Im Autoradio hörte er das magische Wort, das Jurkschat und er vor kurzem noch an der Wand im Gymnasium Klein-Flottbek gesehen hatten: leichenfrei. Vorgetragen in der kurzzeitig von heiter-ausgelassen auf heiter-gefasst runtergedimmten Stimme des N-Joy-Moderators. Konkrete Hinweise auf einen bevorstehenden dritten Leichenfund an einer Hamburger Schule, diesmal eine Grundschule. Der Unterricht abgebrochen, die Schulpflicht in ganz Hamburg für den Rest der Woche aufgehoben durch Eilbeschluss der Schulbehörde.
Danowski kramte im Fußraum, machte das Blaulicht aufs Dach und hatte wenigstens das Gefühl, mit mehr Bedeutung im Stau zu kriechen als die anderen. Dann war die Gegenfahrbahn frei, er zog nach links und gewann ein paar hundert Meter. Auf dem Bürgersteig standen, je näher er der Schule kam, Kinder mit Schulrucksäcken, die nicht wussten, wohin mit sich. Andere wurden von Eltern in Autos gezogen, die in zweiter Reihe der eine Teil des Staugrundes waren. Der andere war die auf hundert Meter abgesperrte rechte Fahrbahn, auf der Einsatzfahrzeuge standen, gekennzeichnet und zivil, zwei Bullis von der Kriminaltechnik und zwei Krankenwagen. Einer für die Leiche, falls sie eine fanden, denn keiner wollte Fotos von Leichenwagen vor Grundschulen in der Zeitung sehen. Der andere auf Vorrat. Das Schulgebäude war eingerüstet, und was Danowski von weitem für Sichtblenden gehalten hatte, waren Bauzäune. Die Kollegen von der Schutzpolizei machten ihm die Absperrung frei und winkten ihn in die letzte Lücke.
«Sie werden schon erwartet. Und Sie brauchen den hier.» Danowski nahm den gelben Bauarbeiterhelm entgegen, warf ihn auf die Rückbank und stieg aus. Es war kurz vor halb zwölf.
Behling und Kienbaum standen mit Ahrens und natürlich dem Arschloch aus München vor dem Schulportal, hinter dem offenbar eine Entkernung im Gange war. Keiner außer Ahrens mit Helm. Er kam Danowski ein, zwei Schritte entgegen und fragte mit besorgtem Enthusiasmus: «Adam, zum Glück. Läuft alles?»
«Läuft», sagte Danowski. «Läuft hart.»
«Hier, nimm mal den», sagte Ahrens und gab ihm seinen Helm.
«Spät, Adam», sagte Behling, und Kienbaum nickte streng.
«Wir warten sowieso noch auf den Hausmeister», sagte Ahrens, «der hat eigentlich Urlaub. Die Direktorin holt ihn gerade. Ich hab hier nur die Stellung gehalten, bis du kommst. Ich fahr dann mal. Läuft ja hier.»
«Adam», sagte Gaitner und breitete feierlich die Arme aus, als hätte er das hier alles selbst arrangiert. «Wir haben die Verbindung zwischen den Toten.» In sehr präzisen Worten beschrieb er ihm, was Behling bei der Witwe des toten Frank Jablonski gefunden hatte und wie sie auf die Grundschule Koopstraße gekommen waren. «Und», sagte Gaitner, «wir zwei beiden haben die seltene Gelegenheit, als Analytiker bei einem Leichenfund dabei zu sein, ja, is denn scho’ Weihnachten!»
Kienbaum lachte. Behling runzelte die Stirn.
«Das müssen wir uns ja sonst immer vom Foto anschauen», sagte Gaitner. «Kannst du noch was bei lernen.» Er haute ihm aufmunternd auf die Schulter. Danowski spürte Müdigkeit. Ich hab selber schon Leichen gefunden, seit ich Fallanalytiker bin, wollte er sagen, aber was für eine morbide Art Angeberei wäre das gewesen.
«Adam hat selber schon die eine oder andere Leiche gefunden, seit er bei der OFA ist», sagte Behling. «Vielleicht sogar verursacht. Auf dem Windrad. Hat den Steuerzahler immer ordentlich gekostet, jedenfalls.»
«Wo kommen eigentlich die ganzen Kinder her», fragte Danowski, «wenn das hier eine Baustelle ist.»
«Die Grundschule ist vorübergehend direkt nach nebenan gezogen in die alte Berufsschule, die steht leer», erklärte Kienbaum. «So lange, wie die hier die Grundschule modernisieren. Danach wird die Berufsschule abgerissen, und es gibt noch einen Erweiterungsbau für die Grundschule. Die nehmen ordentlich Geld in die Hand.»
Gaitner guckte warnend zu Danowski. «Wir gucken uns erst die Leiche an, dann kriegen wir ein deutlicheres Bild. Wenn sie auch Bissspuren hat, bleib ich stark bei meiner Trauma-Theorie. Sonst können wir gern über Baumillionen reden, Adam.»
