Das Hotel in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, in dem ich normalerweise abstieg, wenn die Time die Rechnung zahlte, war so teuer geworden, dass ich Zweifel habe, ob irgendeine US-Zeitschrift oder Zeitung ihre Mitarbeiter, hochrangige Journalisten und Chefredakteure nicht ausgenommen, dort unterbringen würde. Millionenschwere Funk- und Fernsehstars? Vielleicht. Da galten womöglich ganz andere Regeln. Meine Möglichkeiten überstieg es mit Sicherheit, es sei denn, Paris würde wie Zürich ein Anlaufhafen am Styx, und ich quartierte mich in dieser zweiten Heimat für eine Nacht ein, im Wissen, dass ich am nächsten Morgen die letzte Taxifahrt meines Lebens zu einer geheimen Klinik irgendwo in Passy oder Neuilly antreten würde. Mein altes Hotel hatte sich allerdings so verändert, dass ich nicht bedauerte, dort nicht wohnen zu können. Als ich ein paar Jahre zuvor mit einem ehemaligen Kollegen von Paris Match auf einen Drink an der Bar verabredet war, sah ich, dass die meisten Clubsessel in der Lobby besetzt waren, entweder von übergewichtigen Levantinern, die eifrig in ihre Handys sprachen, die fetten Beine gespreizt, als wollten die Herren ihr Gemächt vorführen, oder von anderen nicht weniger fettleibigen und vulgären Typen, die ich aufgrund meiner langen Erfahrungen mit der Sowjetunion sofort als russische Unternehmer erkannte. Oligarchen vermutlich, die in Paris zu tun hatten oder auf dem Hin- oder Rückweg zur oder von der Côte d'Azur waren. Gibt es auch Russen anderer Art? Selbstverständlich, Dissidenten zum Beispiel, die Putin hinter Schloss und Riegel bringt oder ermorden lässt. Wirklich Pech. Mein Hotel hatte wenig Charme gehabt, aber eine sehr günstige Lage, angenehme Zimmer und ein Schwimmbad im Keller. Vor allem war es achtbar gewesen. Meine liebe Tante Hester, die mir das Haus in Bridgehampton vermacht hatte, und ihre Cousinen, Damen aus alten Hartford/Connecticut-Familien, waren häufig Gäste dort gewesen. Aber ganz generell hatten Hotels ihre frühere Qualität verloren. Während desselben Besuchs in Paris hatte ich auch in zwei, drei anderen der berühmten Hotels Drinks an der Bar genommen und die Kundschaft dort nicht attraktiver gefunden, nicht mal im Ritz, das unmittelbar vor seiner Schließung wegen Totalrenovierung stand.
Weil wir eine andere Lösung finden mussten und keine Lust auf eine Ferienwohnung hatten, wo man am Ende den Haushalt in Ordnung hält, obwohl man lieber etwas anderes unternehmen würde, stiegen Valerie und ich in einem kleinen Hotel am Beginn der Rue de Bourgogne ab, das uns vor Jahren Pariser Kollegen bei der Vogue empfohlen hatten, deren Büro damals, bevor sie in die farblose Avenue Hoche umziehen mussten, praktisch nebenan, an der Place du Palais-Bourbon lag. Die Unterkunft hatte uns sehr gut gefallen, aber als ich jetzt dort anrief, um dasselbe Zimmer wie sonst zu reservieren, merkte ich, dass das Hotel den Besitzer gewechselt hatte und dass die charmante Managerin, mit der wir uns angefreundet hatten, nicht mehr da war, sondern an ihrer Stelle eine Person, die sich an meinen Namen nicht erinnerte, obwohl ich mindestens fünfzehn Mal dort gewohnt hatte. Überhaupt schien keiner der Angestellten, die ich kannte, noch dort zu arbeiten. Da meine Cousine Sally mindestens einmal im Jahr nach Paris reiste, fragte ich sie um Rat. Sie nannte mir ein Hotel im sixième, in der Rue Cassette, nur ein paar Schritte von Saint-Germain-des-Prés entfernt und, wenn man schnell ging, fünf Minuten von der Sciences Po, wo ich mich an den meisten Tagen aufhalten würde.
Es ist sehr ruhig und sehr charmant, sagte sie, es wird dir gefallen. Alle dort sind so freundlich. Es hat einen kleinen Garten, in dem du einen Drink nehmen oder sogar Lunch essen kannst, wenn das Wetter so mild ist wie jetzt.
