Mein abwartend beobachtender Urologe – ob ich Dr. Klein als meinen Urologen oder Onkologen bezeichnen sollte, ist mir noch nicht klar – schien auch ein Auge auf mein Kommen und Gehen zu haben. Einen Tag nach meiner Ankunft in New York erhielt ich von der Klinik eine E-Mail mit der Aufforderung, mich auf ihrer Webseite einzuloggen, um eine Nachricht von Dr. Klein zu lesen. Ob ich meinen Benutzernamen und mein Kennwort wisse? Nein, wusste ich nicht, aber ich hatte die Seite der Klinik aufgefordert, beide zu speichern. Erleichtert, dass ich nicht verpflichtet war, die Verrenkungen durchzuführen, die nötig waren, um erst die eine, dann die andere Angabe wiederherzustellen, kam ich zum Nachrichtenzentrum, oder wie immer es hieß, und erfuhr, dass ich die Sekretärin des Arztes anrufen und mir einen Termin geben lassen solle. Ich tat wie geheißen und wurde von der Dame informiert, dass ich mich am nächsten Tag um acht Uhr dreißig in der Klinik einfinden solle. Der Griesgram in mir wünschte zu fragen, warum die Klinik es für nötig befunden habe, mir eine E-Mail zu schicken, die mich zwang, mich zu ihrer Webseite durchzukämpfen, obwohl ein Anruf bei mir genügt hätte und mir Zeit und zwanzig Minuten unnötiger Irritation erspart hätte. Ich brachte den alten Kerl zum Schweigen. Die Sekretärin war eine nette Dame; nicht sie, sondern ein paar hochbezahlte Computerfreaks in der Abteilung für Internettechnik der Klinik hatten dieses idiotische System erfunden, und mein Eigeninteresse forderte, dass ich auf gutem Fuß mit ihr blieb.
Es kam, wie ich schon halb erwartet hatte: Der Doktor war im Begriff, das vorzunehmen, was er so höflich eine Prozedur nannte! Als er meine Überraschung bemerkte, fragte er, ob man mir nicht gesagt habe, dass wir diese heute Morgen durchführen würden. Nein, aber das war in Ordnung, die Army hatte mich viele nützliche Maximen gelehrt, »kämpf nicht gegen das Problem an« war eine davon. Ob ich eine Betäubung wünsche? Eigentlich nicht, fangen wir an!
Nachdem ich mich im Anschluss ausgeruht und einen Feigenkeks und Cranberrysaft zu mir genommen hatte, erläuterte der Doktor seine Befunde.
Keine Anzeichen für Metastasen, erklärte er mir, aber das muss ich anhand der Aufnahmen, die wir gemacht haben, genauer prüfen. Was ich jetzt sage, beruht nur auf dem, was ich während der Prozedur auf dem Bildschirm gesehen habe.
Ah ja, ich hatte ihn aus dem Augenwinkel beobachtet, wie er Gesichter schnitt und vor sich hin summte, während er auf den Schirm starrte und die Bewegungen des torpedoartigen Gegenstandes lenkte, den er in mir hin und her schob.
Das heißt nicht, dass Sie hurra rufen und nichts tun sollten, Hugo, fuhr er fort. Wenn Sie nichts tun, stehen die Chancen schlecht für Sie. Wenn Sie mit der Behandlung jetzt anfangen, kann Ihr Krebs geheilt werden. Wie sieht es aus, Hugo?
Der Mann war mir sympathisch geworden, und ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und nicht den Anschein erwecken, ich würde seinen Rat nicht ernst nehmen. Das erste Risiko war gering, merkte ich. Das zweite war nicht zu vermeiden. Ich hatte mich entschieden.
Sie haben alles ausgezeichnet erklärt, sagte ich, und dafür bin ich sehr dankbar, aber ich möchte mich wirklich nicht auf eine Radiotherapie einlassen. Meine Heilung könnte das Vorspiel zu anderen Krankheiten und neuen Dilemmata sein. Würfeln wir. Wir wissen beide, dass es, egal was wir tun, immer an der gleichen Stelle endet.
Entschuldigen Sie, Hugo, aber das ist nihilistischer Quark. Warum sagen Sie nicht gleich, dass Sie das Leben leid sind und Selbstmord begehen möchten?
