IV

So gern ich Penny Ludington hatte, so ungern fuhr ich von meinem Haus an der Bridge Lane zu ihrem Quartier in Springs. Im Sommer, der in den Hamptons jetzt anscheinend mit dem Memorial-Day-Wochenende beginnt, ist der Verkehr auf der Fernstraße 27 in östlicher Richtung schrecklich, besonders freitags und samstags abends, während die Straße 114, auf der ich von Sag Harbor bis East Hampton bleiben kann, an den Wochenenden schlichtweg gefährlich ist, zu viele Raser, die womöglich auch noch betrunken sind. Trotzdem ist das die Route zu Penny, die ich normalerweise nehme, um die Straße 27 so lange wie möglich zu umgehen. Auf dem Rückweg spät am Abend nach dem Dinner bleibe ich auf der 27. Sie ist wenigstens klar markiert und hat in der Mitte einen guten, solide durchgezogenen gelben Streifen. Diese leidigen Überlegungen trugen dazu bei, dass ich beim Rasieren und bei anderen Vorbereitungen zum Ausgehen wenig Begeisterung aufbrachte und darüber nachdachte, wie angenehm es wäre, mich zum Essen in meine Küche zu setzen und eine heiße Rinderbrühe, Brot, Käse, Hartwurst und einen Apfel zu verzehren. Gravierender war etwas anderes, das, was mich hatte zusammenzucken lassen, als Roddy den Finger darauf legte: das Schrumpfen meiner Interessen. Die unangenehme Erkenntnis, dass mich praktisch jedermann langweilt, alte Freunde ebenso wie neue Menschen. Ausnahmen sind junge Leute, gewöhnlich jünger als meine Kinder, die mir auf Anhieb gefallen. Manchmal ist es nur eine flüchtige Laune. Es kann eine neue Bibliothekarin in der Society Library sein; oder die wirklich charmante und tüchtige Sekretärin meines Internisten; eine junge Anwältin aus der Kanzlei von Larry Weinstein, die mir bei dem deprimierenden Geschäft half, Valeries Anwalt Sweeney die Bilder auszuhändigen, die sie von meinen Wänden abgehängt, sowie die Glas- und Pâte-de-Verre-Gefäße, Geschenke von mir, die sie aus den Vitrinen geräumt hatte; eine junge Frau, die strahlend weiße Zähne und eine Haut in der Farbe von altem Gold hatte, eine Ausbildung als Dentalhygienikerin machte und im Sommer am Obst- und Gemüsestand aushalf – ich nannte sie das Mädchen mit der goldenen Haut. Diese jüngeren Geschöpfe, die ich möglichst in Gespräche verwickle, scheinen mir eine Tür zu unbekannten Welten und Lebensweisen zu öffnen, deren Umrisse ich auf andere Weise nicht entdecken könnte. Um auf Penny zurückzukommen – sie ist eine Kategorie für sich. Als ich in meinem letzten Jahr am Harvard College und sie in ihrem ersten Jahr am Radcliffe war, wäre sie fast meine Freundin geworden. Die Aussicht auf einen Abend mit ihr freute mich. Aber ihre Gäste … Ich konnte mir denken, wer kommen würde: Ein Investmentbanker, der in George W.s erster Amtszeit unser Botschafter in der Türkei gewesen war. Ich nahm an, unter Druck würde er zugeben, dass sein Boss als Präsident ein Desaster gewesen war, aber das Thema hatten wir bis jetzt vermieden. Seine Frau, die im Aufsichtsrat des Museums der City New York saß und mich jedes Mal, wenn wir uns begegneten, fragte, ob ich Louis Auchincloss gekannt hatte. Ein Maler-Ehepaar, die Frau deutlich talentierter als der Mann. Ein pensionierter schwuler Immobilienmakler aus guter Familie mit einem hübschen Haus an der Union Street in Sag Harbor und, wenn wir Glück hatten, Pennys schwuler Neffe, der Sinologe.

