Juni 2021
Verwirrt von den Gefühlen, die Oliver in ihr geweckt hatte, fand Mathilde es schwierig, sich für den Rest des Tages auf irgendetwas zu konzentrieren. Sie hatte durchaus schon Affären gehabt, ihr unsteter Lebenswandel hatte aber immer dazu geführt, dass diese Beziehungen kurz blieben. Sie hatte sie beendet, bevor der andere auf die Idee kommen konnte, es selbst zu tun. Sie ließ niemanden an sich heran. Doch das hier war anders. Keine unmittelbare körperliche Anziehung – Lust, die leicht gestillt werden konnte –, es fühlte sich an, als wollte sie in seine Haut schlüpfen und verstehen, wie er tickte.
Rachel, Fleur und sie aßen spät zu Abend. Die beiden Frauen sahen sich danach noch bei einem Glas Wein einen Film an, dessen Ende Rachel total unglaubwürdig fand. Sie ging schlafen, während sich Mathilde noch etwas Heißes zu trinken machte.
Sie goss die heiße Milch in einen Becher und kratzte den Inhalt einer ihrer Vanilleschoten aus dem Glas auf der Fensterbank aus. Dann gab sie die Samen zusammen mit etwas Honig, den sie in der Speisekammer gefunden hatte, in die Milch. Der Honig war Fabrikware aus dem Supermarkt, nicht der dicke, zähflüssige blassgoldene Nektar, den sie in Frankreich direkt bei den kleinen Imkern kaufte. Dieser hier hatte nicht den Duft nach warmem, süßem Heu, Flachsblüten und dicken, zufriedenen Bienen, gesättigt von Pollen.
Sie nahm ihren Becher und ging damit durch das Haus in Richtung Treppe. Am Eingang des kleinen Vorraums, durch den man zu den formellen Zimmern gelangte, blieb sie stehen. Einem Impuls folgend, öffnete sie die Esszimmertür und ließ sie weit offen stehen, damit genug Licht vom Flur einfiel und sie die Deckenbeleuchtung nicht einzuschalten brauchte. Die verhüllten Möbel warfen im einfallenden Licht geisterhafte Schatten auf Boden und Wände.
Mathilde ging zum Triptychon hinüber, blieb in einigem Abstand davon stehen, um es im blassgelben Lichtstrahl der altmodischen Glühbirne aus dem Flur genauer sehen zu können. Das linke Paneel hatte sie vorhin schon mit Oliver eingehend betrachtet, deshalb wandte sie ihre Aufmerksamkeit nun dem größeren mittleren zu, wobei sie darauf achtete, nicht zum dritten Teil hinzusehen. Den würde sie am liebsten gar nicht untersuchen, ganz gleich, wie interessiert Oliver war. Allein schon vor den gemalten Flammen zu stehen, ließ sie vor Angst zittern, ihre Lungen brannten und ihre Augen schmerzten, während sich ihr Atem beschleunigte und Erinnerungen hochkamen, die tief in ihr vergraben waren.
Stattdessen konzentrierte sie sich auf eine Ansammlung von Szenen in der rechten oberen Ecke des mittleren Teils. Dort war ein Palast aus hellem Sandstein mit Türmen und vielen Fenstern zu sehen, der einem Château ähnelte, das sie als Kind mal gesehen hatte. Kam der Künstler ursprünglich aus Frankreich – genau wie sie? Das würde die Szene von einer Überfahrt erklären. Neben dem Palast war eine junge Frau im Halbporträt abgebildet, nur Kopf und Schultern waren zu sehen. Der Künstler hatte sie in dem Moment eingefangen, in dem sie sich ihm zuwandte. Sie lächelte, und ihre Augen waren von einem ungewöhnlichen lebhaften Violett. Mathilde fühlte sich sofort von ihr angezogen.
Die Farben waren unglaublich gut erhalten, da hatte Oliver ganz recht. Bei der Frage, warum – und von wem – das Triptychon in der Kapelle versteckt worden war, hatten sie immer noch keinen Fortschritt erzielt. Unwillkürlich lächelte sie die junge Frau an, die Liebe in deren Blick strahlte förmlich aus dem Gemälde heraus und zog den Betrachter in ihren Bann.
