IX

Mein armer Hugo, schrie sie auf. Bist du überfallen worden? Furchtbar zusammengeschlagen?

Ich schüttelte den Kopf. Sie trug einen schwarzen Smoking, den ich als das Saint-Laurent-Teil wiedererkannte, das in den siebziger Jahren der Gipfel des Schicks gewesen war und immer noch fantastisch aussah. Ihre Frisur und ihr Make-up waren sehr gepflegt. Jetzt konnte man in Paris Friseursalons finden, die montags geöffnet waren. Hatte sie ihr Gesicht kosmetisch behandeln lassen? Weil sie mit mir essen ging? War der Smoking eine Anspielung auf die Zeit, in der wir zusammengewesen waren?

Paris ist immer noch sicher, erklärte ich ihr, mindestens in den beaux quartiers. Zusammengeschlagen hat mich keiner. Ich war in Bayeux bei Jacques und Lucie Legrand zu Besuch und hatte gestern Abend auf dem Rückweg einen Blackout im Auto. Ich war hundert Prozent nüchtern, das kann ich dir versichern. Das Auto hat einen Totalschaden, und ich war ziemlich durcheinander. Das ist alles. Wenn ich nur die richtige Abdeckcreme oder was ihr Damen in solchen Fällen benutzt, zur Hand gehabt hätte, dann hätte ich sie aufgetragen.

Wie grausig! Ein Glück, dass du nicht verletzt bist. Du hast also Jacques und Lucie besucht. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Über mich zu reden, muss ihnen großen Spaß gemacht haben.

Überhaupt nicht, erwiderte ich, sie haben gesagt, dass sie Valerie nicht leiden konnten und dass ich bei dir hätte bleiben sollen. Von deinem Mann erzählten sie, vor seiner Krankheit sei er ein begeisterter Jäger gewesen, was ich mir hätte denken können, da ich die Bilder an den Wänden seines Zimmers gesehen habe, und Banker sei er gewesen.

Ach, wirklich. Das haben sie sicher genauer gesagt: Ein Viry, der für Juden arbeitet! In gewissen Kreisen hat das zu allerhand Heiterkeit geführt.

Jacques hat es so nebenbei angedeutet. Der Teil unserer Unterhaltung, der sich um dich drehte, hat wirklich keine drei Minuten gedauert. Eigentlich haben wir über unser Leben geredet. Wir hatten uns seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Als ich das letzte Mal nach Paris gekommen bin, war er abgereist, wohin, weiß ich nicht. Ich habe ihn vernachlässigt.

So, wie du mich vernachlässigt hast!

Ich versuchte zu protestieren, aber sie ließ sich nicht unterbrechen.

Dann weißt du wahrscheinlich nicht, dass Jacques so weit nach rechts abgedriftet ist, dass er wahrscheinlich Marine Le Pen wählt. Ein erschreckender Antisemit ist er natürlich immer schon gewesen. Ich frage mich, wie das mit deinen sehr liberalen politischen Ansichten zusammengeht.

Du hast recht, antwortete ich, davon weiß ich gar nichts. Über Politik haben wir nicht geredet. Nicht mal über die Wahl in Frankreich. Wir hatten zu viele alte Kriegsgeschichten auszutauschen. Komm, lass uns einen Drink und unser Essen bestellen.

Während sie die Speisekarte studierte, erinnerte ich mich an Jacques' Gewohnheit, Trends in der französischen Gesellschaft auf Aperçus zu reduzieren, die, so hatte ich vermutet, zum Teil aus seinen Erfahrungen im Innenministerium und in der Stadtverwaltung stammten, zum anderen Teil die Weltanschauung seiner Winzer-Onkel in destillierter Form wiedergaben. Einer seiner Sprüche war: le Français est antisémite, Franzosen sind Antisemiten. Das bestritt ich, indem ich darauf hinwies, dass zum Beispiel er mindestens zwei enge jüdische Freunde habe, die ich durch ihn kennengelernt hatte. Das geht jedem Antisemiten so, antwortete er unbelehrbar.

Sie legte die Speisekarte weg, schüttelte den Kopf und sagte: Darauf kann ich mich einfach nicht konzentrieren. Ich nehme das Gleiche wie du, egal was. Und Rotwein bitte, egal, ob Fisch oder Fleisch.