Als ich dann angekommen war, hätte ich nichts dagegen gehabt, in Pennys Haus zu wohnen. Ein geräumiges braunes Schindelhaus mit Anbauten aus den letzten hundert Jahren, bildete es einen perfekten Kontrast zu meinem adretten kleinen Häuschen, das wahrscheinlich genauso alt, aber an der Außenseite unverändert war und ungefähr ein Drittel der Größe von Pennys Anwesen hatte. Im Frühling bot ihr wunderbar gepflegter Garten eine Farbpalette, die sich dann mit den Jahreszeiten änderte. Jenseits des Gartens lag eine Marsch, ständiger oder vorübergehender Aufenthaltsort von wunderbaren Silberreihern, Blaureihern, Fischreihern, Schreikranichen und kleineren Vögeln, deren Namen ich nicht wusste. Ein versteckter Holzplankenweg führte durch die Marsch zu einem halbmondförmigen Strand mit Blick auf Shelter Island und Gardiners Island. Penny wohnte jetzt das ganze Jahr über in dieser paradiesischen Umgebung – im Winter sicher nicht ganz so paradiesisch – und jammerte, dass sie sich keine Stadtwohnung mehr leisten könne, aber ich war überzeugt, dass sie es insgeheim genoss, eine vollbeschäftigte Gärtnerin und Vogelbeobachterin zu sein. Der Grund dafür, dass sie auf eine Bleibe in New York verzichten musste, war banal. Ihr vor zehn Jahren verstorbener Mann war viel ärmer gewesen, als man vermutet hatte; er hinterließ ihr das Haus und gerade so viel Geld, wie sie als Ehefrau steuerfrei erben durfte; die Trusts, deren Begünstigter er gewesen war, gingen ausschließlich auf die beiden Töchter über, Buddhistinnen, die in Ashrams an der Westküste lebten. Warum er Penny nicht großzügiger bedacht hatte, war ein Rätsel; sie war, soweit man wusste, eine vorbildliche Ehefrau gewesen, und als er nach einem ersten Schlaganfall von der Hüfte abwärts gelähmt war, hatte sie ihn gepflegt, bis ein zweiter Schlaganfall ihn schließlich tötete. Wir hatten nie darüber gesprochen. Ich hatte ihn nie leiden können.

Penny war ich im Herbst meines letzten Collegejahres begegnet, an einem warmen sonnigen Septembertag, wenn ich mich recht erinnere. Sie und ihre beste Freundin Francie verkauften Abonnements für irgendwas. Sie waren sehr hübsch. Penny braunhaarig, wohlgeformt, mit braunen Augen und einer Himmelfahrtsnase, Francie größer, sehr blond, würde sich wahrscheinlich zu weich anfühlen, wie roher Teig, dachte ich. Ich weiß nicht, was sie verkauften, ich kaufte es jedenfalls. Mir fiel keine andere Möglichkeit ein, legitim bei ihnen stehen zu bleiben und mich mit ihnen zu unterhalten. Der Trick funktionierte. Ich lud Penny ein, am selben Abend mit mir im University Theatre Zwölf Uhr mittags anzusehen. Es war die Sorte Film, die das UT immer wieder zeigte. Im Kino durfte ich Pennys Hand halten und ihr einen Kuss auf den Mund geben, als ich sie nach einem Hamburger bei Cronin's am Wohnheim ablieferte. Sie wohnte im Moors, einem der Heime auf dem Radcliffe Quadrangle Campus. Wir hatten uns gut unterhalten, aber dass sie beim Kuss die Lippen fest zusammenpresste, überraschte mich nicht. In den folgenden Wochen trafen wir uns mindestens zweimal wöchentlich. Wir gingen wieder ins UT und lachten uns über Adel verpflichtet kaputt, anschließend ins Cronin's, wo ich die Kellnerin, die eine Freundin von mir war, überredete, Penny ein Bier zu servieren, wir schmusten in meinem Auto, nachdem ich an der dunkelsten Stelle des Memorial Drive geparkt hatte, die ich finden konnte; ich ging mit ihr zum Dinner ins Henri IV. Wir kamen voran. Sie öffnete den Mund. Ich durfte ihre Brüste berühren, zuerst nur durch die Strickjacke. Ein paar Tage danach hakte sie ihren BH auf und legte ihre Hand auf meinen Schritt. Ich durfte ihr Höschen beiseiteschieben. Der Klassenkamerad, der seit unserem ersten Collegejahr mein Zimmergenosse gewesen war, wurde für ein Jahr beurlaubt, um an einer Ausgrabung in Anatolien teilzunehmen. Da ich plötzlich ohne Mitbewohner war, hatte ich das Glück, dass man mir eine Suite im Eliot House für mich allein zuteilte, wovon alle sexhungrigen Hausbewohner träumten. Die Fußballsaison hatte begonnen. Am Samstag spielte Harvard auf dem Soldier's Field gegen eine unbedeutende Mannschaft, Dartmouth oder Brown. Penny gab keinerlei Interesse an dem Spiel zu erkennen und nahm meine Einladung an, den Nachmittag mit Arbeit in meinem Wohnzimmer zu verbringen, etwas atemloser als gewöhnlich, hatte ich den Eindruck. Wir könnten ja nach dem Spiel bei einer der Partys vorbeischauen, schlug ich vor, oder gleich zum Dinner ins Henri IV gehen. Dort hatte ich einen Tisch reserviert. Und am Tag davor dann passierte mir, was heutzutage niemandem mehr zu passieren scheint, jedenfalls hört man nichts davon.