Danowski sagte nichts. Seit er im Gegensatz zu allen anderen hier wusste, dass die ersten beiden Toten sich in einem Schullandheim kennengelernt hatten, das für Quälereien berüchtigt war, fand er Gaitners Mobbing-These längst nicht mehr so abwegig. Egal, was der für Bücher damit vermarkten wollte. Er unterdrückte ein Gähnen.
«’schuldigung, wenn dir das hier alles zu langweilig ist», sagte Behling.
«Wer weiß, ob wir hier überhaupt jemanden finden», sagte Danowski. «Also, nichts gegen deinen sagenhaften Dokumentenfund, Knud. Und selbst wenn. Was habt ihr für offene Vermisstenmeldungen für mögliche weitere Tote?» Er wusste, dass Molkenbuhr und Kalutza aus seiner alten Mordbereitschaft, die für Vermisste und für unklare Todesursachen zuständig war, ein entsprechendes Dossier erstellten.
Behling fingerte nach seinem Telefon, kam aber offenbar mit der PDF-Darstellung nicht zurecht. Kienbaum sprang ihm bei. «Haben wir dabei. Die Omis haben eine Liste mit vier Namen von Männern gemacht, die in den letzten fünfzehn Jahren verschwunden sind und vom Alter und vom Umfeld etwa zu den ersten beiden Toten passen.»
«Interessiert dich gar nicht, wo die Lütte ist?», fragte Behling und packte ärgerlich sein Telefon wieder ein.
«Richtig», sagte Danowski, sein schlechtes Gewissen, wie er hoffte, unhörbar. «Wo ist Meta?»
«Hat sich krankgemeldet. Zum ersten Mal», sagte Behling. «Adam, wenn du wieder irgendeine Scheiße abgezogen hast …»
Dann kam jemand, der den gelben Helm wirklich aufhatte, stellte sich als Bauleiter vor und fragte sie, wer denn das hier am Ende alles bezahlen würde, die ruhende Arbeit und so weiter, und wann sie anfangen würden mit der Leichensuche, und wann er denn damit rechnen könnte, dass es …
«Höhere Gewalt», sagte Behling lapidar.
Der Hausmeister und die Schulleiterin kamen über den Holzweg am Rande der Baustelle und schwitzten, keine Parkplätze. Danowski hielt sich im Hintergrund, während sie sich vorstellten. Patricia Baltasano, Mitte fünfzig, kurze, praktische Frisur, kein Make-up, T-Shirt statt Bluse, mehr so der handfeste Typ. Die Sonnenbrille wechselte sie ab mit einer Lesebrille, die sie um den Hals trug. Das erinnerte ihn an Dr. Karin Busche im Treppenviertel. Hatte die sich nicht längst melden wollen, um den Namen von dem Mobbing-Opfer damals nachzureichen? Inzwischen interessierte ihn das. Was, wenn der gemobbte Junge von damals auch im Waldheim gewesen war?
Der Hausmeister stellte sich als Jürgen Schliemann vor, was Behling angesichts der ihnen bevorstehenden Ausgrabungsarbeiten in eine verblüffende bildungsbürgerliche Heiterkeit versetzte: «Troja? Schliemann? Versteht ihr nicht?» Das alte Fischbrötchen wurde immer seltsamer in letzter Zeit. Na ja, bald ging’s für immer ab auf die Weide mit dem. Der Hausmeister war etwa in Behlings Alter, Anfang, Mitte sechzig, langes Gesicht, kleiner Brilli im linken Ohr.
«Wie lange sind Sie an der Schule?», fragte Danowski ihn.
«Seit drei Jahren», sagte Hausmeister Schliemann.
«Adam, halt dich mal raus», sagte Behling. «Ihr guckt nur zu.» Und an den Hausmeister gewandt: «Drei Jahre, okay. Liste mit vorherigen Beschäftigungsverhältnissen und so weiter kriegen wir dann bitte auch noch.»
«Machen wir», sagte der Hausmeister, der offenbar noch nicht verwunden hatte, dass ihm hier sein Urlaub zumindest für einen Tag ruiniert wurde. Er wirkte auf Danowski wie der Typ, der sich den Tag nachträglich gutschreiben ließ, da war der alles andere als lässig, Ohrring hin oder her. «Und wonach suchen wir jetzt genau?»
Weil von Behling nichts kam, sagte Gaitner, makellos im engen schwarzen T-Shirt ohne Schweißflecken: «Wir suchen nach einem Keller oder einer Abseite, die gut durchlüftet ist, sodass man, wenn man dort eine Leiche versteckt, davon ausgehen kann, dass sie in kurzer Zeit einen signifikanten Flüssigkeitsabbau ohne weiteren Schädlingsbefall erlebt.»
«Schädlingsbefall», sagte der Hausmeister, leicht verstört.
«Eben ohne, verstehen’s», sagte Gaitner.
«Warum kommen Sie damit eigentlich jetzt?», fragte die Schulleiterin. «Hätten Sie nicht schon längst bei uns vorbeischauen wollen? War jedenfalls die Ansage aus der Schulbehörde.»
«Baustellen haben wir zurückgestellt», sagte Behling.
