März 1584
Das Leben im Palast war ganz anders als alles, was Tom je zuvor erlebt hatte. Die Arbeit war genauso hart, aber jetzt bekam er keinen seiner Patienten zu Gesicht. Stattdessen behandelte Hugh die Königin, ihre Hofdamen und Höflinge, und wenn er zurückkehrte, erklärte er Tom deren Leiden. Die beiden Männer beratschlagten dann über ein geeignetes Heilmittel, indem sie sich mithilfe der Wachstafel verständigten, auf Behältnisse zeigten und Tom Hughs Lippen las, was einfacher ging, nachdem Hugh seinen buschigen Schnurrbart gestutzt hatte. Außerdem versorgten sie die Palastbediensteten mit Arznei, die entweder an der offenen Tür des Destillierraums erschienen oder eine Botschaft sandten, damit Hugh kam und nach ihnen sah. Tom begriff, dass seine stille Welt trotz seiner neuen luxuriösen Umgebung kleiner geworden war, und so oft er konnte, schlüpfte er hinaus, um die Pflanzen draußen zu pflegen.
Eines Abends, als er aufräumte, bevor er sich schlafen legte, bemerkte er eine Bewegung und sah einen Diener in der Tür stehen, der mit ihm redete. Hugh hatte Kopfschmerzen und sich bereits zurückgezogen, deshalb war Tom allein. Er beobachtete die Lippen des Mannes, versuchte, so gut er es vermochte, die Wörter zu entschlüsseln. Königin, Schlaf, Kräutertee. Er nahm seine Tafel, zeigte auf seine Ohren und seinen Mund und schüttelte den Kopf – eine rasche Erklärung seiner Behinderung. Dann schrieb er auf, was er glaubte verstanden zu haben. Wünschte die Königin einen Schlaftrunk? Der Diener nickte dankbar.
Tom dachte einen Augenblick nach. Hugh hatte noch niemand anderes die Vanille probieren lassen. Sollte er es wagen, sie für die Königin zuzubereiten? Was könnte schlimmstenfalls passieren? Falls sie sie nicht mochte, war es möglich, dass Tom seine Arbeitsstelle verlor, aber er war zuversichtlich, dass er in der Stadt eine andere finden könnte. Und vergiften würde er sie damit nicht, irgendwelche Nebenwirkungen gab es auch nicht, weder er noch Hugh hatten sich nach dem Genuss schlecht gefühlt. Der Diener begann, ungeduldig mit dem Fuß zu klopfen, zweifellos wollte er den Wunsch rasch erfüllt sehen.
So schnell, wie er konnte, bereitete Tom warme Milch mit Honig zu und gab etwas zerdrückte Vanille hinein, genau wie er es vor ein paar Tagen gemacht hatte. Die winzigen schwarzen Samen schwammen oben, als er das Schotenstück wieder herausfischte. Er und Hugh hatten schnell herausgefunden, dass die äußere Hülle nicht essbar war. Würde die Königin etwas so Fremdartiges trinken? Der Diener jedenfalls sah nicht besonders glücklich aus, als er in den Becher starrte. Tom nahm ihn und nippte daran, dann reichte er ihn dem anderen, damit er ebenfalls probierte. Wenn er sah, dass keiner von ihnen tot umfiel, wäre er bestimmt zufrieden.
Dem Diener sagte der neue Geschmack offenkundig zu, und während Tom in seine Kammer ging und die Kerze ausblies, hoffte er, dass die Königin ebenso erfreut wäre.
Tom fuhr hoch, als ihn jemand heftig an der Schulter rüttelte. Das erste Licht des Morgens fiel durch das Fenster, und in dem dämmrigen Raum konnte er Hughs Gesicht dicht vor seinem eigenen erkennen. Es war noch zu dunkel, um zu sehen, was er sagte. Tom stand auf und folgte seinem Vorgesetzten in den Destillierraum, der von Kerzen erleuchtet war. Die Steinfliesen waren eiskalt unter Toms nackten Füßen, und da er nur seinen leinenen Kittel anhatte, begann er zu frösteln, hüpfte von einem Fuß auf den anderen und rückte näher ans Kaminfeuer, das Funken sprühte und prasselte, weil jemand Kienspäne und zwei große Holzscheite hineingeworfen hatte.
Hugh hielt die Wachstafel mit Toms Worten vom Vorabend hoch. Warum regte er sich bloß so auf? Was war denn passiert? Hatte Tom womöglich ihre Monarchin umgebracht? Ihn überlief es kalt. Unwillkürlich rieb er sich den Nacken, während er sich fragte, ob sich schon bald ein dickes, grobes Seil darumlegen würde. Er nickte langsam.
»Was hast du gemacht?«, fragte Hugh. Tom deutete auf die kleine Küche und dann auf den Mörser, in dem noch die Reste der zerdrückten Vanille zu sehen waren. »Milch, Honig?«, wollte Hugh wissen, und Tom nickte.
Rasch riss er Hugh die Tafel aus der Hand, wischte seine Worte fort und schrieb: »Königin krank?« Er überlegte, wie viel Zeit ihm wohl blieb zu fliehen, aber zu seinem Erstaunen und seiner Erleichterung schüttelte Hugh den Kopf; dann stellte er pantomimisch dar, wie die Königin die Milch trank, und zog die Mundwinkel zu einem breiten Grinsen nach oben. Tom begriff sofort, dass der Trank wohlgelitten gewesen war, und sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. Offenbar war seine Vanille ein voller Erfolg gewesen und sein Platz im Palast – zumindest vorerst – gesichert.