Sie hatte recht, wie immer. Schon beim Eintreten wusste ich, das Haus war genau richtig für mich. Am ersten Abend ging ich zum Lipp hinüber. Es war Viertel vor acht, eine Stoßzeit, und ich fürchtete, lange auf einen Tisch warten zu müssen oder gar treppauf nach Sibirien geschickt zu werden, an den Ort für Unerwünschte, den man mir noch nie zugemutet hatte. Zu meinem Erstaunen aber war Monsieur Gilles, zugleich Zerberus und Sankt Peter des Etablissements, der zu entscheiden hatte, erstens, ob jemand überhaupt eingelassen wurde, und zweitens, wann und an welchem Tisch man Platz nehmen durfte, noch nicht im Ruhestand. Ich erblickte ihn mitten im Durchgang vom Café zum Restaurant, und er erkannte mich, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte. Er trat vor, bereit, mich zu umarmen, und rief: Monsieur Hugo! Lange her seit dem letzten Mal. Zwei, drei Jahre? Werden Sie allein dinieren?
Ich sagte ja, ich sei allein, es sei schon vier Jahre her, und ich sei froh, ihn so unverändert, so offensichtlich bei guter Gesundheit wiederzusehen.
Ganz wie Sie, Monsieur, ganz wie Sie.
Und dann sprach er mit dem Kellner und instruierte ihn, wo er mich platzieren sollte. An einem ganz besonderen Tisch, erwies sich, auf einer Bank ohne Gegenüber nahe dem Fenster mit Blick auf den Boulevard. Ich bestellte meine Lieblingsgerichte, hareng à l'huile und gegrillte Andouillette, und eine halbe Flasche vom Bordeaux des Hauses und dachte an all die Male, da ich in dieser Brasserie das Gleiche gegessen hatte, angefangen mit den Jahren meines Militärdienstes, dann während der zahllosen Aufträge, die mich nach Paris führten, als ich noch Auslandskorrespondent war, bis hin zu meinen Jahren als Chef des Pariser Büros. Ich dachte an die Mahlzeiten, die ich allein, mit Kollegen, mit Valerie und vor ihr mit anderen jungen Frauen eingenommen hatte, die ich wohl nicht alle noch beim Namen nennen könnte. Genau genommen, war nur eine von ihnen wichtig für mich gewesen. Als Valeries kulinarische Interessen und Aktivitäten in Schwung kamen, entschied sie, das Lipp sei Zeitverschwendung, und führte – zerrte, will ich nicht sagen – mich in einen Tempel der nouvelle cuisine nach dem anderen, in altmodische Bistros, wundersam modernisiert von energiegeladenen neuen, aus Provinzen eingewanderten Eigentümern, die meines Wissens bisher noch niemand mit den Höhen der Gastronomie assoziiert hatte, und schließlich zum Vergleich und zwecks nicht immer konstruktiver Kritik in die klassischen berühmten Restaurants: Grand Véfour, Taillevent, Lucas Carton, Maxim's. Alle im Niedergang begriffen, das Maxim's überhaupt kein Restaurant mehr. Véfour hatte bei mir an erster Stelle gestanden. Valerie hatte es aus irgendeinem Grund nicht geschätzt. Ich beschloss, mir dort für den ersten Abend, an dem ich keine Verpflichtung an der Sciences Po hatte, einen Tisch zu reservieren. Selbst wenn Ochsenschwanz und Kalbsbries nicht mehr so waren, wie ich sie in Erinnerung hatte, konnte doch weder der Charme des Palais-Royal verflogen sein noch die staunenswerte Schönheit des Interieurs aus dem achtzehnten Jahrhundert mit den Spiegeln und dem vergoldeten Schnitzwerk. Ausgeschlossen. Das Interieur stand sicher unter Denkmalschutz. Jeanne, Valeries unmittelbare Vorgängerin, war liebend gern dorthin gegangen. Am Ende hatte ich sie schändlich behandelt, aber vorher, als wir zusammen waren, hatte ich nie etwas gegen Essen in einem guten Restaurant gehabt. Außerdem waren damals die Menüs für einen Amerikaner, der mit US-Dollar bezahlte, durchaus erschwinglich. Ich hasste den Gedanken daran, wie viel das Dinner heutzutage kostete, angenommen, ich aß den Ochsenschwanz oder das Kalbsbries, vorher Krustentiere und zum Dessert eine Crème brûlée. Dazu eine halbe Flasche Wein und einen fine. Es kam nicht darauf an. Hatte ich nicht beschlossen, dass Sparsamkeit in meinem Fall unsinnig war? Durch Jeanne, die wirklich gern aß und deren Geschmack in Fragen des Essens und der Restaurants meinem ähnlicher war als Valeries, lernte ich auch das Bistro an der Rue du Cherche-Midi kennen, das ein Paar betrieb, mit dem ich mich anfreundete. Der Mann kochte, seine Frau war an der Kasse. Eine schöne traditionelle Aufteilung. Das Paar hatte sich vor Jahren zur Ruhe gesetzt, aber das Restaurant gab es vielleicht noch. Es wäre reizvoll, das zu erkunden. Die kleine marokkanische Couscous-Kneipe, eine Querstraße weiter, in der wir das weltbeste Couscous mit Merguez aßen, war auch eine ihrer Entdeckungen gewesen.