«Die Kollegen haben hier ordentlich Rattenbefall gehabt früher», sagte der Hausmeister. «Darum sind die ganzen Kriechkeller abgedichtet worden. Daraufhin sind denen die Leitungen vermodert oder so was. Jedenfalls sind die Kriechkeller eine Zeitlang künstlich belüftet worden. Ratten raus, Luft rein. Das weiß ich auch nur, weil wir uns Gedanken gemacht haben, ob wir das alles nicht mal rausreißen, aber dann kam die Baugenehmigung. Also, das ist alles noch so wie früher. Und die machen die Keller zuletzt. Falls das Geld ausgeht. Keller sind ja nicht so wichtig.»
Behling nickte. «Belüftete Kriechkeller. Gute Sache.»
Als sie im Keller standen, hatten sie Bauluft in der Nase, abgeschlagenen Putz, freigelegte Balken, die seltsam anheimelnden Gerüche, die entstanden, wenn man einem alten Gebäude den Bauch aufriss. Die Treppen waren schon freigelegt, das Linoleum abgerollt, die Handläufe säuberlich aufgereiht zum Abschleifen und Veredeln.
Kienbaum machte eine scherzhafte Bitte-nach-Ihnen-Bewegung zu Danowski, als der Hausmeister ihnen den Einstieg in die Kriechkeller zeigte. Danowski schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich noch gut an sein Fiasko im stillgelegten Elbtunnelrettungsgang, als er steckengeblieben war und Kienbaum ihn hatte rausziehen müssen. «Jetzt bist du dran.»
Aber die Kollegen von der Kriminaltechnik, die endlich, wie Behling sagte, ihre ganzen Plünnen beisammenhatten, schoben sie zur Seite und machten ihnen klar, dass sie sich für die Einzigen hielten, die sich darauf verstanden, einen Leichenfundort nicht völlig zu zerstören. Zu viert verschwanden sie in ihren hellgrauen Schutzanzügen durch die Einstiegsluke unter dem Kellerfußboden, Schutzmasken vor den feuchten Gesichtern.
«Stoßt euch nicht den Döz», sagte Behling lahm.
Dann entstand eine etwas absurde Situation, in der sie mit immer mehr Kolleginnen und Kollegen im Gang standen, einander die Luft wegatmeten und darauf warteten, dass jemand Maskiertes mit Nachrichten aus der Unterwelt kam. Außer Sichtweite rauchte jemand.
«Seid ihr jetzt völlig verblödet?», rief Behling ins Ungefähre.
«Das sind die Bauarbeiter», sagte Kienbaum.
Danowski dachte an Finzi und vor allem an Meta und an ihr unseliges Dreier-Geheimnis. Vielleicht entstand hier gerade durch den dritten Leichenfund so was wie ein Informationskuddelmuddel, in das er allerhand von ihren unrechtmäßig erworbenen Informationen einspeisen konnte.
Nach einer Weile hörten sie Klopfzeichen. Dann steckte der Teamleiter von der KT den Kopf durch die Luke und zog die Maske von seinem bärtigen Mund.
«Männliche Leiche, unbestimmtes Alter, aufgrund der Haare und der erhaltenen Kleidung würde ich auf Anhieb vermuten, Anfang dreißig bis Anfang vierzig. Stark mumifiziert.»
Im Kellergang breitete sich eine seltsame Art von Erleichterung aus. Behling fing an, in die Runde zu schauen, na, Kinder, was sagt ihr jetzt, der Alte hat’s noch drauf, oder? Danowski war sich sicher, dass er dessen Gedanken lesen konnte.
«Sagt ihr mir was über die Kleidung, oder soll ich selber gucken?», fragte Behling, als ihn keiner lobte.
«Natürlich nicht mehr so gut zu erkennen», sagte der Kriminaltechniker. «Schwarze Jeans, würde ich sagen, dunkles Oberhemd, Sakko. Eher zum Ausgehen angezogen. Keine Schuhe, dunkle Socken.»
Behling hatte sich von Kienbaum helfen lassen und scrollte jetzt durch die Personenbeschreibungen der Vermissten, die Molkenbuhr und Kalutza vorbereitet hatten.
«Habt’s ihr die Bissspuren schon gefunden?», fragte Gaitner. «Das Neunauge? So im Bereich vom …»
«Wir machen hier keine rechtsmedizinische Begutachtung», unterbrach der Kriminaltechniker. «Wird schwierig genug, den Toten ins Institut zu bekommen, ohne allzu viele Spuren zu beschädigen.»
«Krawatte?», fragte Behling. «Können ja wohl selbst so ’n paar Techniker wie ihr nicht übersehen, nicht wahr.»
«Nein. Nicht gesehen. So, ich muss wieder runter.»
«Ohne Schlips? So, von den Anziehsachen her ist das Eckhart Lorenz aus Hamburg-Schnelsen, seit 2002 vermisst. Irgendwann ist sein Rucksack aus der Elbe gefischt worden. Eckhart Lorenz, genannt Ecki. Na, ertrunken ist er offenbar nicht. Aber guck mal an, Geburtstag hätte er heute gehabt», sagte Behling.
«Na, herzlichen Glückwunsch», sagte Danowski.