Als ich gerade dabei war, das fünfte Spiel in einem Squash-Match mit 8:3 zu gewinnen, brach ich mit unerträglichen Bauchschmerzen auf dem Fußboden des Platzes zusammen. Der Mann, gegen den ich spielte, kniete neben mir nieder, befühlte meine Stirn und fragte, ob es ein Krampf sei. Ich konnte ihm nicht antworten.

Ich gehe Hilfe holen, sagte er mir.

Wir spielten in der Hemenway-Halle. Vielleicht war ich ohnmächtig geworden. Ich spürte zusätzlich zu den Schmerzen kaltes Wasser auf Kopf und Schultern. Als ich die Augen aufschlug, sah ich einen der Trainer.

Lieber Himmel, sagte er zu dem Jungen, der ihn geholt hatte, bleib du bei Gardner. Ich rufe einen Krankenwagen.

Es war ein Blinddarmdurchbruch, er folgte auf die Bauchschmerzen, die ich seit mehreren Tagen entschlossen ignoriert hatte, und die Infektion hatte sich in meiner Bauchhöhle so massiv ausgebreitet, dass die Chirurgen entschieden, sie müsse bekämpft werden, bevor der kleine Stummel selbst entfernt werden konnte. Die Operation fand im Mass. General Hospital in Boston statt. Ich blieb drei Wochen dort und wurde dann mit dem Krankenwagen nach New York gebracht, um drei Wochen zur Erholung zu Hause zu verbringen. Als ich nach Cambridge zurückkam, schlug der Studienleiter vor, ich solle mich für den Rest des Herbstsemesters beurlauben lassen. Ich könne im Frühjahr wieder ins College kommen und die für das Examen nötigen Pflichtkurse bis zum nächsten Herbst absolvieren. Ich war schon auf einen solchen Vorschlag gefasst, und ich hatte in den langen Wochen in der Wohnung meiner Eltern darüber nachgedacht. Ich dankte dem Studienleiter und sagte ihm, ich würde lieber hart arbeiten und sein Urlaubsangebot nicht annehmen. Ich hatte in der City viel gelesen, um mich auf dem Laufenden zu halten, und meinte, ich würde es schaffen. Die Gründe, warum ich mir das Leben so schwermachte? Einer war frivol – ich wollte sichergehen, dass ich die Suite für mich allein weiterbewohnen konnte –, der andere nicht. Ich hatte erreicht, dass Adam Ulam meine Abschlussarbeit betreuen würde, ein brillanter junger Politikwissenschaftler, mit dem ich Freundschaft geschlossen hatte, hauptsächlich, weil er als Tutor im Eliot House wohnte und regelmäßig zum Mittagessen kam. Ich wusste, dass er im folgenden Jahr nicht in Harvard sein würde, dass ich mir dann also einen anderen Mentor in der politikwissenschaftlichen Fakultät suchen müsste und dass ich Ulams eigensinnigen, aber verständnisvollen Umgang mit meinen Ideen vermissen würde.