Jeanne. Es war ganz natürlich, dass ich mehr an Valerie dachte, als mir lieb war, während Jeanne in meiner Erinnerung kaum noch vorkam. Und das, obwohl wir, je nachdem, wie man rechnete, über zwei Jahre zusammen gewesen waren, vielleicht sogar vier. Was regt die Phantasie nun stärker an, Frau, die man verlor, Frau, die man gewann? Ich hatte es immerhin fertiggebracht, Valerie zu verlieren, und wünschte mir nun, ich könnte sagen: Gott sei Dank! Ob der Tag je kommen würde? Nicht hilfreich war, dass ihr Name und nicht erbetene Informationen über ihre und Monsieur Leblancs Aktivitäten immer wieder in Mitteilungen meiner Kinder auftauchten. Eine Nachricht, die mich hätte wütend machen sollen, mich aber zum Lachen brachte, war eine E-Mail von Barbara, die ich ein paar Tage vor meinem Aufbruch nach Paris erhielt. Den ganzen Sommer lang hatte ich nichts von ihr gehört.
Dad, schrieb sie, Rod sagt, du bist unterwegs nach Paris zu irgendeinem Treffen und wirst mehrere Wochen wegbleiben. Mom muss wegen eines großen kulinarischen Wettbewerbs von Spitzenköchen nach East Hampton. Sie gehört zur Jury. Ist es ein Problem für dich, wenn sie und Louis im Haus wohnen? Ist deine Haushälterin da, kann sie das Haus öffnen und helfen? Immer noch Gloria?
Unterschrieben mit »Barbara«. Keine Spur von Floskeln wie »Herzlich« oder »Hab dich lieb« oder »Ich hoffe, es geht dir gut«. Ich prüfte die Nachricht genau. Sie war mit Sicherheit von ihrem Gmail-Konto abgeschickt. Wenn jemand sie zu Phishingzwecken gehackt hatte, würde die Person dann eine dermaßen lächerliche Mail schicken, die so typisch für Barbara war? Ich rief Rod an. Ja, er war in seinem Büro, und selbstverständlich würde er sich Barbaras Mail ansehen, wenn ich sie ihm weiterleitete. Er rief nach einer knappen halben Stunde zurück.
Das ist allerhand, sagte er. Barbs hätte dich wenigstens anrufen sollen.
Vielleicht, sagte ich achselzuckend. Wahrscheinlich hat sie meiner oder ihrer Langmut am Telefon nicht getraut. Ich frage mich nun aber vor allem: (a) Antworte ich ihr überhaupt, (b) sage ich ihr, sie sei nicht ganz bei Trost, oder (c) sage ich: kein Problem, solange sie eines der Gästezimmer benutzen? In meinem Bett will ich sie nicht haben. Ich bin in Versuchung, gar nicht zu antworten.
Es lohnt nicht, Dad. Barbs ist Barbs. Mom müsste sich auf ihren Geisteszustand hin untersuchen lassen, aber das ist ein anderes Problem. Warum machst du es dir nicht leicht und gibst ihr dein Okay? Wenn es dir zu viel ist, kann ich für dich mit Barbara reden. Schick mir einfach Glorias Telefonnummer, damit sie ihr Bescheid sagen können, und ich gebe alles weiter, was du mir sonst noch aufträgst.