Ich nehme, was wir immer so gern gegessen haben, erwiderte ich. Erbsensuppe und sautierte Foie gras. In Ordnung? Und einen Saint-Estèphe?

Irgendwas. Egal, was. Ich denke nur daran, wie bewusst es dir ist, dass du deinen alten Kumpel Jacques vernachlässigt hast. Und mich? Das ist auf deiner emotionalen Messlatte überhaupt nicht verzeichnet.

Jeanne, sagte ich, meine Worte vorsichtig abwägend, du warst wütend auf mich, als ich Valerie heiratete, du hast gesagt, du wolltest mich nie mehr sehen und nie mehr von mir hören, und du hattest recht mit deinem Zorn. Ich habe mich erbärmlich benommen. Du weißt, wie wir uns getrennt haben, so, dass mir auf meinen Durchreisen durch Paris keine Möglichkeit blieb, dich anzurufen und zum Tee oder auf einen Drink einzuladen, oder was immer man erwarten würde, wenn zwei Menschen sich einmal so nahe gestanden haben. Die Sache mit Valerie war ein Riesenfehler, für den ich jetzt bezahle, zu einer Zeit im Leben, da man besonders verletzlich ist. Und ich habe dir Unrecht getan und bereue es. Bist du immer noch so wütend auf mich? Bist du deshalb heute Abend so schlecht gestimmt?

Zu meinem Entsetzen fing sie an zu weinen, ganz still, eine Träne nach der anderen rann ihr an der Nase entlang und verdarb vermutlich – den Gedanken konnte ich nicht unterdrücken – das ganze perfekte Make-up.

Jeanne, flüsterte ich, Jeanne, ich wollte dich wirklich nicht unglücklich machen.

Sie trocknete die Tränen, holte tief Luft und sagte: Schon gut, Hugo, du hast mich nicht unglücklich gemacht. Es ist das Leben, das ich jetzt habe. Ich glaube, du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist. Zum Beispiel heute Abend: Monsieur le comte hat Fieber! Ungefähr um halb sieben, nach Huberts abendlichem Suze, stürzte Victor – ich glaube, dieser Pfleger hatte Dienst, als du zu Besuch warst – zu mir ins Zimmer und meldete: Ich habe gesehen, dass Monsieur le comte glühte, und maß seine Temperatur. Zuerst war sie 39,5, jetzt habe ich nochmal gemessen, und sie ist gestiegen: vierzig Grad! Hugo, das sind 104 Fahrenheit. Vielleicht möchte Madame den Arzt rufen, fuhr Victor fort. Natürlich tat ich das. Zum Glück haben wir einen Arzt, der in der Rue du Bac wohnt und Hausbesuche macht. Vierzig Grad! Hubert hat so wenig Gelegenheit, ein Virus zu erwischen – oder irgendwas. Nur bei diesen gottverdammten Verwandten kann er sich anstecken. Die könnten die Grippe einschleppen. Die Pest! Aids! Scherz beiseite, hohes Fieber ist in seinem Fall wirklich angsteinflößend. Der Doktor kam, und der übliche furchtbare Zirkus begann. Fiebermessen ist kein Problem, aber versuch mal, herauszufinden, ob er irgendwo Schmerzen hat. Der Doktor fragt: Tut dies weh? Das nimmt er auf und spricht halb und halb singt er: Weh! Weh! Weh! Ohne Ende! So wie er es mit dem Wort Suze gemacht hat. Das hast du ja gehört. Nicht, weil ihm etwas wehtut, sondern nur, weil er das Wort wiederholen kann. Jedenfalls denken wir das. Aber vielleicht hat er auch Schmerzen. Es ist hoffnungslos. Nicht festzustellen, ob er Schmerzen in der Lunge hat. Der arme Doktor hat getan, was er immer tut. Er hat Hubert Blut abgenommen und ihm für alle Fälle ein Antibiotikum gespritzt. Morgen kommt er wieder.