Ich hätte den Kopf schütteln, ihm danken und nach Hause gehen können, aber ich hatte das Bedürfnis, mich verständlich zu machen. Dass er meinte, ich sei verrückt oder respektlos, wollte ich wirklich nicht.
Weil es einfach nicht wahr ist, erwiderte ich. Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin nicht lebensmüde. Ich liebe das Leben, auch wenn ich einsam und oft unglücklich bin. Aber ich möchte nach meinen eigenen Maßstäben leben. Das heißt, denk- und urteilsfähig sein, mich ohne Rollator oder Rollstuhl bewegen können. Chronische Kreuzschmerzen und die Beschwerden in dem einen oder anderen Gelenk, die kommen und gehen, bin ich gewohnt, aber mit starken Schmerzen möchte ich nicht leben. Hört sich das nicht sinnvoll an?
Er würdigte mich keiner Antwort.
In dem koscheren Restaurant ein paar Blocks nördlich der Klinik aß ich ein unverschämt großes Roggenbrot mit scharfgewürztem Pastrami und trank ein Bier. Das war eine Leckerei, auf die ich mich freute, nach jedem Termin bei Dr. Klein oder dem reizenden Arzt, der Steroide in die Nähe meines Rückgrats pumpte. Halb drei Uhr nachmittags. Ich rief Gloria an, die sich um mein Haus in Bridgehampton kümmerte, sagte ihr Bescheid, dass ich aufs Land führe, und bat sie, das Haus zu öffnen, die Heizung auf zwanzig Grad zu drehen und Orangensaft, Brot, Butter und Eier zu besorgen und in den Kühlschrank zu stellen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, glaubte ich, noch immer in einem lange vergessenen glücklichen Traum verloren zu sein. Gloria war fleißig gewesen, hatte Möbel gewachst, Bücher entstaubt und in allen Ritzen und Winkeln Staub gesaugt. Das Haus roch sehr gut. Der Tag war kalt und sonnig. Nach dem Frühstück streifte ich durch den Garten. Er war perfekt aufgeräumt, wie das Haus, alles sauber geharkt und auf den Winter vorbereitet. Telefon und Internet funktionierten. Statt auszugehen und die Zeitung in Bridgehampton zu kaufen, las ich die Presseberichte auf meinem Laptop. Der schlechte Traum, der Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab, war Realität. Ich hatte vorgehabt, zum Lunch in die Candy Kitchen zu gehen, änderte meine Meinung aber. Es war zu gemütlich im Haus. Ich aß Rührei, spülte das Essen mit einer halben Flasche Chianti hinunter und war Gloria dankbar, dass sie unaufgefordert Trauben und McIntosh-Äpfel gekauft hatte. Der Abwasch konnte warten. Mein Mittagsschlaf nicht. Ich ging ins Schlafzimmer hinauf, putzte mir die Zähne, zog mich aus und kroch unter die Bettdecke. Ich hatte Glück, dass ich ein so schönes Haus besaß, voller Gegenstände, die ich liebte, dass ich nach vielen Wochen wieder dorthin zurückkommen konnte und alles vorfand, wie es sein sollte, ohne dass je eine unangenehme Überraschung auf mich wartete. Der Abschied von dem Haus würde mir schwerfallen.
Das Telefon klingelte kurz vor neun und weckte mich. Sonst hätte ich vielleicht durchgeschlafen bis zum Morgen oder so lange, wie es nächtliche Beinkrämpfe und Harndrang zuließen. Es war Roddy.
Ich bin froh, dass ich dich erreiche, Dad, sagte er, du hast ein paar Nachrichten hinterlassen und gesagt, du würdest zurückrufen, das hast du aber nicht getan. Jedenfalls bist du wieder da. Hattest du es gut? Alles in Ordnung mit dir? Warum hast du nicht zurückgerufen wie versprochen?
So viele Fragen! Zurückgerufen habe ich nicht, erstens, weil ich dachte, dass du sehr beschäftigt bist, und dann beschlossen habe, zu warten, dass du anrufst, wenn du Zeit hast. Ja, ich bin wieder da. Ja, ich hatte es gut. Es geht mir nicht schlecht, aber ich bin todmüde. Was für eine Entdeckung!