Sie nahm einen Schluck von ihrer Milch und wandte sich um, um nach oben zu gehen. Als sie den Blick noch mal über den Raum hinter ihr schweifen ließ, bemerkte sie in einer Ecke einen Schatten, schwärzer, undurchdringlicher als alle anderen. Sie blinzelte und sah noch mal hin, aber was immer sie gesehen hatte – oder geglaubt hatte zu sehen –, war verschwunden. Sie wollte nicht nachforschen, wer oder was sich hier mit ihr zusammen im Raum befunden hatte, und, so schnell es ging, rannte sie nach oben, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Erstaunlicherweise verschüttete sie dabei keinen Tropfen ihres Getränks.
Die heiße Milch entfaltete die gewünschte Wirkung, und so beruhigte sie sich allmählich. Ganz sicher hatte sie sich diesen dunklen Schatten nur eingebildet, der Tag war lang und ereignisreich gewesen, da passierte so etwas schon mal.
Oder wollte ihr Vater ihr mitteilen, dass alles in Ordnung war? Wollte er sie beruhigen? Ihre Mutter hatte großen Respekt gehabt vor dem, was sie als les esprits bezeichnet hatte, den dünnen Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten. Mathilde legte sich auf den Rücken, starrte noch eine Weile zur Decke hinauf und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.
Sie stand in den Schatten eines großen Raums, der von Hunderten Kerzen erleuchtet und voller Menschen war. Sie hatte Angst, ihr Herz hämmerte wie verrückt, sie hatte das Gefühl, ihr ganzer Körper vibrierte. Die Luft war zum Schneiden, es roch nach Rauch, es war beklemmend, was noch durch die totale Stille verschlimmert wurde, auch wenn ihr die inzwischen vertraut war. Sie spürte, wie sich ihr Brustkorb mit jedem Atemzug dehnte, doch sie gab keinen Laut von sich. In der Hand hielt sie einen Krug Bier. Ihr Blick war auf zwei Männer gerichtet, die auf einem Podium saßen. Da war ein schlanker Mann mit einer schwarzen Kappe und einem Wams, den einzigen Kontrast bildete seine weiße Halskrause. Er sprach mit einem groß gewachsenen, gut gebauten attraktiven Mann mit dunklem Haar, der neben ihm saß. Der Raum gegenüber von diesem Podium war voller Menschen, die an Tischen saßen und aßen. Sie konnte weder sie noch überhaupt etwas hören, und doch wusste sie, was sie sprachen. Ihr Blick wanderte zu der Frau neben dem dunkelhaarigen Mann. Sie saß aufrecht da, war schlank, mit roten Haaren und blasser Haut. Ihr Kleid schien aus Tausenden schimmernden Edelsteinen zu bestehen, die im Kerzenschein glitzerten. Sie wandte den Kopf, kurz trafen sich ihre Blicke.
Mathilde erwachte abrupt und setzte sich mit einem Ruck auf.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und blieb auf der Bettkante sitzen, ließ die Kälte des Bodens an ihren Beinen hinaufkriechen, um sich zu vergewissern, dass sie wach war. In dem Moment, in dem sie Blickkontakt mit der Frau gehabt hatte, hatte sie gewusst, dass sie Königin Elizabeth I. ansah. Es war nur ein Traum, sagte sie sich; und doch fühlte sich alles so echt an. Und wie hatte sie verstehen können, was diese beiden Männer sagten, wenn sie doch gar nicht in ihrer Nähe gewesen war und offenbar taub? Das Gehirn verarbeitet die Erlebnisse des Tages in unseren Träumen, sagte sie sich, das ist alles. Die Menschen auf dem Triptychon waren ähnlich gekleidet wie die in ihrem Traum, von daher ergab das Sinn.
Sie legte sich wieder hin und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie hätte gern noch etwas getrunken, doch nach dieser Erfahrung im Esszimmer schreckte sie davor zurück, mitten in der Nacht im Haus umherzuwandern.
