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Juni 2021

Sie atmete hörbar aus, so laut, dass ein aggressives »Sssssssh« aus Luft und Spucke in dem riesigen, fast leeren Grenzkontrollbereich widerhallte. Eine Kathedrale der Moderne, die alle in ihren heiligen Hallen willkommen hieß. Oder vielleicht auch nicht alle, dachte Mathilde, als sie vor dem Mann mit dem sauertöpfischen Gesichtsausdruck stand. Auf einem verschmutzten Schild hinter ihm war unpassenderweise der Schriftzug »Welcome to England« zu lesen. Die meisten ihrer Mitreisenden saßen inzwischen in ihren Autos und setzten ihre Reise fort, während die letzten paar Fußgänger die Fähre verließen, ihre staubigen Rucksäcke auf ihren müden Schultern. Hier war sie nun und wartete in diesem kalten, hallenden Raum, während ein übereifriger alter Mann in schlecht sitzender Uniform sie immer wieder mit denselben Fragen bombardierte.

»Haben Sie die doppelte Staatsbürgerschaft?«, wiederholte er noch einmal, während er ihr mit dem Pass, den er mit dem Daumen offen hielt, vor der Nase herumfuchtelte. »Sind Sie Französin oder Libanesin?«

»Oui, Französin«, sagte sie langsam, um den Eindruck zu erwecken, ihn nicht zu verstehen. Sie hegte die stille Hoffnung, er würde dann seine Fragerei aufgeben und sie ihre Reise fortsetzen lassen. »Ich bin Französin.«

»Aber hier«, er zeigte auf eine Seite in ihrem Pass, »hier steht, dass Sie im Libanon geboren sind.« Er sprach jedes Wort überdeutlich aus. Sie sah ihn ausdruckslos an, entspannte langsam ihre Faust, streckte ihre Finger und ballte sie dann wieder zusammen. Normalerweise half eine ausdruckslose Miene, aber dieser Alte war hartnäckig, und so fand sie sich schließlich in einem kleinen Raum wieder, wo man ihr einen Plastikbecher lauwarmes Wasser reichte und darauf wartete, dass man einen Dolmetscher für Französisch auftrieb. Sie waren nicht mal fünfzig Kilometer von Frankreich entfernt, wie schwer konnte das sein?

Mathilde öffnete ihre Tasche und zog den Brief heraus, der sie hierhergeführt hatte. Die Art von Furcht einflößender, amtlich wirkender Post, die man sofort öffnen musste, geschrieben auf dickem cremefarbenem Papier. Der Absender war ein Anwalt. Er habe ein Foto gesehen, das sie in Stockholm für das Magazin Amelia geschossen hatte, und sie daraufhin ausfindig gemacht, schrieb er. Angesichts der Tatsache, dass sie schon ihr ganzes Leben lang ständig herumzog, damit eben genau das nicht passierte, hatte er Glück gehabt. Hätte die Zeitschrift wie eigentlich vereinbart ihr Pseudonym benutzt und nicht aus Versehen ihren echten Namen unter das Bild gesetzt, könnte sie noch immer ihr weitgehend anonymes Leben führen. Doch der Anwalt hatte darauf bestanden, dass sie umgehend Kontakt zu ihm aufnahm. Es ginge um ein Anwesen namens Lutton Hall in England. Genauer gesagt in Norfolk. Mathilde hatte keine Ahnung, was dahintersteckte, und lange hin und her überlegt, ob sie der Aufforderung nachkommen sollte oder nicht, bis sie sich dann schließlich doch dazu entschloss.

Und jetzt war sie hier, unterwegs zu einem Dorf in Norfolk, wo sie hoffte, einige Antworten zu finden. Oder zumindest wäre sie das, wenn diese Idioten hier nicht ihre Zeit stehlen würden. Es war immer dasselbe – jemand, der in einer Uniform steckte und gerade nichts Besseres zu tun hatte, wurde mit einem einzigen Blick auf ihren heruntergekommenen, zum Camper umgebauten Krankenwagen sofort misstrauisch. Vor allem wenn derjenige dann auch noch einen Blick in ihren Reisepass warf, der ihren Geburtsort offenbarte und in dem unzählige Visa davon zeugten, dass sie ständig auf Reisen war. Was erwarteten sie von einer Fotojournalistin? Sie würde wohl kaum aussagekräftige Fotos von politischen oder sozialen Konflikten, Milieustudien oder Bildreportagen aus Kriegsgebieten zustande bekommen, wenn sie in einem Einzimmerapartment in Paris herumsäße, oder?

Plötzlich betrat ein weiterer Mann den Raum.

»Geben Sie mir bitte Ihre Wagenschlüssel«, forderte er sie auf. Durch das Fenster konnte sie zwei Polizeibeamte sehen, die die Leinen von ziemlich energiegeladenen, frenetisch bellenden Springer Spaniels hielten, und musste ein wenig schmunzeln. Sie würden in ihrem Auto keine Drogen finden. Sie griff in ihre Tasche und hielt ihm den Schlüssel hin.

»Vorne stehen Pflanzen«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Kräuter, kein Marihuana«, fügte sie hinzu. »Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihre Hunde sie nicht beschädigen.« Mit unbewegter Miene nahm er den Schlüssel und verschwand. Sie beobachtete, wie die Polizisten gewissenhaft an den Kräutern und Gewürzpflanzen, die sie in kleinen Töpfen zog, schnupperten, doch schließlich gaben sie ebenso wie die enttäuscht wirkenden Hunde auf und schlossen den Wagen wieder ab.

Als sie sich schon fragte, ob sie wohl je über Dover hinauskommen würde, bestätigte endlich jemand am anderen Ende einer Telefonleitung, dass Mathilde zwar ursprünglich aus Beirut stammte, jedoch die französische Staatsbürgerschaft besaß, womit ihr die Einreise ins Vereinigte Königreich nicht mehr verwehrt werden konnte. Knurrend nahm sie ihre Tasche und die Autoschlüssel und stolzierte mit dem Reisepass in der Hand aus dem Raum. Sie hatte noch kaum englischen Boden betreten und jetzt schon die Nase voll von diesem gottverlassenen Land. Je schneller sie hier alles erledigt hatte, desto eher konnte sie zu ihrem Vagabundendasein zurückkehren – weitab von irgendwelchen Regeln, Behörden und der Gesellschaft, die sie weder mochte noch verstand. Irgendwohin, wo sie sich sicherer fühlte.