Meta Jurkschat war überrascht, wie einfach es war, sich krankzumelden, obwohl man gesund war. Man rief einfach an und sagte, man wäre krank. Die Kollegin von der Mordbereitschaft sagte gute Besserung, und dann war man frei. Kein Wunder, dass Leute das unwiderstehlich fanden.
Einen Moment überlegte sie, jetzt zum Arzt zu geben und sich ein Attest zu holen. Um das irgendwie echter zu machen. Aber sie schreckte davor zurück, jemandem ins Gesicht zu lügen. Telefon, das ging gerade noch.
Andererseits. Sie müsste nur sagen, was war: Sie litt unter der Vergangenheit, sodass sie nicht schlafen konnte. Sie litt unter der Gegenwart, sodass sie nicht mehr klar denken konnte. Sie war also eingeschränkt. Im weitesten Sinne war sie krank. Und dennoch.
Adams Wohnung sah aus, als wäre jemand sehr Altes nicht ganz ausgezogen und jemand nicht ganz Neues nie vollständig angekommen. Und nichts in freundlichen Farben. Es roch manchmal nach Adam und manchmal nach alter Frau. Oder das war das alte Schulschaubild aus dem Keller mit dem Neunauge, das Adam vor die Schrankwand gehängt hatte.
Als sie an den Fensterscheiben sah, dass auf der Straße der Regen fiel, wusste sie, was sie zu tun hatte. Als Kind auf dem Land war sie überzeugt gewesen, dass es in der Stadt einen anderen Regen als bei ihnen gab. Sie fand, sie hatte recht behalten damit. Der Regen in der Stadt war so sehnsuchtsvoll und groß, dass er im Gegensatz zum Landregen keinen eigenen Namen hatte, er war einfach der Regen an sich. Sie war da ein bisschen verkitscht. Das Bild von James Dean hatte sie immer noch im Kopf, er im Regen auf dem Broadway, den Mantelkragen hochgeschlagen. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie im Taxi durch New York fahren würde oder London und wie die neue, große Stadt in den Regentropfen am Autofenster in Licht und Bewegung zerfloss, sodass man seinen Platz darin finden konnte. Und als sie das erste Mal so richtig nach Hamburg gekommen war, mit elf oder zwölf, da war es auch so ein heißer Juli gewesen, und als sie aus dem Auto ihres Vaters gestiegen war, hatte der Regen aufgehört und sie hatte die Feuchtigkeit auf den Gehwegplatten im Portugiesenviertel gerochen. Sie fand noch immer, dass in diesem Geruch ein Versprechen lag.
Sie griff ihre Jacke und lief die vier Treppen hinunter auf die Straße. Die Unterlagen von Finzis Heckenmann hatte sie fotografiert. King Horse, das wusste sie sofort. Das passte in ihre Gegenwart wie ein Puzzleteil von früher.
Vor sieben oder acht Jahren. Als sie als relativ junge Polizistin in die Mordbereitschaft gekommen war. Quotenfrau, hieß es damals, obwohl es keine Quote gab. Aber es hieß, die Chefin würde Frauen bevorzugen. Vor allem junge Frauen: zu viele alte Männer beim LKA, vor allem bei den Mordbereitschaften. Weshalb die meisten von denen sie dann erst mal hatten spüren lassen, dass sie den Job nur bekommen hatte, weil sie jung war und Brüste hatte. Das war die Formulierung, an die sie sich erinnerte, einer von den Kollegen aus Adams Team hatte das damals gesagt zum anderen, Kalutza zu Molkenbuhr oder umgekehrt: «Die hat die Stelle gekriegt, weil sie Brüste hat und die Gnade der späten Geburt.»
