44. Kapitel

«Und seit wann?», fragte Karin Busche.

«Sie meinen, seit wann ich wusste, dass ich ein Mädchen bin? Oder wann ich mit den geschlechtsangleichenden Maßnahmen begonnen habe?» Linda Olenroth ließ deutlich durchblicken, wie geduldig sie sich das alles anhörte und beantwortete.

«Beides, nehme ich an», sagte Karin Busche.

Danowski räusperte sich. «Sie müssen uns das natürlich nicht erzählen.»

Sie sah ihn an. «Warum nicht? Meinen Sie, das ist mir irgendwie peinlich? Finden Sie, das ist eine unangenehme Geschichte, die man lieber für sich behalten sollte?»

«Nein», sagte Danowski, «so meine ich das natürlich nicht. Aber …» Er brach ab. Er wusste nicht, was er gemeint hatte. Oder er hatte all das gemeint, was Linda Olenroth gesagt hatte.

«Ich habe gewusst, dass ich ein Mädchen bin, seit ich begriffen hatte, dass es überhaupt einen Unterschied gibt», sagte sie. «Also vielleicht, seit ich vier oder fünf war. Das ist schon ganz wichtig, das dazuzusagen, denn … Also, ich wusste immer, wer ich sein will oder wer ich bin. Darum hat mich dieses … Rumgehacke in der Schule auch nicht so grundsätzlich erschüttert. Ich wusste, eines Tages bin ich da weg, und dann …» Sie lächelte. «Ich dachte immer, ich geh nach Amerika. Nach San Francisco oder nach New York. Ich hab irgendwann mit acht oder neun mal in einem Geo oder Stern oder was weiß ich so Bilder von Transvestiten beim Christopher Street Day gesehen. Das ist natürlich wieder was anderes», an Danowski gewandt, «aber damals wusste ich das nicht. Ich wusste einfach: Es gibt Orte auf der Welt, an denen Männer sich in Frauen verwandeln können, warum also nicht Jungs in Mädchen.»

«Und das hat dir Kraft gegeben», sagte Karin Busche in einem Ton, als streichele sie Linda Olenroth die Hand.

Linda Olenroth zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. «Sie müssen mich nicht bemitleiden, Frau Dr. Busche. Vor allem nicht im Nachhinein. Mir geht’s gut.»

«Aber das war doch sicherlich wahnsinnig schwer … Ich meine, deine Eltern, haben die dich denn unterstützt … Und dann immer dieser Terror auf dem Schulhof …» Karin Busche seufzte und lehnte sich zurück. Danowski runzelte die Stirn.

«Meine Eltern haben lange gebraucht, um das zu verstehen», sagte Linda Olenroth. «Mein Vater hat mir unsinnige Tipps gegeben, ich soll mir einen rauspicken von denen, die mich immer Schwuchtel nennen, und den soll ich fertigmachen, und selbst wenn ich verliere, hätte ich dann deren Respekt oder so was. Aber er hat nie gesagt, ich soll doch vielleicht keine Batik-T-Shirts und keine rosa Sneakers in die Schule anziehen. Meine Mutter auch nicht. Die Familie hat zusammengehalten. Das wurde mir beigebracht. Und dass es ein Wert an sich ist, zu wissen, wer man sein will. Dass das etwas bedeutet, das wichtig ist, weil, viele wissen es nämlich ihr Leben lang nicht.»

Danowski fragte sich, ob ihm die Situation unangenehm war, weil es ihn in Verlegenheit brachte, dass er Linda Olenroth nicht in Verlegenheit bringen wollte, oder ob hier noch etwas anderes in der Luft lag, das er noch nicht ganz verstand. Oder weil der letzte Satz länger in ihm arbeitete, als ihm lieb war. Wusste er, wer er sein wollte? Er wollte etwas sagen, aber Linda Olenroth kam ihm zuvor.

«Und ich durfte mit achtzehn anfangen, die Hormone zu nehmen», sagte sie. «Daran sehen Sie, wie klar das für mich war. Dass ich auch die am UKE hier davon überzeugen konnte. Klarheit gibt einem Sicherheit.»

Es klang wie der Werbespruch einer mittelgroßen, nicht besonders guten Versicherung, aber Danowski merkte, dass er nickte. Manchmal war es genau diese Klarheit, die ihm fehlte. Worauf wollte er eigentlich hinaus? Strenggenommen war er hier ein Abgesandter des Arschlochs aus München, um das bestellte Mopping-Gutachten zu überarbeiten.

«Und deshalb sind Sie hier?», fragte Linda Olenroth. «Um sich das anzuhören?»