Vielleicht einen Tag nachdem ich wieder in Cambridge angekommen war und mich noch hundeelend fühlte, rief ich Penny an. Sie war nicht da und rief auch nicht zurück. Ein paar Tage später rief ich wieder an. Sie kam ans Telefon, ließ sich aber auf nichts ein. Nein, sie könne mich nicht auf einen Tee bei Hayes-Bickford treffen, nein, zum Cronin's könne sie nicht kommen, sie habe so viel Arbeit, sie wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe. Ob ich in ein paar Tagen wieder anrufen könne? Das tat ich. Das Mädchen an der Klingel, die Radcliffe-Bezeichnung für den Telefondienst, sagte, man werde nach ihr suchen. Die Suche dauerte eine Weile. Dann stellte sich heraus, dass sie doch nicht da war. In der Stimme des Mädchens an der Klingel klang ein unterdrücktes Kichern mit. Na gut. Ich konnte einen Fingerzeig verstehen. Außerdem fiel mir ein, dass sie mich nicht in der Klinik besucht und auch nicht angerufen hatte, als ich nach Hause gebracht worden war. Weil sie zu schüchtern dafür war, dachte ich damals, oder weil ihre verdrehte Philadelphia-Main-Line-Erziehung es ihr nicht erlaubte. Ich machte mir weiter keine Gedanken über diese Abfuhr. Ich arbeitete zu hart und holte methodisch die Zeit wieder auf, die ich durch meinen Blinddarmdurchbruch verloren hatte. Leicht war das nicht, obwohl ich nicht mehr in der Squash-Mannschaft war und die Stunden, die ich auf dem Übungsplatz verbracht hatte, mir jetzt für die Arbeit an den Kursen zur Verfügung standen. Vor allem ging es mir zwar schon besser, aber noch nicht annähernd gut. Und dann unterhielt ich mich eines Tages mit Pennys Freundin Francie. Als ich zwischen zwei Kursen an der Theke bei Leavitt & Peirce einen Tee trank und einen englischen Muffin aß, setzte sie sich neben mich, sagte, wie leid es ihr tue, dass ich so lange krank gewesen sei, und fragte dann, ob ich von Penny gehört hätte.

Was denn?, fragte ich.

Sie ist jetzt mit McBride zusammen.

Ach ja?, knurrte ich.

Ich bezweifle, dass ich das Thema weiter verfolgt hätte, selbst wenn der Name zu einem der Dutzenden von Studenten gehört hätte, die mir mehr oder weniger vage bekannt und ziemlich gleichgültig waren. McBride war ein Mensch, den ich widerwärtig fand. Meine Reaktion auf ihn war instinktiv, glaube ich: Wir hatten in unserem ersten Collegejahr auf demselben Flur von Wigglesworth gewohnt, und irgendwas an diesem bleichen selbstzufriedenen blonden Gesicht, den vorquellenden Augen und der überheblichen St.-Pauls-Party-Boy-Nummer brachte mich auf die Palme. Im Lauf des Jahres verfestigte sich meine Abneigung noch und schloss auch den Mitbewohner ein, der ebenfalls in das Internat St. Pauls gegangen war und wie McBride aus Colorado stammte. Kupferminengeld, berichtete mir jemand, der mit ihnen zur Schule gegangen war.

Mein offenkundiges Desinteresse entmutigte Francie nicht.

Noch haben sie nicht alles gemacht, kicherte sie, aber das wird schon.

Pennys und McBrides Aktivitäten, deren Hauptziel es wohl war, ihm Erleichterung zu verschaffen, beschrieb sie nun dermaßen detailliert, dass ich nur hoffen konnte, keiner an der Theke würde zuhören. Aber vielleicht wurde Francies Bericht McBride nicht gerecht, und auch Penny kam wunderbar auf ihre Kosten. Prüde war ich wohl nicht, glaube ich, und in meinem dritten Jahr am College entjungferte mich eine Doktorandin mit dicken Brillengläsern und Pagenschnitt. Wir verstanden uns gut und wären wahrscheinlich zusammengeblieben, wenn sie nicht mit einem Fulbrightstipendium nach Europa gegangen wäre. Über jeden anderen als McBride hätte ich vermutlich gelacht, als Francie ihre Geschichte erzählte, vielleicht hätte ich gesagt: »Da hat ihnen wohl jemand gezeigt, wo der Barthel den Most holt«, oder so ähnlich. Vielleicht hätte ich sogar versucht, Penny zurückzugewinnen, da es bei ihr, theoretisch jedenfalls, Reichtümer zu entdecken gab, die man nicht unerforscht lassen sollte. Aber die Niedertracht war zu groß. Ich erklärte Francie, ich müsse los, käme sonst zu spät zum Kurs, zahlte und rief Penny nie mehr an. Ich glaube sogar, wir haben uns erst bei einem Dinner wiedergesehen, an dem Valerie und ich teilnahmen, als ich nach New York zurückgekehrt war, um meine Arbeit als Chefredakteur der Time aufzunehmen. Wir begrüßten einander mit einer Begeisterung, die von meiner Seite ungekünstelt war, und entdeckten, dass wir immer noch Freunde waren. Ich betrachtete ihren Ehemann mit Interesse. Er war eine in die Jahre gekommene, aber davon abgesehen glaubwürdige Version McBrides: Yale statt Harvard, gut genährt aus einem Treuhandfond, Vizepräsident einer Handelsbank und stolzes Mitglied eines Racketclubs, mit dessen Krawatte er sich schmückte.