Nach ein paar weiteren Stunden unruhigen Schlafes wachte Mathilde auf, zog sich rasch an, ging in die Küche und machte sich eine Scheibe Toast. Dann schlüpfte sie leise zur Hintertür hinaus und lief seitlich am Haus vorbei zu ihrem Van. Keine Spur von Rachel oder Fleur, der Fernseher stand stumm und vorwurfsvoll da, zeigte keine grellen Trickfilme oder seltsame, Verbrechen bekämpfende Tiere, die Fleur sich oft wie gebannt ansah.
Über dem Moor lag ein unheimlicher Nebelschleier, das Schilf lugte oben heraus, es sah aus, als würde es in der Luft schweben. Bald würde sich der Nebel auflösen, und es würde wieder ein heißer Tag werden. Mit geschlossenen Augen drehte sie bang den Zündschlüssel ihres Vans. Würde er anspringen? Obwohl er doch schon seit Wochen gestanden hatte? Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als der Motor mit einem kleinen Knall startete. Sie musste weg von diesem Haus.
Ihr fiel wieder ein, dass sie ein Gewächshaus kaufen wollte, also schlug sie den Weg zu einem Gartenmarkt ein, der ihr am Stadtrand von Fakenham aufgefallen war, als sie Mr. Murray aufgesucht hatte. Als sie dort ankam, öffnete er gerade, und auf seinem Freigelände bot er eine Vielzahl verschiedenster Gewächshäuser an. Sie hielt einen Moment inne, völlig überfordert von der großen Auswahl. Die Glasdächer reflektierten die Sonne, sodass sie blinzeln musste, während sie sich umsah. Da hörte sie hinter sich eine Stimme.
»Haben Sie denn in dem riesigen Haus nicht genug Platz?« Sie drehte sich um und sah Oliver, der mit einem breiten Grinsen hinter ihr stand, um die Augen Lachfältchen, als würde er sich über seinen eigenen Witz amüsieren. Ihr Herz schlug höher bei seinem Anblick, und sie erwiderte sein Lächeln. Schon sehr lange, bestimmt schon seit dem Tod ihrer Mutter, hatte sie sich nicht mehr so gefreut, einen anderen Menschen zu sehen. Es war ihr zutiefst unangenehm, aber sie konnte ihre Gefühle nicht verleugnen, als sich ihr Gesicht vor Freude rötete. Sie hoffte bloß, dass es nicht so rot war, wie es sich anfühlte.
»Drinnen ist jede Menge Platz, ja, aber draußen habe ich Pflanzen, die den englischen Sommer sonst nicht überleben«, sagte sie.
»Aber das Wetter ist doch herrlich!« Er streckte die Arme aus, als wollte er den frühmorgendlichen Sonnenschein einfangen und ihr zeigen. »Wir haben nicht oft so schöne Sommer!«
»Ja, es ist herrlich, aber eben vielleicht nicht von Dauer, deshalb muss ich ein paar von meinen Pflanzen schützen. Ich brauche nur etwas Kleines, das bis zum Herbst seinen Zweck erfüllt.« So, jetzt hatte sie es ausgesprochen. Sie hatte dafür gesorgt, dass Oliver nicht vergaß, dass das hier für sie nur eine vorübergehende Auszeit war – sich selbst musste sie das allerdings ebenso ins Gedächtnis rufen. Sobald sich die Blätter an den Bäumen verfärbten, würde sie ihr Wanderleben wieder aufnehmen, ein Leben, in dem sie niemandem verpflichtet wäre und sich nur auf sich selbst und ihre Fähigkeiten verlassen müsste. Wo sie selbstständig und sicher wäre.
»Also, welches wollen Sie nehmen?« Er ging überhaupt nicht auf ihre Äußerung ein, auch wenn er sie bestimmt mitbekommen hatte.
»Das hier ist gut.« Sie zeigte auf ein im Wesentlichen aus dicken Plastikplanen bestehendes Gewächshaus, dessen rückwärtige Wand fehlte und das dafür vorgesehen war, direkt an eine Mauer gestellt zu werden. »Ich kann den Boden mit Ziegeln oder Steinen beschweren, davon liegen dort genügend herum. Dann kann ich es einfach dalassen, wenn ich gehe.« Bitte schön, ein weiterer subtiler Hinweis. Oder eher ganz und gar nicht subtil.