Das ist furchtbar. Schrecklich hart.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart. Es geht schon so lange so, und es hört einfach nicht auf. Demenz bringt niemanden um. Aber man stirbt, wenn man nicht mehr schlucken kann. Eine Infektion – damit haben wir es womöglich jetzt zu tun. Hoher Blutdruck und ein Schlaganfall. Krebs. Aber Hubert ist offenbar bei bester Gesundheit, und bestimmt wird er nicht von einem Bus überfahren, er wird auch nicht von einer Leiter fallen oder vom Pferd stürzen.

Ich nickte. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Wir aßen lange schweigend. Dann fiel mir ein, was ich sie fragen konnte.

Wie sieht denn dein Alltag aus, wenn kein Notfall eintritt?, fragte ich. Auch das kann ich mir schwer vorstellen.

Eine Ödnis, Hugo. Eine Ödnis. Manchmal kommt es mir vor, als wären Hubert und ich Gefangene in einer Strafkolonie für zwei Personen. Was ich zu tun habe? Ich achte darauf, dass der Haushalt wie ein Uhrwerk läuft. Da ist gute Organisation nötig. Jemand, der jetzt nicht mehr da ist und mir keine albernen Ratschläge mehr gibt, hat mich einmal gefragt: Warum engagierst du nicht einen Super-Butler, der alles erledigt? Ja, warum eigentlich nicht? Erstens, weil es solche Butler nur im Fernsehen gibt. Und wenn ich doch einen fände, müsste ich ihn überwachen. So wie es jetzt ist, überwache ich die drei Pfleger, die jeweils eine Acht-Stunden-Schicht haben, und eine Vertretung, die immer in Rufbereitschaft ist, außerdem die Haushaltshilfen, vier davon allein in Paris. Und dann haben wir auch noch das Haus im Poitou, das ist ein wunderschöner Bau aus der Zeit Ludwigs XIII., das erst nach vielen Arbeiten bewohnbar wurde. Mein Notar und der Vermögensverwalter sagen, ich solle es verkaufen. Ich bin Huberts Vormund und einzige Erbin und könnte es schon morgen zum Verkauf anbieten, aber die Schwester und deren Kinder würden Zeter und Mordio schreien. Zeter und Mordio, warum? Selbst wenn Hubert nicht dement wäre, könnte er ihnen weder das Château noch sein Vermögen vererben. Alles ist in unserem Ehevertrag festgelegt. Der Anwalt meines Vaters hat ihn mit Huberts Anwalt ausgehandelt, aber mein Vater hatte das Heft in der Hand. Er hat eine Nase für Geschäftliches und für Leute. Hubert hat er durchschaut und dich auch. Trau l'Amerloque nicht, hat er gesagt, der meint vielleicht, dass er dich liebt, aber du bist nicht sein Genre, er wird dich fallenlassen wie ein gebrauchtes Kleenex. Was er über Hubert gesagt hat, werde ich nicht wiederholen. Wie sich zeigte, hatte Hubert überhaupt nichts dagegen, seine Schwester und ihre Kinder zu enterben. Wir dachten, es sei sogar ein Spaß für ihn. Er kann sie nicht leiden. Du könntest fragen, warum sie sich um ihn bemühen, wenn er doch gar nichts für sie tun kann? Weil sie dämlich sind. An Huberts Geld kommen sie nur, wenn ich vor ihm sterbe. Daran müssen sie die ganze Zeit denken. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie mich ermorden ließen.

Wir hatten den Wein fast ausgetrunken.

Was ist das für ein Wein?, fragte sie.

Cos d'Estournel, Jahrgang 2009, sagte ich ihr.

Können wir noch etwas mehr davon bestellen? Mit ein bisschen Käse dazu? Findest du das vernünftig?

Das klang schon mehr wie die Jeanne, die ich kannte. Nein, finde ich nicht, sagte ich, aber wir tun's.