Alles in allem keine unwahrscheinliche Harvard-Radcliffe-Geschichte, dachte ich, beginnend mit der Boy-meets-Girl-Episode im Quadrangle über heftige und nachlassende Verliebtheit der beiden bis hin zur Wiedervereinigung auf einer schicken Party in einem Duplex an der Fifth Avenue und einer maßvollen angenehmen Komm-doch-mal-zum-Dinner-Freundschaft in den Hamptons.

Pennys Dinner entsprach ziemlich genau meinen Erwartungen, aber ich hatte den Platz zwischen ihr und der Malerin und unterhielt mich gut. Ich saß links von Penny. An ihrer rechten Seite saß der ehemalige Botschafter, der sie so vereinnahmte, dass sie die Unterhaltung nie in meine Richtung lenkte. Das war mir recht. Die Malerin hatte das New-England-Aussehen, das mir gefällt, und sie redete pausenlos, über ihre Bostoner Verwandten, von denen ich einige in der Schule oder am College gekannt hatte, über ihre gescheiterte frühere Ehe mit einem jüdischen Professor der Kunstgeschichte, der eindeutig nicht gepasst habe, über ihren gegenwärtigen Ehemann, der ein Schatz sei, und über ihre Kunst. Ich war in einer ihrer Ausstellungen gewesen und meinte, ich könnte etwas über ihre Arbeit sagen. Sie muss das auch gemeint haben, wenn ihre Redseligkeit ein Indiz war, und sie lud mich für die folgende Woche in ihr Atelier ein. Ich nahm die Einladung an und beschloss, ein kleines Bild der Peconic Bay zu kaufen, eines von der Art, die ich gesehen und hübsch gefunden hatte. Kaum war mir das Wort über die Lippen gekommen, dass ich auch am kommenden Wochenende in Bridgehampton sein wolle und gern ihrem Vorschlag folge und am Sonntagnachmittag bei ihr vorbeikäme, da überschwemmte mich wieder die vertraute Trübseligkeit. Bei allen olympischen Göttern, was wollte ich mit noch einem Bild? Selbst nach Valeries Plünderung waren noch zu viele Gemälde und Zeichnungen an meinen Wänden, fand ich, zu viele Bücher in den Regalen, zu viel Gerät und Geschirr in den Küchen in der City und in Bridgehampton, zu viel Kram, um den sich Barbara und Rod streiten oder den sie ohne Umstände der Heilsarmee überlassen oder in großen schwarzen Müllsäcken versenken würden. Ich sollte den Krempel verkaufen oder weggeben, nicht vermehren. Der Gegengedanke ließ nicht auf sich warten: Ist doch egal, nicht mein Problem, warum nicht dieser netten Frau eine Freude machen und ihr kleines Landschaftsbild an die Wand hinter meinem Schreibtisch lehnen? Das Haus eines alten Freundes ein paar hundert Meter weiter war verkauft worden, weil er einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, von dem er sich nicht erholte. Er wollte seine Wohnung nicht mehr verlassen. Der Bauunternehmer, der das Haus kaufte, riss es so schnell ab, dass man meinte, es sei über Nacht verschwunden. Jetzt zog er stattdessen ein doppelt so großes und meiner Ansicht nach schlecht auf dem Grundstück platziertes Bauwerk hoch. Das demolierte Haus war alt, wenn auch nicht so ehrwürdig wie meines und sehr gemütlich gewesen. Im Garten hatten am vierten Juli und am Labor Day Partys stattgefunden, auf die sich alle Schriftsteller, Lektoren und Literaturagenten in den Hamptons freuten. Nicht eingeladen zu sein, war eine schreckliche Kränkung. Würde meinem Haus dasselbe blühen, sobald die Kinder es verkauften? Barbara würde Rod seinen Anteil nicht auszahlen können, es wäre viel zu viel Geld, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihre Sommer gern in Bridgehampton verbringen würde, wenn sie das Haus mit Rod und Carla teilen müsste. Es zum Verkauf anzubieten lag nahe.