Oliver nahm das Paket mit dem flach verpackten Gewächshaus und trug es für sie zur Kasse. Während sie bezahlte, bemerkte sie plötzlich, dass er selbst keine Einkäufe bei sich hatte.
»Sie haben gar nichts gekauft«, sagte sie.
»Oh, Mist.« Er schlug sich mit dem Handballen an die Stirn. »Ich trage das schnell zu Ihrem Van und gehe dann noch mal zurück. Ich wollte eine Pflanze für meine Großmutter besorgen, ich besuche sie später. Sie lebt in einem Pflegeheim und liebt Pelargonien. In der Gärtnerei dieses Marktes züchten sie besonders schöne, deshalb bin ich hier rausgefahren. Soll ich Ihnen beim Aufstellen des Gewächshauses helfen? Wenn ich die Pflanze gekauft habe, könnte ich eine Stippvisite bei Ihnen machen und Ihnen helfen.«
»Danke, das wäre nett.« Mathilde hatte keine Ahnung, was »Stippvisite« bedeutete, aber im Großen und Ganzen verstand sie, worauf er hinauswollte. Und sosehr sie sich auch selbst ermahnte, nicht zu vergessen, dass sie nicht hier blieb … wiedersehen wollte sie ihn doch gern. Sie öffnete die Hecktür ihres Vans, und er blickte erstaunt hinein.
»Der ist ja gut ausgestattet!«, rief er und zeigte auf das eingebaute Bett, die Holzschränke und Regale, in denen sie all ihre Habseligkeiten verstaute, wenn sie unterwegs war. Mathilde seufzte erleichtert, weil sie einige Polster und Kissen herausgenommen hatte und ihr Bett nicht das übliche Durcheinander aus zerknüllten Laken und Decken war. Momentan sah es um einiges ordentlicher aus als normal.
»Na ja, ich wohne drin.« Sie zuckte mit den Schultern, als wäre dies eine ausreichende Erklärung. Dann schlug sie die Tür zu.
Sie vereinbarten, dass sie sich in Lutton Hall treffen würden, und während sie nach Hause fuhr, merkte sie auf halbem Wege, dass sie schon die ganze Zeit albern vor sich hin grinste. Jetzt hätte sie nicht nur Hilfe beim Aufbauen des Gewächshauses – was nützlich war, weil die Anleitung auf Englisch verfasst war –, vielleicht ergab sich auch die Gelegenheit, ihm von den seltsamen Träumen zu erzählen. Und von dem unangenehmen Gefühl, dass sie jemand beobachtete. Oder versuchte, ihr etwas mitzuteilen? Sie war sich nicht sicher, aber es verstörte sie.
Als sie in Lutton Hall ankam, spielten Rachel und Fleur im Garten mit einem Cricketschläger und – ball.
»Wo warst du?«, fragte Rachel.
»Ich habe ein kleines Gewächshaus für meine Pflanzen gekauft«, erklärte sie. Hinter ihr hörte sie das Geräusch von Reifen auf Schotter. »Ich habe Oliver im Gartenmarkt getroffen«, fügte sie hinzu. »Er hat angeboten, mir zu helfen.«
»Ich muss dir später zeigen, wo Dads Gartengeräte sind, es würde ihm gefallen, wenn du sie benutzt«, schlug Rachel vor, und Mathilde spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Danke«, sagte sie lächelnd. »Das würde ich sehr gern.«
Es dauerte kaum eine Stunde, die Teile zusammenzusetzen und mit der durchsichtigen Plastikplane zu umhüllen, ehe sie das Gewächshaus an die Rückwand des Stalles lehnten und mit Steinen beschwerten. Während sie einträchtig miteinander arbeiteten und sich dabei unterhielten, waren sie zum Du übergegangen. Nun holte Mathilde ihre Vanillepflanzen und stellte sie hinein.