Danowski schüttelte den Kopf. «Sind Sie damals auch von irgendwelchen anderen Jugendlichen oder jungen Männern drangsaliert worden, die nicht mit Ihnen an der Schule Pulvermühle waren?», fragte er gestelzt.

«Nicht regelmäßig, nein. Nähe schafft Vertrauen.» Weiter mit den Lebensversicherer-Slogans. «Also, die Kinder aus der Nachbarschaft kannten das so lange, wie ich war, denen war das egal. Die haben mich Luise gerufen, aber gar nicht böswillig.»

«Warum sind Sie nicht bei Luise geblieben?», fragte Karin Busche.

«Luise? Wirklich?»

«Kennen Sie einen dieser drei Männer?», fragte Danowski und legte die gut durchgewärmten Fotoausdrucke der drei Todesopfer vor sich auf den Couchtisch, als würde er rauskommen bei einem verhängnisvollen Rommé-Spiel. «Eckhart Lorenz, Frank Jablonski, Thorsten Stahmer.»

Linda Olenroth musste sich weit nach vorne lehnen auf ihrem Klavierschemel. Ihre Hände lagen auf ihren Knien, und weil er Frauen mit großen Händen mochte, starrte er sie etwas zu lange an.

«Nur aus der Zeitung. Das sind die drei Toten, die Sie in den Schulkellern gefunden haben.»

«Ja. Und von früher? Hier ist ein Foto von Ecki Lorenz aus der Zeit, als Sie noch auf der Pulvermühle waren.» Konnte er das jetzt anlegen, oder wie waren die Regeln im Todes-Rommé?

«Nein, natürlich nicht. Was hätte ich mit so einem BWL-Typen Ende zwanzig, Anfang dreißig anfangen sollen? Ich war vierzehn oder so was.»

Es stimmte. Die drei Toten hatten früher alle recht poppermäßig ausgesehen, das war ihm auch schon eingefallen. Ihm fiel ein Graffito vom Klo seiner eigenen alten Schule in Süd-Berlin ein, 1984: Poppermord als Breitensport.

«Sie haben vorhin nicht widersprochen, als Frau Busche von Terror auf dem Schulhof gesprochen hat», sagte Danowski. «Wie sah dieser Terror aus? Was haben die anderen mit Ihnen gemacht?» Das fiel ihm leicht. Diesen Polizeiton zu treffen. Wo hat der Mann dich angefasst. Mit welcher Hand hat er Ihnen ins Gesicht geschlagen.

«Schwuchtel, wie gesagt. Alle möglichen anderen Wörter, die Sie dafür kennen. Hab ich alle gehört auf der Pulvermühle. Meine Schuhe geklaut und mit Hundescheiße vollgeschmiert. Mich beim Sportunterricht aus der Jungs-Umkleide gezerrt und bei den Mädchen reingeschubst. Also, ich war ja froh, wenn man so will. Ich hätte mich lieber bei den Mädchen umgezogen. Aber die Mädchen haben mich dann auch pervers genannt, das war dann mit das Schlimmste, denn eigentlich wollte ich ja gern bei denen sein. Sie haben mich in den Keller gesperrt, weil sie wussten, dass ich Angst im Dunkeln habe. Wie ein Mädchen, haben sie gesagt. Und mich zu viert oder fünft auf dem Schulklo festgehalten und ausgezogen, damit ich sehe, dass ich einen Schwanz habe. Daraufhin hat Frau Dr. Busche dann ein halbes Jahr lang die Toiletten abschließen lassen, und niemand durfte rein, ohne dass ein Lehrer vor der Tür stand.»

«Das war natürlich nur eine kosmetische Maßnahme», sagte Karin Busche. «Das ist mir jetzt auch klar.»

«Nein. Es hat was bedeutet. Und mein Leben etwas einfacher gemacht.» Sie lachte. «Ich hatte eine ziemlich beschissene Schulzeit, aber ich bin klargekommen.»

«Leider ist genau das meine Aufgabe gewesen», sagte Karin Busche, und Danowski spürte ihren heißen Körper neben sich. Die Ledercouch war eingesunken, sodass sie ein bisschen näher zueinandergerutscht waren. «Dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche keine beschissene Schulzeit haben. Ich hatte nur einen Job, und dass …»

Linda Olenroth schüttelte etwas ungehalten den Kopf, und Danowski verstand, was ihr nicht behagte: Wie Karin Busche sie erst als Opfer behandelte, um dann in Richtung Selbstmitleid abzudriften. «Von mir werden Sie keine Absolution bekommen, Frau Dr. Busche.»