Du solltest Schlaf nachholen. Jetlag!
Ich habe geschlafen. Und wenn wir auflegen, schlafe ich vielleicht weiter. Aber erst möchte ich hören, was es Neues gibt.
Er erzählte mir, dass der neue Job sich gut anließ – bis jetzt –, dass die Kollegen nett, sein Büro komfortabel sei. Er sei froh über den Wechsel. Carla und den Kindern gehe es gut. Thanksgiving hätten sie mit Mom gefeiert, die ganze Bande. Ein großer Spaß.
Das höre ich gern, sagte ich, und fragte nach Barbara.
Wie immer, sagte er. Regt sich schrecklich auf, dass der Countryclub neuerdings billige Teilmitgliedschaften anbietet. Ganz außer sich ist sie. Dr. De Graff kam mit ihr. An dieser Front ist anscheinend alles ruhig, den Eindruck hatte ich jedenfalls. Ehrlich, Dad, deine Tochter, meine Schwester, wird nicht gescheiter. Vielleicht ist irgendwas Verkehrtes im Wasser von Wellesley. Moms selbsternannter Champion! Eine Countryclub-Betriebsnudel! Wann kommst du wieder in die Stadt? Ich würde dich gern sehen. Oder vielleicht möchtest du herüberkommen und mit Carla und den Kindern essen? Das wäre toll, besonders, wenn du es am Wochenende einrichten kannst.
Das ist seit langem die beste Idee, die ich gehört habe, erwiderte ich. Ich gebe dir Bescheid wegen des Wochenendes.
Viertel nach neun. Das Gespräch hatte mich aufgeheitert, und ich war hungrig. Wahrscheinlich war es zu spät, in Sag Harbor zum Dinner zu gehen. Ich fuhr nach Bridgehampton, fand einen Parkplatz und bekam einen Tisch im Steakhaus an der Hauptstraße. Der Lärm hätte jeden Versuch einer Unterhaltung unmöglich gemacht, aber ich wollte mit niemandem reden. Alles, was ich wollte, war ein nur leicht angebratener Hamburger und Rotwein. Beide stellten mich zufrieden, aber es dauerte lange, bis sie serviert wurden. Während ich wartete und an einem Bourbon auf Eis nippte, dachte ich noch einmal über mein letztes Gespräch mit dem Urologen nach. Ich liebe das Leben, hatte ich ihm erklärt. Stimmte das? Wie immer, wenn ich seit Valeries Abschied über mein Leben im Großen und Ganzen nachdachte, drängten sich mir zwei große Kümmernisse auf. Erstens der Kummer, Nacht für Nacht allein im Bett zu liegen und an die vielen Jahre zu denken, da ich Valerie vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen gestreichelt hatte, immer im Glauben, dass sie mich genauso gernhatte oder liebte, wie ich sie liebte. Nicht so sehr, weil ich den Sex vermisst hätte, obwohl ich den sehr gern fortgesetzt hätte, sondern vor allem, weil sie nicht mehr da war, trauerte ich. Zweitens Kummer über mein Versagen als Vater und Großvater. Rod und ich kamen ungefähr so gut miteinander aus wie mein Vater und ich: freundliche, aber nicht eigentlich liebevolle Begegnungen und das Gefühl, dass ich mich in einer Notlage auf ihn verlassen konnte. Dass er auf mich zählen konnte, war selbstverständlich. Barbara? Ihr Benehmen verwirrte mich, ich konnte mich nicht erinnern, wann oder mit welcher Handlung oder Unterlassung ich sie dermaßen gekränkt hatte. Konnte ich es irgendwie wieder gutmachen? Das bezweifelte ich. Falls es ein Heilmittel gab, würde Rod es kennen, und er hätte mir bestimmt gesagt, was zu tun sei. Vielleicht war sie besessen. Ich konnte mir vorstellen, wie einer oder mehrere unserer puritanischen Vorfahren, die am Ende des siebzehnten Jahrhunderts Siedler an der North Shore der Massachusetts Bay Colony gewesen waren, mit einem knochigen, krummen Finger auf sie zeigten und wisperten: Oh, das arme Geschöpf wird vom Bösen in den Wahnsinn getrieben. Was mit meinen Enkelinnen geschehen war, glaubte ich zu verstehen. Barbaras hysterischer – kein anderes Wort passte – Zorn auf mich machte mir Beziehungen zu ihren Kindern so gut wie unmöglich. Dazu kam, dass Valerie eine hyperaktive Großmutter war. Auch als wir noch zusammen waren, hatte sie mir keinen Raum gelassen und keine Rolle gegönnt. Jetzt, da ich allein war, wusste ich nicht, wie ich mir eine schaffen sollte. Vielleicht ließ sich das ändern.