»Das sind also die Pflanzen, die zu kostbar für unsere englische Sonne sind?«, fragte Oliver, während er sich bückte und mit den Fingerspitzen über die glänzenden Blätter strich.
»Ja, das sind Vanilleorchideen. Ursprünglich sind sie in Mexiko zu Hause, deshalb brauchen sie extreme Hitze. Diese hier blühen spät, es war nicht warm genug für sie. Siehst du?« Sie deutete auf die winzigen Knospen. »Wenn sie sich öffnen, muss ich die Blüten zusammenschieben, damit sie sich gegenseitig bestäuben, nur dann können Schoten daraus werden. Europäische Bienen mögen sie nicht, deshalb muss es von Hand gemacht werden.«
»Wie seltsam«, sagte er, während er sie genauer betrachtete. »Die Pflanzenwelt ist manchmal erstaunlich, nicht wahr?«
Mathilde nickte. »Ich bin gern hier draußen, im Garten meines Vaters.« Sie machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm, die den verwilderten Gemüsegarten vor ihnen einschloss. »Mir gefällt der Gedanke, dass all diese Pflanzen als Samen begannen und er sie gehegt und gepflegt hat, bis sie groß und stark waren.«
»Wie er es mit dir gemacht hätte, wenn er dich gefunden hätte?«, sagte Oliver leise. »Als Kind habe ich stundenlang mit meinem Großvater im Garten gearbeitet. Er lebte an der Küste von Norfolk, und wir verbrachten den Sommer immer dort, meine Brüder und ich. Unsere Eltern brachten uns hin und kamen uns nur an den Wochenenden besuchen. Wir waren viel draußen, manchmal waren wir den ganzen Tag verschwunden.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Wir konnten an den Strand gehen und die Seehunde beobachten. Eine sorgenfreie Zeit. Ich habe meinem Grandad im Garten bei allem, was es zu tun gab, geholfen. Es gibt nichts Besseres als den Geruch von frisch umgegrabener Erde, nicht wahr?«
»Das klingt nach einer wunderbaren Kindheit.« Mathildes Stimme klang ein wenig brüchig. »Ich hatte nie einen Garten, in dem ich Pflanzen anbauen konnte. Und ich wäre auch nie lang genug dageblieben, um sie wachsen zu sehen. Oder die Blumen zu pflücken oder das Gemüse zu ernten.«
»Aber jetzt hast du einen. Wenn du länger bleibst als nur den Sommer, kannst du deine eigenen Pflanzen ziehen und zum Gedeihen bringen. Warum denkst du nicht darüber nach? Deine Schwester würde sich sehr freuen, da bin ich sicher.« Sie begegnete seinem Blick und hielt den Atem an, als er den Arm um sie legte und sie an sich zog. Er hielt sie einen Moment lang ganz fest, und sie hörte sein Herz stark und gleichmäßig schlagen. Sie fühlte sich sicher und geborgen, glaubte zu spüren, wie seine Lippen ihr Haar streiften, und dann, als würde er denken, er hätte eine Grenze überschritten, löste er sich von ihr, strich dabei rasch über ihre Arme.
»Ähm, möchtest du eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser?« Rasch wechselte Mathilde das Thema, wischte sich die Hände an der Hose ab und sah auf ihre Füße hinunter. Ihre Ohren brannten, obwohl ihr jetzt, wo er sie nicht mehr mit seinen Armen umfangen hielt, seltsam kalt war und sie sich merkwürdig leer fühlte.
»Ja, gern. Etwas Kaltes wäre gut.« Anders als sie wirkte er überhaupt nicht verlegen. »Kann ich mir das Triptychon noch mal genauer ansehen? Ich habe mein Okular im Wagen.«
»Oui, klar, natürlich«, stimmte sie erleichtert zu. So würde er noch ein bisschen bleiben. Sie hatte ihm doch noch nicht von ihren Träumen erzählt, vielleicht ergab sich ja noch eine Möglichkeit dazu.