«Das habe ich auch gar nicht gesagt …»

«Es ist komisch, wie ihr es doch immer wieder schafft, dass es am Ende um euch geht. Meine …», sie gestikulierte mit den Armen, aber das Wort, das sie fand, schien ihr nicht ganz zu behagen, «…  Menschwerdung ist nur eine Fußnote, bestenfalls ein kleines, seltsames und ein bisschen trauriges Kapitel in Ihrer Geschichte als engagierte Schulleiterin. Wenn das das ist, was Sie hier mitnehmen …»

«Um Gottes willen, nein, Luis … Linda, ich wollte Sie nicht kränken …»

«Ihn verstehe ich», sagte Linda Olenroth und zeigte leicht unverschämt auf Danowski. «Er interessiert sich dafür, wer früher an der Pulvermühle hart gemobbt wurde, weil das vielleicht ein Mordmotiv wäre oder so was. Was ich nicht verstehe, ist, warum ich Ihnen dann zuerst einfalle, Frau Dr. Busche. Ist das alles, was Sie und die anderen Lehrer von mir in Erinnerung haben von den Jahren in der Pulvermühle? Dass ich rosa Schuhe und Blümchenhemden anhatte und dass ein paar aus der Elften mir im Klo die Hose runtergezogen haben? Woran können Sie sich sonst noch erinnern aus meiner Schulzeit? In welchen Fächern war ich gut? War ich bei der Schülerzeitung? Hab ich ein Instrument gespielt? Hab ich Sport gemacht? Rhythmische Sportgymnastik oder so was?»

«Linda, bitte seien Sie doch nicht so aggressiv, ich kann Sie ja verstehen …»

Linda Olenroth lachte. «Aggressiv. Sie werden nicht glauben, wie oft ich das Wort schon gehört habe. Fast so oft wie früher Schwuchtel.»

Danowskis Instinkt sagte ihm, dass sich hier gerade etwas vor ihm aufblätterte, und er brauchte nur hinzusehen.

«Sie haben meine Frage nicht beantwortet», sagte Linda Olenroth.

«Linda, ich … Sie waren im Orchester, Sie haben …»

«Quatsch. Ich hab Keyboard gespielt in der Rock-’n’-Ska-Band.»

«Ja. Richtig.»

«Soll ich mal sagen, woran ich mich noch alles erinnere, Frau Dr. Busche? Viele haben gesagt, dass Sie lesbisch sind. Weil Sie keinen Mann hatten. Und sich für Werken und Naturkunde und so interessiert haben. Ihr Traum wäre gewesen, eine Amazonas-Expedition zu machen, das haben Sie mal im Vertretungsunterricht erzählt. Ihr Lieblingsschriftsteller war Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, das ist mir später wieder eingefallen, als ich das in einem Antiquariat gesehen habe, so was Langweiliges. Sie haben das im Fragebogen der Schülerzeitung gesagt. Der Hausmeister war wahnsinnig verknallt in Sie, der hatte ja auch keine Frau, eigentlich wären Sie ein schönes Paar gewesen, aber halt: lesbisch. Was natürlich Quatsch war. Der hat ihnen ab und zu ihr Cabrio gewachst, einfach nur so, und Ihnen die Tür aufgehalten, wenn Sie eingestiegen sind.»

«Ich denke», sagte Karin Busche, «das reicht. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Sie hatten eine Schulleiterin und vielleicht ein, zwei Dutzend Lehrer. Ich hatte Tausende Schüler.»

«Ja. Aber in dem Moment, wo ich Ihnen aufgefallen bin, so sehr, dass Sie sich noch Jahre später daran erinnern, in dem Moment war alles, was Sie an mir wahrgenommen haben und woran Sie sich erinnern: Opfer.»

Vielleicht halten Sie jetzt einfach mal die Klappe, Frau Dr. Busche, dachte Danowski. Die ehemalige Schulleiterin, zu deren Fähigkeiten offenbar auch das Gedankenlesen gehörte, sagte nichts.

«Ich denke, das war’s dann, oder», sagte Linda Olenroth und stand auf.

 

Als sie wieder unten waren, sagte Karin Busche: «Das war ja nicht so ergiebig, nicht wahr?»

Danowski ging um sein Auto herum. Seine Übermüdung ließ im schrägen Licht alles klarer hervortreten: die Konturen der materiellen Dinge, aber auch seine Gedanken. Er spürte die Nähe eines Plans. Eine gewisse Klarheit. Auf drei Säulen. Mit Sicherheit. Etwas, worauf er vertrauen konnte. Er lächelte vor sich hin und öffnete die Fahrertür. Bevor er einstieg, hielt er kurz inne.

«Ach, das würde ich jetzt nicht so sagen.»