Sie hatte in der Tür gestanden, auf der Suche nach Adam Danowski und Andreas Finzel, die sie damals kaum kannte, weil die beiden weniger in Tötungsdelikten ermittelten und mehr bei Unklarheiten über natürliche oder unnatürliche Todesursachen. Worum es ging, wusste sie gar nicht mehr. Aber an das Gefühl konnte sie sich noch gut erinnern. Sie war kaum Mitte dreißig und hatte bisher immer nur gehört, wie gut und wie richtig sie alles gemacht hatte. Und plötzlich sollten es einfach ihre Brüste gewesen sein. Der Kollege hatte sich entschuldigt. Aber eher dafür, dass sie es gehört hatte, nicht dafür, dass er es gesagt hatte.
Das war dann ihre King-Horse-Phase geworden. Die Kneipe kannte sie von ihrer Zeit auf der Wache in der Mörkenstraße. Das King Horse lag am westlichen Rand vom Kiez; wenn man rauskam, stand man mit einem Bein schon fast in Altona-Altstadt. Der Laden war ein bisschen zu abgelegen für alle, die ihr den Kiez unerträglich machten: die Zuhälter, die Junggesellinnen und Junggesellen, die Partypeople von der Freiheit und vom Hamburger Berg. Stattdessen: ein paar Nachbarn von den Mietshäusern Richtung Holstenstraße, ein paar Touris, die erschöpft von den Kiez-Klischees waren, und Männer und Frauen um die dreißig, die in der Neustadt, am Vorsetzen oder im Portugiesenviertel arbeiteten. Von der Signal-Iduna, von Gruner + Jahr oder eben von der Polizei. Das erste Mal war sie mit ein paar Kolleginnen nach der Schicht ins King Horse gegangen, und ihr hatte der Geruch gefallen: altes braunes Ledersofa, Amaretto, Ernte 23.
Nach einer Weile hatte sie gemerkt, dass das King Horse bei einigen den Ruf als Aufreißerschuppen hatte. Es hatte sie nicht gestört. Sie mochte die Blicke, manchmal auch die Sprüche. Sie mochte den Moment, wenn man seine Jacke nahm und jemand anders nahm seine auch, und man trat zusammen auf die Straße, und die Luft roch nach Zuckerwatte, Kotze und Benzin. Und meistens mochte sie auch die Nächte. Sie war allein, und im Job lief es schlecht damals. Im King Horse lief es meistens gut für sie.
Zum Beispiel hatte sie dort Thorsten getroffen.
Sie zog die Schultern hoch unter der Erinnerung, aber dann spürte sie den warmen Regen und sah, wie der Himmel ein bisschen heller und ein bisschen dunkler zugleich wurde, Wolken, Sonne, Regen und Dämmerung in eins gerollt. Meta Jurkschat war selten bedrückt. So fühlte sich das also an. Man vergaß es ja fast.
In der S-Bahn wurde es besser, weil sie da deutlicher merkte, dass sie ein Ziel hatte. Es reichte, erst mal nur bis dahin zu denken, wo man hinwollte.
Der Chef. Als Finzi vom Heckenmann und aus dem Krankenhaus erzählte, und wie der Bettnachbar gesagt hatte, der zusammengeschlagene Typ hätte sich «Chef» nennen lassen, hatte sie ein Gefühl hinter der Stirn bekommen, als wenn man ins Auto steigt und merkt, dass irgendwas gerade schlecht zu riechen anfängt, ein Apfelgriebsch im Türfach oder ein Stück Stulle in der Rückbankritze, und man weiß, es könnte zwar auch einfach nur nichts sein, aber man ahnt: Doch, da ist was, und es wird immer schlimmer werden.
Dann hatte sie die Liste gesehen und den Eintrag «King Horse – KH», und das hatte sie an Thorsten erinnert. Und Thorsten hatte einen Freund, der Scheffler hieß, und den nannten sie Scheff.