Wie auch immer, das Haus im Poitou möchte ich nicht verkaufen, fuhr sie fort. Dort war Hubert am glücklichsten, und er sei immer noch glücklich, sagen die Pfleger, wenn wir im Sommer hingehen. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder was es heißen soll, dass er glücklich ist, aber es ist eine hübsche Vorstellung. Sie bringen ihn in den Rosengarten. Nachmittags sitzt er auf der Terrasse. Seit er das Anwesen von einem Suze-Onkel geerbt hat, hielt er die Hunde für die Hetzjagd dort, und ziemlich bald wurde er zum Jagdherren ernannt. Als er richtig krank wurde, ließ ich die Jagdhunde an einen anderen Ort bringen, es wäre lachhaft gewesen, sie zu behalten, aber die Pfleger behaupten, manchmal ahme er Hundegebell nach, schüttele den Kopf und mache ein fragendes Gesicht. Die Jagdzeit für chevreuil, Damwild, beginnt Mitte September. Wir bleiben immer bis zur ersten Oktoberwoche, manchmal bis zum fünfzehnten, denn wenn Hubert da ist, reitet die Jagdgruppe zu unserem Haus. Sie stellen sich im Halbkreis im Hof auf, und die Jagdhörner spielen die Signale, die Hubert immer am liebsten gehört hat, sagt der Weidmann, ein alter Dienstbote, den Hubert immer wie einen Bruder behandelt hat. Les Honneurs, La Saint-Hubert, du weißt schon. Es ist rührend und wirklich sehr schön, und ich könnte es Hubert nicht wegnehmen.

Du bist wirklich sehr großmütig, murmelte ich.

Ach, Unsinn. Die Erhaltungskosten sind kein Problem. Hubert ist wirklich reich, und ich bin es eines Tages wahrscheinlich auch. Wenn mein idiotischer Bruder das Unternehmen nach dem Tod meines Vaters nicht ganz und gar abwirtschaftet. Kummer macht es mir, die Show in Gang zu halten, wenn sie für das Publikum ganz unsinnig wird. Ich meine, niemand kann wissen, was in Huberts Kopf vorgeht. Diese totale Vergeblichkeit. Wie soll man zum Beispiel herausfinden, ob er La Marseillaise von La Saint-Hubert unterscheiden kann? Und dann meine unsägliche Einsamkeit.

Wenn es um Essen und Trinken ging, war sie noch die alte Jeanne. Nach dem Käse aßen wir eine Pflaumentorte. Als der Kaffee gebracht wurde, hatten wir die Weinflasche geleert.

Sollen wir einen Kognak trinken?, fragte ich. Ich möchte noch so viel mehr wissen.

Ich möchte dir alles erzählen, aber trinken wir den Kognak doch zu Hause.

Ich verbarg meine Überraschung und Freude, und als ich den Kellner bitten wollte, uns ein Taxi zu rufen, sagte sie: Schon gut, mein Wagen steht draußen.

So war es. Der Mann im schwarzen Anzug, der mir die Tür aufgemacht hatte, als ich Jeanne besuchte, trug jetzt eine schwarze Chauffeursmütze. Sobald er angefahren war, kam mir Jeanne näher und nahm meine Hand.

Ich möchte, dass du mit mir nach Hause kommst, Hugo, sagte sie, ich möchte mich mit dir betrinken, aber passieren wird nichts. Es wird nicht wie bei unserem ersten Mal. Du weißt, dass das nicht geht.

Die riesige Wohnung war dunkel und still. Das Grab ist ein heimeliger Ort, grübelte ich, Doch unumschlungen schläfts sichs dort. Sie führte mich in die Bibliothek und zeigte auf das Sofa. Das hieß wohl, dass ich mich dort hinsetzen sollte. Ich bin gleich wieder da, flüsterte sie.

Der Mann in Schwarz erschien wieder, minus Mütze, verkündete mit Grabesstimme: Delamain XO 61, und schenkte mir ein. Der Duft des Drinks verriet die bemerkenswerte Qualität. Ich stellte das Glas auf dem Couchtisch ab und wartete. Langsam verstrichen die Minuten – zehn, fünfzehn? Ich hatte nicht auf die Uhr gesehen –, und Jeanne kam oder glitt vielmehr in den Raum. Der Mann in Schwarz folgte und schenkte ihr ein.

Danke, Georges, das ist alles. Sie können die Flasche auf dem Tisch stehen lassen. Monsieur Gardner bringe ich selbst hinaus und lösche die Lampen.

Sie hatte sich umgezogen. Sie trug einen zweiteiligen Jerseyanzug und Ballerinas.

