nicht festhalten können oder so was?», fragte Finzi vorwurfsvoll.

«Irgendwie hat sie ja nicht ganz unrecht», sagte Danowski und machte seine beiden Telefone wieder an, dienstlich und privat. Sie vibrierten ungeduldig in seinen Händen. Vage fiel ihm ein, dass Gaitner für heute Mittag Stichpunkte für ein neues Täterprofil mit Schwerpunkt Mobbing bei ihm bestellt hatte. Die Hälfte der Nachrichten war wahrscheinlich von dem.

«Hm», machte Finzi und setzte sich wieder hin. «Vor allem mit dem letzten Teil.» Danowski wollte ihm widersprechen, aber er winkte ab. «Das ist ja genau das Ding. Dass ich jetzt halt gern mal was für sie geregelt hätte, zur Abwechslung. Weil ich doch wusste, dass sie schon mit der anderen Geschichte genug um die Ohren hat.»

Danowski rieb sich die Stirn. «Müssen wir uns Sorgen machen?»

Finzi zog nachdenklich die Mundwinkel nach unten. «Nicht viel mehr als sonst.»

«Ich meine wegen Meta.»

«Du nicht, Adam. Ich schon. Ich mach mir Sorgen um das ganze Ding hier.» Finzi machte eine vage kreisende Handbewegung, die seine und Metas ganze Hammerbrook-Welt mit einschloss.

Danowskis Telefon vibrierte noch einmal. Eine Nachricht von Jurkschat, offenbar von der Straße.

Kann ich ein, zwei Nächte in deine Wohnung?

Er war überrascht. Er zögerte.

«Leslie?», fragte Finzi. Danowski sah ihn an und fühlte sich nicken.

«Schreib ihr mal lieber gleich zurück», sagte Finzi. «Die macht sich doch auch Sorgen.»

Muss das sein, schrieb Danowski.

Sekunden später kam Jurkschats Antwort:

Dann bring mir den Schlüssel. Ich warte um die Ecke beim Auto.

«Scheiße», sagte Danowski.

«Was denn los», fragte Finzi und klang müde. Danowski schürzte die Lippen und tippte aufs Geratewohl auf die nächstbeste Nachricht von Behling, um Finzi was erzählen zu können.

Dringender Hinweis auf Leichenversteck in Grundschule Koopstraße. Treffen mit allen Einheiten um 1100. Wo bist du??? KB Bring Meta mit

«Behling», sagte Danowski. «Ich muss los.»