Nun kam der Wein. Ich hatte einen Napa Valley Syrah bestellt. Der Kellner entkorkte die Flasche. Ich kostete und sagte: Bitte, schenken Sie ein. Nein, ich wurde nicht betrunken oder gar high, aber ein unbestreitbares Glücksgefühl überkam mich. Ich hatte den Arzt nicht angelogen. In meinem Hauptbuch fanden sich Seiten über Seiten, auf denen nichts als Freuden und Annehmlichkeiten eingetragen waren. Was für Freuden? Eine bescheidene, nicht mit großartigen Kenntnissen oder Ambitionen verbundene Liebe zur Natur. Ganz einfach Freude an meinem Garten, an dem Lebenswillen und der herkulischen Kraft bestimmter blühender Büsche, vor allem Rhododendren; an den begeisterten Besuchen der Goldfinken und Kardinäle im Vogelhäuschen, Wanderungen an den Atlantikstränden in Bridgehampton und Sagaponack, an Erinnerungen daran, wie ich in die Brandung eingetaucht war, an das Schreiben, wenn es gut läuft, an bestimmte Bücher und Opern, und, sehr zuverlässig, an gutes Essen und Trinken. Die besten Dinge im Leben sind gratis … Nein, in meinem Fall kosteten sie eine ganze Menge Geld, aber ich dachte, daran würde es mir nicht fehlen, ganz gleich, was diese außer Rand und Band geratenden Zellen anstellten, bevor die gefürchtete Schere mir den dünnen Lebensfaden kappte. Wenn diese kajolenden Krebszellen (die Alliteration brachte mich zum Lachen) eine Spur Freundlichkeit besaßen und wussten, was für Roddy und Barbara gut war, würden sie bestimmt bald einen Gang zulegen!
Ich beschloss, Kaffee zu Hause zu trinken, bat um die Rechnung, zahlte und stieg ins Auto. Du bist ein komischer Kauz, sagte eine Stimme. Du bist glücklich, genauer gesagt, meist glücklich, aber du hast es abgelehnt, dich einer Behandlung mit guter Aussicht auf Heilung zu unterziehen. Der Doktor hat dich nicht gefragt, warum, aber ich frage: Wie geht es dir jetzt, wo du dabei bist, dieses Leben aufzugeben, dich auf etwas einzulassen, das wie ein Selbstmordvertrag aussieht? Das ist eine gute Frage, antwortete ich, und dies ist meine Antwort: Ich fühle unendliches Bedauern. So unendlich wie der Ozean. Ich bin wirklich gern hier. Ich möchte bleiben. Ich will nicht gehen. Aber, aber, aber, wie ich dem Doktor sagte, ich will nur zu meinen eigenen Bedingungen bleiben. Die Stimme war nicht überzeugt. Hast du dir überlegt, was du tun kannst, wenn die Krebszellen sich nicht rühren, du aber einen Schlaganfall hast? Ja, wenn der Schlaganfall mich nicht ganz außer Gefecht setzt und wenn der Neurologe mich nicht überzeugt, dass die Wahrscheinlichkeit für einen zweiten Schlaganfall minimal ist, dann werde ich mich auf eine relativ schmerzlose Weise verabschieden. Als Richtlinie soll gelten: Ich will mich nicht ans Leben klammern und nicht für mich oder andere unerträglich werden.
Zu Hause zeigte der Anrufbeantworter eine neue Nachricht an. Von Roddy: Dad, ich habe vergessen, dir Bescheid zu sagen. Du musst dir heute Abend Saturday Night Live ansehen. Um elf Uhr. Da wird unser zukünftiger Präsident, dein Favorit, aufs Korn genommen. Du wirst dich kaputtlachen.