Auf der Rückfahrt aus Schleswig-Holstein hatte sie sich Scheff von Finzi beschreiben lassen, ohne sich was anmerken zu lassen. Ja, das war er. Und sie würde ihn finden. Das King Horse, das Sabaschinsky, das Wreck-It und Evie’s Bar. Irgendjemand in einem der vier Läden auf der Liste würde wissen, wo Scheff sein könnte, und dann würde sie ihn finden, und dann hätte sie jemanden vor sich, der ein paar Antworten geben würde. Warum Thorsten tot war. Was er mit Frank Jablonski zu tun gehabt hatte, was im Waldheim losgewesen war. Eckhart Lorenz, das war der dritte Name, den Namen hatte Adam ihr geschickt. Aber der sagte ihr nichts.
Und sie würde endlich herausfinden, warum sie die ganzen Jahre über mit Thorsten so was wie Angst gehabt hatte.
Sie mochte, wie in der S-Bahn die Jeansjacken-Ärmel auf ihr trockneten. Sie fasste sich in die nassen Haare und stellte fest, dass sie offen waren. Seitdem der Jäger im Wald sich neben ihnen erschossen hatte und sie in Plön auf der Wache geduscht hatte, hatte sie sich keinen Pferdeschwanz mehr gebunden. Sie stieg Königstraße aus, weil sie lieber durchs Altonaer Ende zum Kiez lief als von der Haltestelle Reeperbahn quer durch Sankt Pauli. Zu viele alte Kolleginnen und Kollegen auf Streife und in Zivil. Außerdem mochte sie die orangefarbenen Kacheln vom S-Bahnhof Königstraße und die leicht runtergekommene, leicht abschüssige Königstraße selbst, unfreiwilliges Bindeglied zwischen den Altonaer Ambitionen und den Kiez-Klischees. An der Hafenschule vorbei, am Turnverein, dem jüdischen Friedhof und der Tankstelle.
Am Gitarrenladen überquerte sie den Pepermölenbek und dann nach links die Reeperbahn, und mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, weiter zurückzugehen in ihre Vergangenheit. Sie ging an der Holstenstraße entlang ein Stück Richtung Norden, bevor sie sich auf Höhe der Louise-Schroeder-Straße nach rechts von Sankt Pauli verschlucken ließ. Der Regen hatte aufgehört, die Gehwege waren wieder trocken.
Im King Horse sah es aus wie immer. Es roch, wie sie es in Erinnerung hatte. Und es war nichts los. Rechts am Tresen zwei Trinker, die sie als solche an den rundgehockten Rücken und den selbstgemachten Haarschnitten erkannte. Sie nahmen keine Notiz von ihr. Links drei junge Werber, die sie enttäuscht anschauten und sich dann wieder ihren Smartphones und Whiskey Sours zuwandten. Die warteten entweder auf ihren Koks-Dealer oder auf Frauen, die attraktiver waren, als sie Meta Jurkschat fanden. Der junge Mann, der hinter dem Tresen an einem Kühlschrank mit Glastür lehnte, hatte die hängenden Arme mit schwarzen Flächen tätowiert, das sah eigentlich ganz gut aus, aber auch, als hätte er die eine oder andere Fehlentscheidung übermalen lassen. Seine gepiercte Augenbraue hatte sich entzündet.
Meta stellte sich an den Tresen, ihr Fuß fand das Metallrohr in zehn, zwanzig Zentimetern Höhe, und sie hörte sich sagen: «Amaretto mit Whiskey.» Seit sie mit Finzi zusammenwohnte, trank sie praktisch keinen Alkohol mehr. Sie ahnte, dass es ihm egal gewesen wäre und dass ihn ihr offensichtlicher Verzicht vielleicht sogar mehr störte, als hin und wieder ein Glas Weißwein oder ein Jever light es getan hätten. Aber sie konnte nicht anders. Und sie brauchte normalerweise keinen Alkohol, um sich locker und leicht zu fühlen. Meta Jurkschat fand, dass sie auch ohne Alkohol immer recht locker war. Aber sie ahnte, dass das nicht alle so sahen.