Du bist ein verflixt guter Anwalt, sagte ich. Dem Antrag ist stattgegeben. Ich schicke dir die Telefonnummer und das Kennwort für die Alarmanlage per E-Mail. Barbara und deine Mom sollten sich wenigstens bei dir bedanken, wenn sie sich schon nicht die Mühe machen, mir danke zu sagen.
Die Sciences-Po-Veranstaltung am nächsten Tag gab mir das Gefühl, es sei nicht verkehrt gewesen, an der Konferenz teilzunehmen. Mein Vortrag über die Dynamik des Präsidentschaftswahlkampfs, soweit man sie bereits aus den Vorwahlen ablesen könne, war eindeutig das, was die Gruppe wirklich hören wollte. Ihm folgte eine Diskussion à bâtons rompus über Themen, die ich angestoßen hatte: über den mächtigen, allgegenwärtigen Einfluss der rechtsradikalen Evangelikalen und ihre Fähigkeit, strittige Fragen, für die allem Anschein nach Lösungen erreicht worden waren, von Neuem aufzuwerfen – sollten Abtreibungen erlaubt, gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen straffrei sein, gleichgeschlechtliche Ehen legalisiert werden?; über den schwärenden gegen Präsident Obama gerichteten Rassismus; über die legale und illegale Fremdenfeindlichkeit gegenüber Latinos, die selbst in Gebieten grassiert, in denen ihre Zahl verschwindend gering ist; über die merkwürdige und in gewisser Weise anrührende Nostalgie der weißen Arbeiterklasse im Rostgürtel mit ihrer Sehnsucht nach einer Technicolor-Version des amerikanischen Lebens, die es so wohl außer in Die besten Jahre unseres Lebens nie gegeben hat und die in jedem Fall nur ganz wenige von ihnen erlebt hätten. Die Idee dahinter: eine typische amerikanische Familie. Mama, Papa, zwei kleine Jungen und ein kleines Mädchen, alle weißblond. Ihre Fahrräder in der Einfahrt. Sie sind gerade vom Little-League-Spiel nach Hause gekommen, weil Papa von der Arbeit wieder da und bald Essenszeit ist. Papa hat einen festen, gutbezahlten Job in der Waschmaschinenfabrik oder ein paar Stufen höher auf der sozialen Leiter, bei der Versicherungsgesellschaft oder der örtlichen Sparkasse. Die Hypothek auf dem Einfamilienhaus, in dem die fünf wohnen, ist fast abbezahlt; der spiegelblanke Chevy in der Einfahrt ist schuldenfreies Eigentum, im nächsten Sommer wird die Familie eine Reise in die Rockies machen und im übernächsten nach Florida fahren. Und jetzt, ist das Leben immer noch so? Machen Sie Witze, Mister? Bei dieser Konkurrenz mit Ländern, wo man einen Dollar Stundenlohn zahlt, während die Fabriken hier schließen oder nach Mexiko umziehen, ist es Zeit, Amerika wieder groß zu machen!
Ich nahm teil an der Nachmittagsdiskussion über Probleme der Verteidigung im Zusammenhang mit der Truppenstärke und Einsatzbereitschaft der NATO und der besonderen Angreifbarkeit der baltischen Staaten. Im Baltikum war ich in meiner Zeit als Leiter des Moskauer Büros gewesen, als diese Staaten Teil der Sowjetunion waren. Melancholische vergessene Nester, unverständliche, in einem Meer von Russisch ertrinkende Sprachen, eine zwischen Unglück und Missmut schwankende Bevölkerung. Seit der Unabhängigkeit der baltischen Republiken war ich nicht mehr dort gewesen und merkte, dass ich ihnen jetzt von Herzen alles Gute wünschte. Wie auch immer, als das Panel zu Ende war, überkam mich der Jetlag oder schlichte Müdigkeit dermaßen heftig, dass ich das Dinner absagte, das im Hotel Lutèce stattfinden sollte. In meinem Hotel legte ich mich ins Bett und fiel in einen so tiefen Schlaf, dass ich beim Aufwachen weder wusste, wo ich war, noch, wie spät es sein mochte. Ich schaute auf den Wecker. Eigentlich hatte ich nur eine knappe Stunde geschlafen. Es war nicht zu spät für ein Dinner. Ich entschied mich, in das Restaurant an der Rue du Cherche-Midi zu gehen.