Wieder zurück im Haus, brachte Mathilde kalte Getränke ins Esszimmer. Als sie die Vorhänge aufzog, wirbelte in dem hereinflutenden Lichtstrahl ein wenig Staub auf, und sie war froh, dass sie am Vorabend das Gemälde wieder sorgfältig abgedeckt hatte.
»Es ist wirklich fantastisch.« Oliver beugte sich über das linke Paneel und betrachtete die Vielzahl von Szenen.
»Ich hatte einen seltsamen Traum, in dem es darum ging«, platzte Mathilde heraus, wobei sie nicht so recht wusste, wie sie es Oliver erklären sollte, ohne wie eine Idiotin zu klingen. »Mehrere Träume sogar. In jedem habe ich eine der Szenen des Triptychons erlebt. Diese hier«, sie deutete auf die Szene mit dem Schiff, »war genau wie meine eigene Reise vor ein paar Wochen, als ich mit der Fähre aus Frankreich übergesetzt bin, nur dass ich in meinem Traum auf einem alten Schiff wie diesem war. Und letzte Nacht war ich in einem Palast und habe Leute beobachtet. Alles war totenstill, und ich habe eure Königin gesehen, Elizabeth I., und sie hat mir in die Augen geblickt.« Selbst für ihre eigenen Ohren klang das lächerlich, besser, sie erwähnte den ersten Traum, als sie in diesem schwarzen, trostlosen Loch oben in der Ecke des ersten Paneels gesteckt hatte, gar nicht erst. Sie schauderte und nahm noch einmal all ihren Mut zusammen. »Gestern Abend spät war ich kurz hier und habe mir das Gemälde noch einmal angeschaut. Und da dachte ich plötzlich, es sei noch jemand hier.« Sie stockte und holte tief Luft, ehe sie weitersprach. »Ich sah einen Geist.« Oliver richtete sich auf und blickte sie an.
»Jeder hat von Zeit zu Zeit seltsame Träume«, sagte er langsam, »aber die wenigsten Menschen sehen Geister. Erzähl mir mehr davon.«
Also schilderte sie noch einmal detailliert, was am Vorabend geschehen war, und kam sich dabei immer lächerlicher vor. Wie unwahrscheinlich das klang! Er musste sie für eine hysterische Ausländerin halten, die sich Dinge einbildete. Warum erzählte sie das bloß? Sie kannte nicht genug englische Worte, um zu beschreiben, welche Gefühle diese Träume in ihr ausgelöst hatten. Sie war völlig verängstigt gewesen, gefangen in einer Welt, die sich so real angefühlt hatte. Doch vielleicht hatte es auch sein Gutes, dass sie es nicht noch näher beschreiben konnte, sonst würde er womöglich sofort die Flucht ergreifen.
»Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung für das, was du gesehen hast. Aber viele Menschen glauben, schon einmal einem Geist begegnet zu sein. Vielleicht waren die Träume Nachwehen von all der emotionalen Achterbahnfahrt der letzten Zeit? Verwandte zu finden, von denen du nicht wusstest, dass sie existieren. Dass dein Vater nicht vor langer Zeit gestorben ist und du plötzlich sein Haus erbst. All das ist Lichtjahre von dem entfernt, was du ansonsten gewohnt bist – das kann ja nicht folgenlos bleiben.«
Mathilde nickte langsam, ohne den Blick von dem Gemälde vor ihr lösen zu können. Sie wusste, was sie gesehen hatte, es war nicht ihrer Fantasie entsprungen. Und sie war sich sicher, dass diese Träume mit dem unheimlichen Gefühl zusammenhingen, das sie im Haus immer wieder beschlich. Etwas oder jemand versuchte, mit ihr zu kommunizieren, schien ihr etwas erklären zu wollen. Und es hing mit dem Triptychon zusammen.
Beide setzten gleichzeitig dazu an, die Staubabdeckung wieder über das Gemälde zu ziehen, und dabei berührten sich ihre Hände flüchtig. Mathilde zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt, steckte ihre Hände in die Hosentaschen und überließ es Oliver, das Gemälde zu verhüllen. Er verunsicherte sie, und doch fühlte sie sich so sehr von ihm angezogen. Wie eine Motte vom Licht.