Im King Horse kriegte man Durst. Hier musste man was Braunes bestellen. Über dem Tresen hing der übliche Müll, alte Sankt-Pauli-Mannschaftsbilder aus der Mopo, schwer vergilbt, Autokennzeichen aus den USA, «Florida – The Sunshine State», alte Stiche von Fischen, Postkarten von Stammgästen aus dem Urlaub, viel Italien, Spanien, Griechenland und Türkei, ein Känguru-Verkehrszeichen. Vor Jahren war sie mit einer amerikanischen Ausrüstungsvertreterin, die sich anschließend als illegal operierende US-Agentin entpuppt hatte, nach der Arbeit in der Innenstadt einen trinken gegangen. Meta hatte Ärger im Job. Mit Adam. Das fand die Amerikanerin interessant. Später verstand Meta auch, warum. Die Amerikanerin hatte Whiskey bestellt und gesagt, als sie die braunen Gläser vor ihre Gesichter hoben: «Stuff it down with brown.» Davon hatte sie Adam nie erzählt, obwohl sie beide später richtige Probleme mit der Amerikanerin bekommen hatten. Ihr einziger Schusswaffeneinsatz in neunzehn Dienstjahren.
Der Mann, der nicht kompetent genug wirkte, um ihn Barkeeper zu nennen, drehte sich unschlüssig zum Regal mit den harten Sachen um. «Was Bestimmtes?»
«Jim Beam.»
«Ganz was Feines.»
Sie nickte. Das Leben war weniger kompliziert, wenn man die Ironie von anderen ignorierte. Dann musste man nicht überlegen, ob es überhaupt welche war und was man Geistreiches darauf hätte antworten können. Da war sie bei Adam durch die harte Schule gegangen.
«Du bist aber noch nicht lange hier», sagte sie und war ein bisschen überrascht über ihren forschen Ton. Das mochte sie an Kneipen: Man wurde jemand anders, wenn man am Tresen stand. Finzi behauptete, man wurde mehr man selbst. Aber vielleicht bedeutete das das Gleiche.
«Kann sein.»
«Und wie heißt du?»
Er zögerte. Sie war vielleicht nicht doppelt so alt wie er, aber sie war dem vierzigsten näher als er dem fünfundzwanzigsten. Nächste Woche war es so weit.
«Leon.»
Sie nickte. Adam würde jetzt sagen: Da hätte man auch von allein drauf kommen können. Aber nee. Eben nicht.
«Warum?»
«Kein besonderer Grund», sagte sie und steckte ihre Zunge in das Glas, das er ihr hingestellt hatte. Eine Angewohnheit seit ihrer Kindheit. Finzi amüsierte sich darüber, Thorsten hatte es wahnsinnig gemacht. Spielen, dass man ein Kätzchen ist. Für einen Moment. Schadete doch niemandem.
«Kommt Scheff heute noch?», fragte sie. Daran hatte sie den ganzen Fußweg lang gefeilt.
Leon war kein guter Schauspieler. Er hob alarmiert die Augenbrauen, was offensichtlich weh tat, denn er verzog sofort das Gesicht, nahm sie wieder runter und sagte erst mal gar nichts.
«Wer?», fragte er dann.
«Ein alter Freund von mir», sagte Meta. «Scheffler, den sie Scheff nennen.»
Leon fing an, sich unter der Theke nach einem Lappen oder etwas anderem umzusehen.
«Nie gehört», sagte er.
«Na ja, kann schon ein paar Jahre her sein. Früher war er hier Stammgast.»
«Nee, so lange bin ich noch nicht hier.»
«Und kennst du Thorsten noch?» Es half, dass sie erst einen großen Schluck genommen hatte, bevor sie den Namen aussprach.
