Nach wenigen Minuten fragte Behling sich, ob in Wahrheit nicht Stunden vergangen waren. Er sah verstohlen auf seine Uhr, während er weiter nach einem Ausgang vom Schulgelände suchte. Nein, das war alles noch ganz normal. Er lief halt einfach noch ein bisschen hier herum und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Über die Gesamtsituation. Also insbesondere die Lage der Schule. Deren Gebäuderiegel sich auf eine Art und Weise um ihn geschoben hatten, die er nur noch als persönlichen Angriff verstehen konnte. Vorhin waren sie definitiv von hier gekommen, da waren die Büsche rechts gewesen und die Baustelle von der Aula auf der linken Seite, aber warum waren da jetzt Bauzäune, obwohl niemand auf der Baustelle arbeitete, der sie hätte aufstellen können?
Er blieb mitten auf dem Schulhof stehen und sah sich um, als ließe er ganz kriminalistisch noch einmal alles auf sich wirken. Wenn er jetzt wieder den halben Weg zurückging, musste er noch mal an Danowski und Finzi vorbei, dann würden die endgültig denken, er wäre verwirrt. Andererseits war das der einzige sichere Weg zur Straße.
Behling kratzte sich am Kopf und beschloss, ein paar Minuten verstreichen zu lassen, bis die anderen weg waren, um dann doch umzukehren und den richtigen Weg zu nehmen. Er setzte sich auf eine Bank und wunderte sich über den Mitteilungsdrang der Schüler. Narrenhände beschmieren Tisch und Wände, das hatten ihm seine Eltern und Lehrer früher noch gesagt, aber wenn er ehrlich war, hatte er schon damals den Drang verstehen können, seinen Namen oder eine Zeichnung irgendwo zu hinterlassen, wo es eigentlich nicht erlaubt war. Nur, dass die Mitteilungen heute gar nicht mehr zu verstehen waren, das waren alles sinnlose Zeichen, die nur derjenige verstand, der sie hinterlassen hatte, die ganze Welt redete nur noch mit sich selbst.
Er schloss die Augen gegen die Sonne. Knud Behling hatte Durst.
Sein Telefon klingelte. Er schluckte trocken. Schon wieder Kienbaum.
«Ja.»
«Es wird leider immer schlimmer.»
«Was denn jetzt noch.»
«Wir haben einen ganz komischen Anruf von der Kripo in Kassel bekommen. Die sind selber erst dabei, das alles zusammenzufriemeln, aber …» Kienbaum schnalzte oder schmatzte oder machte irgendwas anderes mit dem Mund, was sich durch Behlings Telefon unangenehm anhörte.
«Was denn nun.»
«Die Kollegin Jurkschat war in Kassel und hat offenbar mit dem Vater von Thorsten Stahmer geredet.»
«Warum das denn. Das haben doch die Kollegen in Kassel längst … außerdem ist die Lütte krankgeschrieben.»
Knud Behling spürte einen Stich, wie immer, wenn er sich von Meta verraten oder missachtet fühlte. Ging doch immer um Frauenrechte und so weiter, und wenn man sich dann mal für eine von denen einsetzte und sich kümmerte um die, dann war es auch wieder nicht recht. Er hatte Meta von Anfang an helfen wollen, und eine Zeitlang hatte die das auch angenommen, aber irgendwie war sie übergelaufen. Ins Lager von Adam Danowski und Finzi. Und was für ein Saustall das war, dieses Lager.
«Na ja», sagte Kienbaum, der wollte ihn offenbar schonen. «Sieht so aus, als wäre Thorsten Stahmer der Exfreund von Meta Jurkschat.»
Behling öffnete die Augen und sah den Plan des Schulhofes plötzlich mit großer Klarheit vor sich. Er wusste genau, wie er jetzt gehen musste.
«Das kann nicht sein», sagte er. «Das hätte die Lütte uns doch längst gesagt.»
Kienbaum schwieg taktvoll.
Da hinten, auf der anderen Seite der Baustelle, zwischen der benachbarten Grundschule und dem äußeren Gebäudetrakt des Gymnasiums. Dann musste er nicht noch mal an Finzi und Danowski vorbei, falls die immer noch hier rumstanden.
«Das kann nicht sein», wiederholte er. Doppelt hielt besser.
«Aussage von Thorsten Stahmers Vater», sagte Kienbaum. «Der keinen Grund zum Lügen hat. Im Gegenteil. Er belastet sich selbst damit. Aber das ist eine lange Geschichte.»
«Und was sagt die Lütte?»
«Die ist nicht zu Hause und geht nicht ans Telefon.»
Behling nickte.
«Knud?»
«Ja.»
«Okay. Ich wollte nur … Also, du hast ja die Einsatzleitung, und …»
«Gib mal ’ne Fahndung raus», sagte Behling. «Für die Kollegin Jurkschat. Wegen Verdacht auf Strafvereitelung im Amt.»
«Ist das nicht ein bisschen …»
«Nee», sagte Behling. «Das ist kein bisschen übertrieben.»
«Okay», sagte Kienbaum, und Behling hörte, wie er nebenher mit jemand anders sprach, ein Handrascheln auf der Muschel.
«Außerdem versucht dich hier die ganze Zeit jemand zu erreichen», sagte Kienbaum. «Eine Italienerin oder so. Sie möchte nur mit der Einsatzleitung sprechen. Es ist wegen der … irgendwas mit einer der Schulen.»
«Ich hab jetzt keine Zeit, mit irgendwelchen Muttis zu reden», sagte Behling wütend und spürte, wie mit der Wut die alte Kraft zurückkehrte. «Für so was haben wir ’ne Hotline geschaltet.»