Mein Sohn ist ein sehr netter Kerl, sagte ich laut. Das dürfen wir nicht vergessen.
Viel gelacht habe ich nicht, als ich zusah, wie Alec Baldwin Trump spielte. Ich war entsetzt. Der gewählte Präsident ist so sehr mit Retweeting beschäftigt, ja mit dem Retweeting zufälliger Botschaften, dass er sich eine Information des Geheimdienstes nicht anhören kann. Ja, die Satire war brillant. Ja, wahnsinnig komisch. Aber meiner Meinung nach war es auch ohne Zweifel ein Bild dessen, was wir zu erwarten haben. Siebenundsiebzigtausend Wähler in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania hatten das Land einem eingebildeten, böswilligen Arschloch ausgeliefert.
Am nächsten Morgen um neun Uhr, als ich die Todesanzeigen in der Sonntagsausgabe der NYT durchlas, halb erleichtert, halb enttäuscht, denn noch hatte ich keinen Namen gefunden, der mir bekannt war, klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer auf und drückte den Sprechknopf, ohne auf dem Display nachzusehen, von wem der Anruf kam. Es war Penny, außer Atem schon zu dieser frühen Stunde. Sie hatte mich unter meiner Nummer in New York nicht erreichen können und versuchte jetzt ihr Glück in Bridgehampton. Ob ich am selben Abend zum Dinner zu ihr kommen würde? Nur du und ich und ein alter Freund von dir. Nein, ich sag dir nicht, wer. Ich lasse dich raten. Oder vielleicht sind wir auch zu viert, falls ich Sally Parker gewinnen kann. Acht Uhr? Merde, brummte ich vor mich hin, das will ich doch gar nicht. Nichts ist schlimmer als geheimnisvolle alte Freunde. Aber die Aussicht, Sally dort zu treffen, stimmte mich um. Ich sagte Penny, ich würde mit Freuden kommen. Ich glaube, das habe ich wirklich gesagt.
Sowie ich in Pennys Wohnzimmer kam, fand sich die Erklärung für den leicht triumphierenden Ton, den ich in Pennys Stimme zu hören meinte, als sie den alten Freund erwähnte. Mit dem Rücken zum Kaminfeuer stand Archbold Newsome, im College ein Jahr unter mir, ein Bekannter, ja, schon, aber ein Freund wohl kaum. Ich erinnerte mich, dass ich vor ein paar Jahren eine Todesanzeige für seine Frau gelesen hatte, eine Radcliffe-Studentin, die ich auch kannte; sie sei nach langem mutigen Kampf dem Krebs erlegen, hatte es geheißen. Von überlebenden Kindern hatte nichts in der Nachricht gestanden. Als auffallend reiche Erbin war sie Ziel der bühnenreifen emsigen Aufmerksamkeit einer Clique wortreicher und, wie ich fand, überspannter Epheben gewesen, allen voran Archie. Ich glaube, das Wort Homophobie kannte ich damals nicht, aber die namenlose Empfindung war, zusammen mit dem Antisemitismus unter meinen Zeitgenossen, virulent, und in der Gerüchteküche derer, die behaupteten, sich in solchen Dingen auszukennen, wurde gemunkelt, dass weder Archie noch seine Freunde sich für Mädchen interessierten. Deshalb müssten sie Mitgiftjäger sein, hieß es, eine Annahme, die, wenn man es recht bedachte, sich durchaus damit vertrug, dass Archie selbst reich war und reiche Eltern hatte. Reiche mögen andere Reiche. Dieser alte Kram tauchte ungebeten in meinem Gedächtnis auf, aus irgendeinem Speicher, in dem versauerte Trivialitäten verstaut sind, und gab mir die Grundlage für eine prompte Neueinschätzung dieses »alten Freundes«. Archie sah gut aus, viel besser als vor sechzig Jahren: Er hatte gerade genug Gewicht zugelegt, um stabil zu wirken, die Arme, die mich umfingen, zeugten von regelmäßigem Training mit Hanteln, er hatte eine gesunde Bräune, einen guten Haarschnitt und eine Tweedjacke, die mir gefiel.