Du wunderst dich, lachte sie. Meine alten Kleider passen mir immer noch, der Smoking zum Beispiel, aber richtig bequem sind sie nicht mehr. Das waren sie natürlich auch nie. So gesehen, habe ich mir meine Figur ziemlich gut erhalten. Fitnessstudio, immer wieder Fitnessstudio, und Reiten, als wir noch Pferde hielten. Ich hätte die Treibjagd mitreiten können oder den Jägern folgen, aber ich habe es nie über mich gebracht, die armen kleinen Tiere zu hetzen und zu töten und von den Hunden reißen zu lassen. Hast du den Kognak probiert?

Ich habe auf dich gewartet.

Jetzt musst du nicht mehr warten. Sie setzte sich dicht neben mich auf das Sofa, hob ihr Glas und stieß mit mir an. Er ist wunderbar, meinst du nicht?

Ja, konnte ich gerade noch sagen. Ihr Körper strahlte Hitze aus.

Nimm doch noch einen Schluck. Wir haben die ganze Flasche zur Gesellschaft. Wenn du willst, kannst du nachsehen, was aus meiner Figur geworden ist. Nur zu. Unter diesem Anzug habe ich nichts an. Aber denk dran: Wie in New York wird es nicht sein.

Lag es daran, dass sie keine Kinder gehabt hatte? An all diesen Fitnessübungen? An einem außergewöhnlich aktiven Stoffwechsel, wenn man bedachte, wie gern sie aß und trank? Ihr Körper war in der Tat erstaunlich wenig verändert, und wie früher kam alles erstaunlich schnell in Gang. Sie spreizte die Beine. Ich kniete mich dazwischen und streifte ihr die Hose ab. Sehr schnell und heftig kam der Orgasmus. Gönn ihr eine Pause, dachte ich, lass ihr etwas Ruhe, und streichelte ihr einige Minuten lang nur Schenkel, Po und Bauch. Als ich sie wieder mit dem Mund berührte, folgte ein neuer Orgasmus, langsamer, aber länger andauernd und lustvoller, meinte ich. Wieder ließ ich ihr Zeit zum Ausruhen, aber diesmal griff sie nach meinen Ohren und zog mich sanft aufwärts.

Jetzt setz dich, sagte sie, ich bin an der Reihe. Sie streifte ihr Oberteil ab, sagte, ich solle die Hose herunterlassen und mich zwischen ihre Brüste schmiegen. Dann nahm sie mich in den Mund.

Komm jetzt hoch, befahl sie, und sei ganz still. Durch die Tür dort – sie zeigte mit dem Finger – geht es ins Bad, wenn du dich waschen möchtest.

Jeanne, flüsterte ich, warum lässt du mich nicht in dein Bett? Ich bin schon mehr als glücklich, aber wir könnten noch glücklicher sein. Bitte!

Sie schüttelte den Kopf. Das will ich nicht. Dies habe ich gewollt. Dir hat es auch gefallen. Sei kein Nimmersatt. Mehr zu machen würde uns im Moment mehr Lust verschaffen, aber ich bliebe danach sehr unglücklich zurück.

Ich wusch mir das Gesicht, brachte meine Kleider in Ordnung und ging zurück in die Bibliothek. Sie war verschwunden, kam aber wie erwartet gleich wieder, mit gekämmten Haaren und strahlenden Augen.

Du bist ein Schatz, Hugo, sagte sie, ich bin sehr, sehr glücklich, dass du mich besucht hast.

Dann sind wir wieder Freunde?

Natürlich, du Spinner. Was denn sonst?

Dann habe ich eine Idee. Du sagst, du hast ein einsames Leben. Mir geht es genauso. Wie wäre es, wenn ich mir eine kleine Wohnung in Paris nehme, irgendwo nicht weit von hier, und wir einander Gesellschaft leisteten? Nichts Schwergewichtiges oder Verpflichtendes. Einfach nur jemanden haben, einen alten Freund, mit dem man reden, in die Oper oder Konzerte gehen oder lange Spaziergänge machen kann. Und von Zeit zu Zeit auf dem Sofa schmusen wie Teenager. Nur dass Teenager keinen Oralsex praktizieren, glaube ich.