«Ich kenn ganz viele Thorstens», sagte Leon. Es klang fast stolz. Sie nickte langsam. Meta Jurkschat hatte eine Angewohnheit, von der sie nie jemandem erzählt hatte, erst recht nicht Adam oder Finzi: Sie fragte sich bei jedem neuen Menschen, den sie traf, was sein Verbrechen war. Es war ein Tick, den sie nicht abschütteln konnte. In der zweiten, dritten Klasse hatte sie eine Phase gehabt, in der sie zwanghaft die Buchstaben aller längeren Wörter gezählt hatte, im Kopf und an den Fingern unterm Tisch, immer in der Hoffnung, ein Wort mit zehn Buchstaben zu finden.
Schwimmbad.
Eierkuchen.
Turnbeutel.
Schokolade.
Wasserball.
Handarbeit.
Jetzt suchte sie nach Menschen, die sie sich nicht als Verbrecher vorstellen konnte. Es gab weniger davon als schöne Wörter mit zehn Buchstaben. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz bei den Werbern links, die Trinker rechts kamen von der Körperverletzung und waren jetzt bei kleineren Eigentumsdelikten, nichts, was zu viel Mühe machte. Leon gefiel ihr gar nicht. Dummheit, ein gewisses Unterlegenheitsgefühl, vager Stolz schon darüber, viele Thorstens zu kennen: Sie siedelte ihn an Richtung sexuelle Nötigung. Und war genervt von sich selbst, wie damals, wenn ihre Finger unter dem Tisch Wörter nach ihrer Buchstabenzahl abgetastet hatten.
Sie nahm noch einen Schluck. Adam. An dem scheiterte sie irgendwie. Seit sie den kannte, fiel ihr für Adam kein Verbrechen ein, das sie ihm zutraute. Allerhand Fahrlässigkeiten, gut. Aber nichts mit niederen Beweggründen. Und sie fragte sich, ob sie ihn gerade deshalb eigentlich mochte, oder ob er ihr deshalb immer fremd bleiben würde.
«Thorsten Stahmer», sagte sie, nachdem sie das Glas geleert hatte. Zu viel trinken, ein taktischer Fehler.
Leon deutete auf das Glas und fragte: «Noch einen?»
Jetzt musste sie überlegen, dadurch unterbrach sie den Rhythmus, den sie bis eben selbst bestimmt hatte.
«Klar.» Sie konnte ihn ja stehenlassen. Meta studierte die speckige Thekenoberfläche. Irgendwo in oder auf dieser Schicht war noch die DNA von Thorsten und von ihr. Jeder hinterließ irgendwo alles mögliche, die ganze Welt bestand nur aus alten Spuren.
Ein Schatten fiel auf den Tresen. Meta blickte auf. Eine Frau Anfang dreißig, Blümchenkleid und Doc Martens, so ein Frühe-neunziger-Jahre-Look, und den dunklen Pferdeschwanz zusammengebunden mit einem Haarband, an dem zwei glänzend dunkelrote Plastikkirschen baumelten, die gleichzeitig einen Teil vom Verschlussmechanismus bildeten. Beleidigung, Sachbeschädigung. Die Frau hatte Leon leicht beiseitegeschoben und stützte sich auf, sodass sie Meta leicht von unten ansah.
«Leon, du bist zum Scheißen zu dämlich», sagte sie.
«Was denn.»
«Polizei.»
«Wie.»
«Die Kollegin hier ist von der Polizei, hat sich nicht ausgewiesen und stellt dir trotzdem Fragen. Das geht zwar nicht, aber na gut. Richtig scheiße ist aber, wenn man das nicht merkt und die Fragen auch noch beantwortet. Das ist saudumm. So wie du.» Die Werber guckten Meta an, dann einander, rutschten hin und her, nahmen ihre Drinks und suchten sich einen Tisch nah am Ausgang.
«Kannst du mal aufhören, mich immer zu dissen, Lore.»
«Ist ja nicht dissen. Das sind nur Feststellungen. Ich beschreibe nur, was ich hier direkt vor mir sehe. Eine ganz bisschen geschickte Polizistin und einen absolut unterirdisch minderbemittelten Typen.»