Geh nicht, wenn alle gehen, flüsterte Penny mir zu, als der Kaffee serviert wurde. Wir haben uns seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Wir haben viel nachzuholen!

Ich nickte und wartete auf der Sitzbank am Kaminfeuer. Bald hatte sie alle Gäste verabschiedet und setzte sich neben mich.

Möchtest du einen Kognak oder einen Single Malt Scotch? Ich habe auch einen ganz besonderen Calvados.

Am liebsten von allem ein Glas, antwortete ich, aber ich kann nicht. Ich hatte vor dem Essen einen Bourbon und dann zwei Gläser hervorragenden Wein. Wenn ich noch mehr trinke, schaffe ich es nicht mehr nach Hause. Jedenfalls nicht in einem Stück.

Sie rückte näher und sagte, du kannst über Nacht hierbleiben. Ich mache ein sehr gutes Frühstück.

Führe mich nicht in Versuchung, erwiderte ich. Dieser Greis hier muss vor dem Schlafengehen acht Pillen einwerfen und beim Aufstehen vier, in den meisten Nächten braucht er eine Schlaftablette – eine leichte, aber dringend nötige –, und um halb neun muss er an seinem Schreibtisch sitzen, oder wo immer er seinen Computer stehen hat, und an seinem elenden Buch arbeiten.

Schon recht, sagte sie schmollend, ich geb dir einen Gutschein. Bring nächstes Mal Pillen und Laptop mit. Keine Entschuldigungen mehr! Wie auch immer, ich gehe nirgendwo mehr hin, es sei denn, du verlangst, dass ich dich nach Hause fahre, also trinke ich etwas.

Heiliger Strohsack, sagte ich mir, eine kokettierende Achtzigjährige!

Sie kam mit einem Schwenker wieder, der eine ansehnliche Portion Kognak oder Calvados enthielt. Ich hatte mich in einen Sessel schräg vor dem Kamin verzogen. Sie setzte sich wieder auf die Bank.

Sehr gutes Zeug, sagte sie. Hat mir Billy mitgebracht – der Neffe, der Sinologe war –, als er von einer Konferenz irgendwo in der Normandie zurückkam, aus Caen, glaube ich. Hugo, findest du es nicht hübsch, dass wir nach all den Jahren noch Freunde sind? Du hast es wahrscheinlich vergessen, aber ich hab mich schlecht benommen. Hab mich mit diesem ekelhaften McBride eingelassen, als du so krank warst!

Ich lachte. Du hast entdeckt, dass er kein Märchenprinz war. Na ja, ich war auch keiner.

Er war einfach furchtbar, aber das hab ich erst nach Monaten gemerkt. Ich war wirklich eine Gans. Aber du hast mir verziehen?

Natürlich. In dem Alter brechen Leute ständig miteinander. Außerdem war ich wie benommen, musste das Pensum der Kurse nachholen, meine Abschlussarbeit schreiben. Mir ging's nicht besonders gut.

Es hätte so anders kommen können, wenn ich nur gescheiter gewesen wäre!

Das ist über sechzig Jahre her, Penny! Nach dem Examen ging ich zum Militär. Die haben mich nach Europa verschifft. Als ich wiederkam, warst du noch auf dem College. Ich hatte dich aus den Augen verloren. Wann du Dwight geheiratet hast, weiß ich nicht. Aber als ich demobilisiert war und meine Arbeit in New York wieder aufnahm, waren wir nicht mehr dieselben wie bei unserer Begegnung an jenem Nachmittag in unserem ersten Collegejahr. Und seitdem hat es so viele Kehren und Wenden gegeben.

Dwight war ihr verstorbener Ehemann.

Und wie ist die schreckliche Valerie ins Bild gekommen?