Du bist so altmodisch, lieber Hugo! Alle Teenager machen das jetzt. Aber meine Antwort ist wahrscheinlich ein Nein. Es wäre zu artifiziell. Du gehörst nicht nach Paris, nicht ohne eine Arbeit, und du bist zu alt, um noch Arbeit zu finden. Ich habe Arbeit, einen Vollzeitjob – auf Hubert aufpassen und sein Haus in Betrieb halten –, und dieser Job steht an erster Stelle. Damit bestünde ein fatales Ungleichgewicht zwischen uns. Du wärst am Ende gelangweilt und überzeugt, ein schlechtes Geschäft gemacht zu haben. Bitte, sag nichts dagegen. Verdirb nicht die Stimmung. Ich brauche einen Kognak und du auch, und ich möchte auf deinem Schoß und in deinen Armen sein.

Ich tat ihr den Gefallen, und noch einmal prosteten wir einander zu.

Willst du mich nicht streicheln?, beschwerte sie sich.

Ich steckte meine Hand unter ihr Oberteil. Der Nippel wurde hart. Schon besser, erklärte sie mir.

Jeanne, sagte ich, Hubert ist schon so lange krank. Kann es sein, dass euer Eheleben, also der Sex, noch funktioniert?

Was für ein Esel du bist, lachte sie, hör nicht auf, mach weiter, und ich erzähle dir alles. Weißt du, nicht alle Männer sind so wie du, nicht alle wollen auf der Stelle ins Bett hüpfen und so. Nicht lange nachdem ich Hubert geheiratet hatte und als wir herausgefunden hatten, dass er keine Kinder zeugen konnte, er hatte wohl Mumps gehabt, wurde mir klar, dass ich bei ihm erst an zweiter Stelle kam. Seine wahre Leidenschaft waren die Pferde und dann und wann ein Pferdeknecht. Versteh mich nicht falsch. Er war kein bekennender Schwuler. Jedenfalls hatte er nie eine dauerhafte Affäre. Auch hat er immer noch mit mir schlafen wollen. Selten. Das ist alles. Wenn ihn etwas erregte, war nicht unbedingt ich der Grund. Denkwürdig waren diese seltenen Gelegenheiten nicht, muss ich sagen. Ich musste ihn immer vorbereiten. Ohne Hilfe schaffte er es nicht. Manchmal brauchte er eine Menge Hilfe. Dann machte ich die Beine breit, er erledigte sein Ding, und das war's dann. Ich habe immer darauf geachtet, genug Gleitmittel zur Hand zu haben. Er hat mich nie vorbereitet. Immer nur eine Einbahnstraße. Geschnarcht hatte er seit eh und je, aber das Schnarchen schien mir schlimmer und schlimmer zu werden, bis ich das Konzert eines Nachts auf Tonband aufnahm und ihm am Morgen vorspielte. Er war entsetzt und entschuldigte sich wieder und wieder. Das ist eine Seite Huberts, die man verstehen muss. Er ist von Grund auf höflich. Vielleicht ist es deshalb so leicht, jetzt mit ihm umzugehen. Jedenfalls lieferte mir das Schnarchen den guten Grund, den ich brauchte, um getrennte Schlafzimmer vorzuschlagen. Er widersprach nicht, und die ehelichen Begegnungen nahmen einen zeremoniellen Charakter an, der am Hof Ludwigs XIV. nicht fehl am Platze gewesen wäre. Das also ist das Familienleben der Madame la comtesse de Viry! Genau das, was sie sich erhofft hatte.

All die Jahre lang? Wie hast du das nur ausgehalten?

Mehr, mach weiter, murmelte sie.

Ich hatte erst ihren einen, dann den anderen Nippel massiert.