Unverändert. Das gleiche Bistro-Mobiliar, Licht, Geplauder der mit ihrem Essen beschäftigten Gäste. Ich hatte nicht reserviert, aber es gab einen Platz für mich. Als ich nach meinen Freunden von früher, den Eigentümern, fragte, hörte ich, ohne überrascht zu sein, dass sie gestorben waren. Sie waren ein paar Jahre älter als ich, und ihr Leben war viel mühsamer gewesen als meines. Jean hatte unermüdlich gearbeitet, ging schon um fünf Uhr morgens in die Halles oder zu Rungis, um Fleisch, Gemüse und Obst einzukaufen, und trank noch um Mitternacht oder später mit Kunden, mit denen er sich angefreundet hatte und die noch an ihren Tischen ausharrten, einen letzten kleinen fine. Und das, obwohl er in der Zwischenzeit in der Küche gestanden hatte, in der Hitze seines Herdes und seiner Backöfen, an denen er sich die Unterarme immer wieder verbrannte wie die meisten Köche. Die Speisekarte war auch unverändert. Ich bestellte mir Lauch und dann sautierte Stopfleber, mein Lieblingsgericht dort, auf das mich Jeanne aufmerksam gemacht hatte. Jeanne, die »Frau, die ich gewann« – die Frau, die ich aus meinem Leben verbannt hatte. Vergessen hatte ich sie nicht, das war unmöglich. Aber ich wusste nichts mehr von ihr. Als ich mir vor Jahren einen Laptop zulegte, übertrug meine Sekretärin Adressen aus meinem Rolodex, aus Notizbüchern und weiß der Himmel woher noch in das elektronische Adressbuch. Von da an hat mich dieses von Laptop auf Laptop und schließlich auf meine Handys übertragene, auf Telefonnummern, Straßennamen und Hausnummern reduzierte Protokoll meiner Tage und Stunden begleitet. Wie um es auf den Zufall ankommen zu lassen, gab ich auf meinem Smartphone Jeanne Brillard in »Kontakte« ein. Die Adresse Quai Anatole France wurde angezeigt, gefolgt von einer Solférino-Telefonnummer. Das war ungefähr so, als fände man heraus, dass die Telefonnummer einer alten Liebe Butterfield 8 ist. Natürlich, dachte ich. Das ist nicht ihre Adresse aus der Zeit, als wir zusammen waren. Ihre kleine Wohnung lag am rechten Seineufer, in der Rue de Penthièvre, mehr oder weniger hinter dem Bristol. An den Quai Anatole France ist sie vielleicht nach ihrer Heirat gezogen. Vielleicht nach ein paar Zwischenstationen. Hätte sie mir eine Nachricht mit einer neuen Adresse und Telefonnummer geschickt, hätte ich sie mir bestimmt notiert. Hatte sie mir eine geschickt? Vielleicht als Teil einer Heiratsanzeige? Das wusste ich nicht mehr, war mir aber irgendwie sicher, dass sie ein paar Jahre später geheiratet hatte als wir, Valerie und ich. Die einzige Frau aus Jeannes Clique in New York, der ich immer noch gelegentlich begegnete, mochte es mir erzählt haben. Sie und Jeanne waren enge Freundinnen und trafen sich in Paris.
Tarte Tatin stand auf der Tageskarte. Das war ein Kuchen, den Jeanne gern aß. Ich bestellte ihn im Glauben an die Theorie, dass es bei mir auf ein paar Pfunde mehr absolut nicht ankam. Eine vernünftige Entscheidung. Die Tarte war ganz genauso gut, wie ich sie in Erinnerung hatte.
Eins führt zum anderen. Warum nicht Jeanne anrufen und fragen, ob wir uns treffen können, wenn auch nur, um abzuschätzen, welches Spiel die Zeit mit uns getrieben hat? Jemand in der Rezeption des Hotels konnte für mich die Modernisierung dieser Solférino-Nummer vornehmen. Am nächsten Morgen würde ich an der Sciences Po an einem Panel teilnehmen, aber nach dem Lunch wollte ich sie anrufen, wenn ich es mir nicht noch anders überlegte.