Na ja, dachte Meta Jurkschat. Du bist auch nicht so ganz richtig helle. Vielen Dank jedenfalls, dass ich die kleine Szene miterleben darf. Irgendwas nimmt man dann doch immer mit. Abgebrochene Studentin, vermutete sie. Sozial- oder Geisteswissenschaften.
«So», sagte Lore, «deine Scheißgetränke gehen aufs Haus, und dann Abflug.»
«Sie reagieren empfindlich, wenn man nach alten Stammkunden fragt», stellte Meta fest.
«Deine Scheißjeansjacke, diese bequemen Schuhe, da macht ihr ja offenbar immer ’ne Sammelbestellung, Fingernägel praktisch kurz, und immer auf so ’ne bestimmte Art sitzen, als hättet ihr ’n Holster am Gürtel, auch wenn ihr nicht im Dienst seid. Fehlt nur noch der Pferdeschwanz, echt. Hältst du mich für so bescheuert wie Leon hier?»
«Sie haben das genau richtig erkannt: Ich bin nicht im Dienst.»
«Ja. Okay. Super. Nicht im Dienst, aber auch nicht viel länger in meiner Kneipe.»
«Gehört Ihnen der Laden? Was ist denn aus …» Meta ärgerte sich. Sie kam nicht mehr auf den Namen. Aber sie erinnerte sich, dass er zehn Buchstaben gehabt hatte. «Na, dem das früher hier …» Sie brach ab und guckte angestrengt, weil sie hoffte, dass der Name aus Leon herausplatzen würde. Herr Lehrer, ich weiß was!
«Süß», sagte Lore.
Meta Jurkschat stand auf. Irgendwann würde sie Leon allein erwischen. Vielleicht nach Schichtende. Oder an einem anderen Tag. Dieser Leon wusste, wer Scheffler war, und vielleicht auch, wo er war. Aber sie hatte nicht mehr viel Zeit.
«Danke für die Drinks», sagte sie. Dann stutzte sie. Sie beugte sich über den Tresen, bis Lore drohend die Hand ausstreckte. No pasaran, und so weiter. Meta zeigte auf einen der alten Fisch-Stiche. «Lamprey» stand darüber, was Auf-alt-Gemachtes aus England. Sie erkannte den Fisch: ein Neunauge. Acht Buchstaben. Ein Neunauge inmitten von Aalen, Hechten, Karpfen, Dorschen und Heringen. Wie auf diesem hässlichen Schaubild, das Adam aus der Schule mitgebracht und gleich im Wohnzimmer aufgehängt hatte.
«Wer hat das da aufgehängt?», fragte sie.
«Spinnst du?» Lore wurde laut, das holte die mühelos aus dem zierlichen Körper. «Immer noch Fragen, echt? Du, wenn ich mit der Polizei reden will, geh ich auf die Davidwache und sage, im Geizhaus gibt’s Handentspannung umsonst für Staatsbürger in Uniform, weiß doch jeder, wie das läuft …»
Sie kannte die Strategie. Möglichst laut möglichst viel Unsinn reden, um den anderen abzulenken.
Meta Jurkschat nahm ihr Telefon aus der Jacke, machte ein Foto des reproduzierten Neunauge-Stichs und sagte: «Ich komm morgen wieder mit einer richterlichen Anordnung, dann hängt das noch da, denn das nehm ich dann mit. Und eine ganze Menge vom Rest.»
Lore sah sie an, als müsste sie noch überlegen, mit welcher Hand und aus welcher Richtung sie Meta gleich eine reinschlagen würde. Dann streckte Meta den Arm aus, weil sie eine Postkarte von der kroatischen Küste wiedererkannt hatte, eine Felsformation, die Thorsten und sie vor einigen Jahren geklettert waren. Damals hatten sie noch Postkarten verschickt.
«Und die nehm ich jetzt schon mal mit», sagte sie und zog die Karte von der Wand, die dort weniger durch Tesa- und mehr durch einen Nikotin-Film gehaftet hatte. «Die gehört nämlich mir.»