Es ist viel zu lange her!, verkündete er.
Ich stimmte zu, sagte ihm, ich wisse von Lilly, sei wirklich traurig über die Nachricht gewesen und hoffe, er habe mir verziehen, dass ich ihm nicht geschrieben hatte. Zur Antwort umarmte er mich noch einmal und erklärte hastig, dass er bei einem Dinner der Hortons in der Stadt – ich hatte keine Ahnung, wer sie waren – auf Penny getroffen sei, sie am nächsten Tag zum Lunch eingeladen habe, dass es wieder zwischen ihnen gefunkt habe, et voilà! Er sei im Ruhestand, genau wie alle anderen, und einsam. Genau wie Penny! Du weißt, dass wir keine Kinder hatten, Lilly und ich. Mit Penny ist es ganz wie in alten Zeiten.
Meinen Glückwunsch, sagte ich ihm vollkommen ernst, ich wünsche euch beiden Glück.
Was immer man damals als seinen verqueren Touch verlacht hatte, war verschwunden, vielleicht die Wirkung des Alters, vielleicht nie vorhanden gewesen. Jedenfalls hatte es nichts zu bedeuten. Was ich damals über Schwule gewusst hatte, belief sich auf ein paar schmutzige Witze, die ich vergessen hatte. Bestimmt hatte ich nicht gewusst, dass auch äußerst maskuline Männer sich sexuell zu anderen Männern hingezogen fühlen können. Aber dass er sagte, »es« habe »wieder« zwischen ihnen »gefunkt«, weckte meine Neugier. Was zum Teufel sollte das heißen? Penny klärte mich beim Kaffee auf, nachdem sie mich auf eine Chaiselongue neben sich gezogen hatte. Archie werde mit ihr in Springs leben und sie mit ihm in seiner Stadtwohnung. Er hat natürlich auch das Haus in Millbrook, aber dort hält er es nicht aus. Das Haus wurde nur gebraucht, weil Lilly Pferde hielt und jagte, so lange sie konnte. Ohne sie hat es keinen Sinn. Er will es wohl verkaufen.
Jetzt musste ich ihr Glück wünschen. Wieder tat ich es in allem Ernst. Einsamkeit ist schrecklich, sagte ich. Du hast Glück. Und ihr habt keine Zeit vergeudet, Archie und du. Ist dies nicht bemerkenswert schnell gegangen? Ein echter coup de foudre!
Sie lachte, und ich glaube, sie errötete. Eigentlich nicht, flüsterte sie. Archie und ich hatten schon mal was miteinander, vor langer Zeit, als Lilly gerade krank geworden war, und weißt du … Meine Beziehung zu Dwight – je weniger man dazu sagt, desto besser. Es ist wirklich eine Heimkehr.
Penny hatte mich hinters Licht geführt, als sie sagte, wir wären nur zu dritt oder viert beim Dinner. Sie hatte noch ein anderes Paar eingeladen, den ehemaligen Botschafter in der Türkei und seine Frau. Es stellte sich heraus, dass Archie und der Botschafter enge Freunde waren, und der Zufall der Platzierung bei Tisch und die Tischgespräche verhinderten, dass ich mehr als ein paar Worte mit Sally wechseln konnte. Als wir aufstanden, sagte sie mir, sie habe sich von Uber zu Penny bringen lassen; in der Dunkelheit fahre sie nicht gern selbst, erst recht nicht, wenn sie ein, zwei Gläser zu viel getrunken habe. Ob ich sie nach Hause bringen würde? Natürlich, gern.
Ich denke, Penny hat gut für sich gesorgt, bemerkte sie, als wir im Auto saßen. Er ist vorzeigbar. Sieht gesund aus. Hat eine eigene Wohnung und besitzt ein Haus, also ist er nicht nur, weil er ein Dach über dem Kopf braucht, zu ihr gezogen. Manche Leute haben nur Glück. Ich hasse das Alleinsein, und ich bin immer allein gewesen, seit wir uns getrennt haben, der grausige Ted und ich. Was mache ich nur falsch, was meinst du?