Nein, irgendwann, vor einer Ewigkeit, habe ich mir einen Liebhaber genommen. Es ist wirklich lange her, wollte ich sagen. Vielleicht dreißig Jahre. Einen richtig altmodischen Liebhaber mit Stil und Distinktion und einer Garconnière, in der wir uns treffen konnten. So alt wie du oder ein paar Jahre jünger. Bewegte sich in den vornehmsten Kreisen der französischen Gesellschaft. Das würde dir sein Name sofort sagen. Vielleicht kennst du den Mann sogar. Natürlich verheiratet, natürlich mit einer äußerst frommen Frau, die jeden Morgen zur Messe ging und nicht im Traum an eine Scheidung dachte. Und natürlich wusste sie von uns, aber das änderte nichts. Hubert hat es auch gewusst. In unserem Milieu war es kein Geheimnis, und ich bin schockiert, dass dir Jacques nichts davon erzählt hat. Vielleicht ist er doch nicht so eng vernetzt, wie er meint. Es war ein gutes Arrangement. Ob es mich glücklich gemacht hat? Glück ist ein schwieriges Wort. Ich glaube, ich war glücklich, bis er mich eines schönen Tages, ungefähr vor sechs Jahren, abserviert hat. Einfach so, genau wie du mich abserviert hast, mein lieber Hugo, und sich mit einer dreißig Jahre Jüngeren einließ, die wir alle kennen.

Was für ein mieser Kerl, wollte ich schon sagen, besann mich aber noch rechtzeitig, beschränkte mich auf einen neutralen Kommentar und sagte, das ist ja eine schöne Geschichte. Guter Stoff für eine Komödie aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Es kommt noch besser, sagte sie. Vor ein paar Jahren hat die junge Schönheit ihn für einen russischen Milliardär sitzen lassen! Einen verheirateten russischen Milliardär. Kannst du dir das vorstellen?

Kichernd rutschte sie von meinem Schoß herunter. Als Nächstes schüttelte sie ihre Trainingshose ab und sagte, Hugo, Lieber, mach nochmal, was wir vorhin gemacht haben.

Diesmal bot sie keine Revanche an, und ich unternahm nichts, sie dazu aufzufordern. Ich war mir nicht sicher, ob es funktionieren würde. Sie verlangte einen Kognak und tadelte mich, als ich mir nur einen Tropfen eingoss. Betrunken war ich nicht, aber ich hatte das Gefühl, mein Gleichgewicht sei in Gefahr, so dass ich womöglich nicht mehr gerade gehen könne. Jeanne schnurrte auf eine Weise, die mir in den Ohren klang, als sei sie herrlich beschwipst.

Vielleicht sollte ich gehen, sagte ich. Du hast mich sehr glücklich gemacht. So glücklich war ich lange nicht mehr.

Das stimmte.

Zur Antwort küsste sie mich auf den Mund. Sie sei ebenfalls glücklich, erklärte sie. Glücklich und zufrieden.

Glaubst du, du kommst wieder?, fragte sie.

Meinst du morgen? Bevor ich aus Paris abreise? Soll ich meinen Aufenthalt verlängern? Willst du mir erlauben, meinen Plan auszuführen? Eine Garçonnière wollte ich schon immer haben.

Nein, Hugo, Schatz, sagte sie. Dazu kann ich nicht ja sagen, nicht heute Nacht, mir war wirklich ernst mit dem, was ich vorhin gesagt habe. Ich wollte wissen, ob du wieder nach Paris kommst, bevor Jahre vergehen.

Ja, erwiderte ich. Oft. In ein paar Monaten. Auch früher, wenn du es dir anders überlegst. Und jetzt muss ich gehen.

Sie bot mir an, ein Taxi zu rufen, das lehnte ich ab. Die Nacht war klar und windstill. Ich ging durch die Rue Solférino zum Boulevard Saint-Germain, folgte ihm bis zur Rue Bonaparte und ging auf dieser Straße bis zur Rue Cassette und zu meinem Hotel. Allzu sicher auf den Beinen war ich nicht, aber ich passte auf, dass ich nicht schlurfte, hob die Füße und schaffte es, nicht zu stolpern und nicht zu fallen. Auf unseren langen Fahrten über Land, bevor die autoroute die Fahrzeit nach Avignon drastisch verkürzte, hatte Jacques Legrand mit seinem feinen Bariton unaufhörlich einen Song von Georges Moustaki gesungen. Der Refrain fiel mir wieder ein, und ich begann, ihn zu summen: il est déjà demain, passe, passe le temps, il n'y en a plus pour très longtemps …