«Spinnst du?»
Leon wich zurück und versuchte, in der gleichen Bewegung bedrohlich auszusehen, was ihm nach Meta Jurkschats Einschätzung gründlich misslang. Lore hingegen kam vor und fiel ihr in den Arm.
Meta Jurkschat hatte das Gefühl, dass sie sich auf einer abschüssigen Bahn befand, was ihre Karriere und ihre Polizeiarbeit anging. Aber sie war immer besonders gut in den technischen Dingen gewesen. Sie war die Beste im Schießen, besser als Finzi, Adam, Behling, Kienbaum, besser als der ganze Laden. Und, wenn man von ihrer Gewichtsklasse ausging, die Beste in Kampftechniken.
Sie griff mühelos und schnell in Lores Arm. Mit dem Tresen zwischen ihnen bekam sie die andere nicht in den klassischen Polizeigriff, aber es gelang ihr, sie in einer einzigen Bewegung so auf den Tresen zu drehen, dass Meta mit der linken Hand in Ruhe die Postkarte studieren konnte, während sie mit der rechten Lores Arm nach hinten bog und sich mit dem Ellenbogen auf den Kopf der anderen stützte, sodass Lores Gesicht auf dem klebrigen Tresen lag.
«Das ist so was von Misshandlung und Amtsmissbrauch und so», zischte Lore in ihre Achselhöhle. Meta Jurkschat hörte, wie die Werber durch die ächzende Tür abhauten und wie die Trinker langsam die Köpfe hoben und sich die Haare hinter die Ohren strichen. Lore hatte ja recht. Aber dafür hatte Meta jetzt keinen Sinn. Sie hatte erwartet, Thorstens Schrift zu sehen, aber das Gefühl überraschte sie dann doch. Was Scharfes, Helles in ihr, ein unangenehm türkisfarbenes Pfefferminzgefühl.
Hey Jungs, las sie.
Ganz schön hier, aber auf die Dauer bisschen langweilig. Kann’s nicht erwarten, wieder auf Hasenjagd zu gehen. Wochenende auf meiner Hütte steht. Aber ohne Scheff!!! Wir sprechen, wenn ich zurück aus Kassel bin. Bleibt sauber,
Thorsten
Auf der Straße wieder der Regen, aber sie ignorierte ihn wie einen alten Freund, der einen im Stich gelassen hatte. Ein Schritt nach dem anderen. Kassel war jetzt wichtiger als die anderen alten Kneipen. Sie nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof und kaufte eine Fahrkarte, ICE am gleichen Abend. Sie wusste von keiner Hütte. Sie konnte sich erinnern, dass Thorsten nach ihrer Kroatien-Reise zu seinen Eltern hatte fahren wollen, aber von einer Hütte hatte sie nie gehört. Seine Eltern würden wissen, um welche Hütte es ging.
Sie wählte die Nummer in Kassel, bei der sich neulich jemand mit Jürgen Stahmer gemeldet hatte. Diesmal legte sie nicht auf. Sie sagte: «Ich komme nach Kassel. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen. Ich nehme den nächsten Zug.»
Und wenn sie die Hütte gefunden hatte, würde sie schauen, ob Scheff in dieser Hütte war.
Aber zuallererst würde sie schlafen in Kassel, noch bevor sie morgen seine Eltern suchen würde. Schlafen, in irgendeinem Kettenhotel möglichst nah am Bahnhof, in einem absolut verwechselbaren Bett, einen traumlosen Schlaf, umgeben von Gerüchen, nach denen sie sich jetzt schon sehnte: industriell gestärkte Bettwäsche, hart und sauber, Chlor und synthetische Meersalzgerüche aus dem Wellnessbereich, aufgebackene Frühstücksbrötchen.
Und dann erst, nach all dem, ganz am Ende, würde sie anfangen, sich mit dem Thema Hasenjagd zu befassen.