Absolut nichts, erwiderte ich. Vielleicht bist du zu wählerisch.
Vielleicht, sagte sie. Wenigstens habe ich meinen vierbeinigen Hugo und dich, großer Vetter Hugo. Warum kommst du nicht herüber und spielst mit dem kleinen Hugo? Er ist jetzt reifer und sehr gesittet. Möchtest du morgen mit mir zu Mittag essen? Wenn du ein bisschen früher kommst, sagen wir, um zwölf, können wir vor dem Essen einen Spaziergang am Strand machen.
Alles, was ich für mein Buch tun musste, hatte ich erledigt, und ich hatte mich auf den ersten Essay für die Züricher Zeitung vorbereitet. Kein Grund, diese Einladung nicht mit Freude anzunehmen.
Danke! Ich komme.
Zum Ozean musste man von Sallys Haus nur über die Düne. Der kleine Frenchie brauchte keine Leine. Als Sally das Wort »Strand« sagte, schoss er los, und wir mussten einen Schritt zulegen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Er erledigt seine sämtlichen Geschäfte am Strand, erzählte sie mir. Nie im Garten. Das findet er ungezogen. Wenn es heftig windet oder regnet, muss ich ihn auf die Straße führen. Ein besseres Beispiel für Eleganz musst du erstmal finden!
Als das Geschäft erledigt war, sammelte Sally es mit einem Plastikbeutel auf. Auf diesem Gebiet der Etikette kannte ich mich nicht aus, verstand aber irgendwie, dass ich Sally den Beutel abnehmen und tragen musste. Beide, sie und der kleine Frenchie, gaben mir das Gefühl, dass ich das Richtige getan hatte.
Jetzt ruf ihn, Hugo, sagte Sally, mal sehen, ob er kommt. Natürlich kam er nicht, worauf sie mir ihre Hundepfeife gab und mich anwies, sie auszuprobieren und ihm eine Belohnung zu geben, wenn er kam. Das funktionierte, einmal und dann wieder. Bravo, sagte Sally, jetzt kannst du ihn auch einmal ausführen, wenn du möchtest. An diesem Strand besteht wirklich keine Gefahr. Keine Straße, auf die er laufen könnte, gar kein Risiko, und er ist zu vorsichtig, um in die Wellen zu gehen. Ach, übrigens, bist du Weihnachten hier?
Sehr wahrscheinlich, wenn es keinen Schneesturm gibt.
Dann komm zum Dinner am Weihnachtsabend oder zum Lunch am Weihnachtstag oder zu beidem. Mach nicht so ein Gesicht! Weihnachtslieder werden wir nicht singen, und falls nicht meine Söhne mich mit einem Besuch beehren – damit rechne ich nicht, glaub mir –, könnten wir gut allein sein.
Sally, sagte ich, Sally, wir kennen uns schon so lange. Du weißt, dass ich kein Typ für Feiertage bin. Hab Erbarmen!
Erbarmen ist nicht. Ich zähle auf dich. In Ordnung? Sagen musst du nichts. Nicken reicht.
Ich tat wie geheißen.
Gehst du wieder nach Paris zurück oder nach Wien oder sonst wohin?
Womöglich nach Paris, ein paar Tage im Januar. Ich weiß es noch nicht.
Na gut, aus Gründen, die ich ein andermal verrate, möchte ich dich hierhaben. Verstanden?
Als ich ihr für den Kaffee dankte und mich zum Aufbruch bereit machte, sagte sie: Warum lädst du mich nicht zum Dinner ein? Wir haben es so gut zusammen.
Ich erwiderte, liebend gern, wann denn?
Freitag?
Das ist ein scheußlicher Abend zum Ausgehen, sagte ich, der Lärm in den Restaurants ist so groß, dass ich kein Wort verstehen würde. Wäre Sonntag dir recht?
Nein, sagte sie, und schüttelte den Kopf. Ich möchte eher kommen. Am Freitag. Kannst du mich nicht zum Dinner in dein Haus einladen?
Perfekt! Wenn es dir nichts ausmacht, ein im Laden gekauftes Brathuhn oder Ähnliches zu essen.