Valerie? Schrecklich ist sie eigentlich nicht. Sie hat einen Kerl geheiratet, der zu alt für sie war. Viele Jahre lang hat sie das offenbar nicht gestört, aber irgendwann dann doch. Und sie hat einen jüngeren Mann finden können, sogar jünger als sie ist er, sagt man mir, und gutaussehend. Kann man es ihr verübeln, wenn sie meinte, es sei nichts für sie, bis zum bitteren Ende bei einem alten Wrack auszuharren? Es war ein Schock für mich und hat mich todunglücklich gemacht, aber inzwischen nehme ich es gelassener. Das sollten wir alle. Wie sie ins Bild gekommen ist? Ich wohnte in Paris, war gerade Chef des Büros dort geworden, bin ihr begegnet und fand sie toll. Das war unmittelbar nachdem ich einen anderen Riesenfehler gemacht hatte. Im Rückblick sieht er nicht ganz so schlimm aus wie meine Heirat mit Valerie, aber er schmerzt mich auch jetzt noch, hundert Jahre danach.

Dass ich jeden Tag viele Stunden an meinem Buch arbeitete, stimmte. Wie durch ein Wunder war es fast fertig. Meinem Lektor gefiel, was er las, und er sagte: Gib Gas. Wir werden es noch vor Jahresende drucken und auf den Markt bringen! Das Timing ist perfekt! Es wird ein Hit. Ich hatte so meine Zweifel. Wie würde meine George-W.-Bush-Demontage sich gegen die unaufhaltsam auf uns zurollende Katastrophe behaupten, die ich für den nächsten Wahlzyklus vorhersah? Aber ich wollte keine Einwände äußern. Dass Jeb Bush mit im Rennen war und dass das Buch die Dummheit in der Bush-Familie aufs Korn nahm, konnte den Verkaufserfolg fördern. Trotz Arbeit fuhr ich bei gutem Wetter an den Wochenenden nach Bridgehampton. Ich liebte das Haus und konnte dort immer gut arbeiten. Penny gab anscheinend ungefähr jeden Samstag ein Dinner und versäumte nicht, mich einzuladen. Mir war die Einladung nach einem langen einsamen Arbeitstag willkommen, es sei denn, ich aß bei meiner Cousine Sally zu Abend. Ich hatte mich für Penny erwärmt und an die Fahrt nach Springs gewöhnt, aber Sally kannte ich, seit sie ein kleines Mädchen war, und sie hatte Vorrang. Sie war das einzige Bindeglied mit meiner Vergangenheit, das mir noch blieb, und nicht zuletzt freute ich mich darauf, dass mein Namensvetter Hugo mir auf den Schoß sprang und in der Sprache der französischen Bulldoggen grummelnde Kommentare zu aktuellen Ereignissen und zu seinem Leben als Hund gab. Die neue Beflissenheit dieser beiden Damen und das Kaleidoskop ihrer weiblichen Dinnergäste amüsierten mich. Penny hatte das Flirten mit mir entweder aufgegeben, oder sie fürchtete keine Konkurrenz. Ich fragte Sally, was sie von dem Ganzen hielt.

Sie lachte und sagte: Verstehst du nicht? Du bist ein begehrter Junggeselle! Ein Fang bist du.

Jetzt war es an mir zu lachen.

Es ist mein Ernst, fuhr sie fort. Du hast ein hübsches Haus in der besten Gegend von Bridgehampton und eine Wohnung in der City am Carnegie Hill, hast gerade genug Geld, nimmt man an, scheinst gesund zu sein, kannst dich jedenfalls ohne Rollator und ohne Krückstöcke fortbewegen, hast nicht den Verstand verloren und siehst nicht übel aus. Ein Adonis bist du nie gewesen, aber alles in allem und für dein Alter … Du hast noch deine eigenen Zähne, deine eigenen Haare, und du bist gepflegt. Und vor allem genießt du Ansehen! Als ehemaliger Chefredakteur einer Spitzenzeitschrift und als Schriftsteller. Was könnte eine hier lebende Geschiedene oder Witwe sonst noch von einem Kerl verlangen, mit dem sie zusammenziehen will? Und was noch könnte eine Gastgeberin, Penny etwa oder auch ich, sich für einen männlichen Gast zur Belebung ihres Dinners wünschen?

Frag Valerie, sagte ich.

Gerade als Jeb Bush – nicht überraschend – seine Kandidatur bekannt gab, schloss ich mein Buch ab. Wenn die Faktenprüfer, Korrektoren und juristischen Gutachter alles durchgesehen hatten, würde ich wieder am Manuskript arbeiten müssen, aber bis dahin fühlte ich mich auf Urlaub. Ich schwamm ab und zu Bahnen im Pool, wanderte am Strand, schwamm im Meer, wenn die Brandung nicht zu stark war, las und genoss mein Leben als frischgebackener begehrenswerter Junggeselle. Roddy, Carla und ihre Kinder verbrachten das Wochenende um den vierten Juli in angenehmer Harmonie mit mir. Von Barbara hörte ich nichts. Nichts seit unserem Essen in meinem Club, das sie in der darauf folgenden Woche mit einer E-Mail »Hab wohl die Nerven verloren. Barbara« quittiert hatte. Vorabexemplare meines Buches wurden superschnell, schon Anfang September, an Zeitungen und Kritiker geschickt. Das Echo war gut. Ende September wurde ich nach Paris eingeladen zu einer Konferenz über amerikanische Politik, die Mitte Oktober am Institut d'études politiques stattfinden sollte. Meine erste Regung war, nein zu sagen. Dann überlegte ich es mir eine Woche lang und sagte zu. Unverhoffte Nostalgie spielte sicher eine Rolle bei meiner Entscheidung, dazu kam die Aussicht auf Diskussionen mit einigen anderen Teilnehmern, die ich seit Jahren kannte. Ausschlaggebend aber war ein Anruf von Dr. Klein, meinem Urologen und Onkologen. Ich hatte ihn zehn Tage zuvor für eine Routineuntersuchung im Rahmen des beobachtenden Abwartens aufgesucht. Die Untersuchung, auch das von mir gefürchtete manuelle Abtasten durch den Anus, ergab, dass alles unauffällig war. Aber jetzt waren die Ergebnisse des Bluttests gekommen und zeigten, dass meine PSA-Werte durch die Decke gegangen waren, wie Dr. Klein sich ausdrückte.

Ich möchte sofort eine Biopsie durchführen lassen, erklärte er mir.

In Ordnung, erwiderte ich, gegen eine Biopsie habe ich nichts, aber jetzt sofort geht es nicht … Ich bin im Aufbruch zu einer Konferenz im Ausland und werde mehrere Wochen fort sein, so dass vor meiner Rückkehr nichts unternommen werden kann, egal, was die Biopsie ergibt.

Schweigen. Dann sagte er: Ich empfehle wirklich, dass die Biopsie gemacht wird und dass die Behandlung, falls nötig, sofort begonnen wird, auch wenn Sie deshalb Ihre Reise absagen müssen.

Ich verstehe Ihren Rat und nehme ihn ernst, erklärte ich ihm, und ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich ihn ausnahmsweise nicht befolge. Ich melde mich wieder, sobald ich zurück bin.

Was sollte der arme Mann machen? Er wünschte mir viel Glück.

Ich erzählte ihm nicht, dass die Nachricht von meinen entgleisten PSA-Werten Erregung und Erleichterung in mir ausgelöst hatte. Wenn diese Krebszellen streuten, vielleicht schon gestreut hatten, dann war mein Ende absehbar, und ich konnte es selbst bestimmen. Dann bliebe mir Alzheimer erspart, auch die Folgen eines Schlaganfalls mit entstelltem Gesicht oder gelähmten Gliedmaßen, und ich musste nicht fürchten, an Parkinson mit Tremor und Debilität zu erkranken. Ich wäre leicht in der Lage, diese Reise ohne Wiederkehr nach Zürich zu machen, aber zuerst würde ich meine Angelegenheiten regeln. Dabei dachte ich nicht an Geld und Legate. Mein Testament war auf dem neuesten Stand; ich würde es nicht ändern, um Barbara zu enterben oder ihren Anteil zu verkleinern, nur weil sie ein Dummkopf war. Das lohnte sich nicht, und außerdem liebte ich sie. Ich meinte meine persönliche Habe, nichts davon wirklich wichtig. Ererbte Möbelstücke, Gemälde von geringem Wert, Bücher, Kram, der sich im Lauf eines Lebens angesammelt hatte. Davon würde ich so viel weggeben, wie es richtig war. Ich wollte nicht, dass die Sachen respektlos verklappt würden.

Ein Marschlied, das wir während der Grundausbildung in schweren Waffen im Fort Dix immer sangen, wenn die Kompanie C unterwegs war, kam mir in den Sinn. Ich wandelte den Wortlaut etwas ab und brüllte los: Heidi, Heidi ho! Heidi, Heidi hier! Marsch, marsch, drei vier, Krebs marschiert mit, im gleichen Schritt, marsch!