Auf meinem Heimweg lachte ich. Eine Einladung, diesen wunderbaren kleinen Frenchie auszuführen, die Chance auf ein Dinner mit meiner schönen Cousine, die ich immer gerngehabt hatte, das ließ sich gut an für einen jämmerlichen alten Knacker wie mich, diesen zerlumpten Mantel, der am Stock geht. Vorläufig war ich mit mir zufrieden.
Am nächsten Tag nach dem Frühstück öffnete ich meinen Laptop, um neue E-Mails zu lesen, und sah, dass ich eine Nachricht von Jeanne hatte. Ich muss mit dir reden, stand darin, ich bin zu Hause.
Die Nachricht war vor einer knappen halben Stunde abgeschickt worden. Ich wählte ihre Nummer. Sie ging selbst ans Telefon.
Sie kam ohne Umschweife zum Punkt.
Hugo, ich fand, ich sollte es dir gleich sagen, und ich meine, Reden ist besser als Schreiben. Ich bin wieder mit Yves zusammen – so hieß das berühmte französische Akademiemitglied. Du weißt, dass er mich wegen einer anderen Frau verlassen hat. Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, dass sie ihn nach ein paar Jahren sitzen ließ, brutal. Inzwischen ist Yves' Frau gestorben. Er ist ganz allein und krank. Sein Herz und seine Lunge sind angegriffen. Vielleicht der Beginn eines Emphysems. Er braucht mich. Und ich liebe ihn. Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben. Die Rückkehr zu ihm hat mir klargemacht, dass die Zeit mit dir im letzten Monat eine wunderbare Ablenkung war. Das ist alles. Ich bin dir dankbar. Ich hoffe, dass du Verständnis hast – das hast du immer – und dass wir Freunde bleiben.
Ich war mir nicht sicher, was ich empfand. Dass sich unerträgliche Kopfschmerzen ankündigten? Dass ich nicht hatte verstehen können, was sie sagte? Dass ein unbestimmtes Unglück über mich gekommen war? Ich war so verwirrt, dass ich gar nichts sagte.
Hugo, du hast doch gehört, was ich sagte? Ich bin wieder mit Yves zusammen. Verstehst du?
Ich riss mich zusammen und sagte, ja, natürlich. Ich wünsch dir Glück. Wirst du Hubert verlassen?
Das kann ich nicht. Aber je nachdem, wie es um Yves' Gesundheit steht, muss ich es womöglich einrichten, dass er zu uns zieht. Das wäre so sinnvoll. Diese Wohnung ist so groß. Im Poitou steht ja ein ganzes Chateau. Da könnte er einen Flügel für sich allein haben. Das müssen wir dann sehen.
Hatte sie den Verstand verloren? Einen billigen Witz konnte ich mir nicht verkneifen:
Ein Feldlazarett, kommentierte ich langsam, im Ton einer Persiflage, mit dir als Oberschwester! Wie gesagt, viel Glück!
Du bist ein vrai salaud, ein solcher Mistkerl, schrie sie ins Telefon und legte auf.
Als sie mich das letzte Mal so nannte, schlug sie mir auch ins Gesicht. Hatte sie am Ende recht?
In der Erde versinken? In die Stadt zurückfahren, das Internet in der Wohnung ausschalten, das Telefon blockieren, mir Essen liefern lassen? Wie sollte ich meine Schande verbergen? So erschien mir der Horror dessen, was mir passiert war. Gloria konnte jeden Moment kommen. Ich wollte weder ihr noch sonst wem unter die Augen treten, ließ also das Frühstücksgeschirr stehen, sparte mir das Zähneputzen und fuhr zum Strand. Ein sehr langer Gang über den harten Sand, den ganzen Weg vom Bridgehampton Beach Club bis nach Georgica. Nirgendwo ein Mensch. Halb wünschte ich mir, Hugo oder ein anderer netter Hund wäre bei mir, aber vielleicht war es so besser. Keine Verantwortung. Niemand, hinter dem ich aufräumen musste, niemand, den ich zurückpfeifen musste, wenn er weglief, niemand, der mich anhimmelte und um einen Leckerbissen bettelte. An einer Stelle, wo der Ozean ein Riff in den Strand gemeißelt hatte, legte ich mich nieder und starrte in den Himmel. Nach einer Weile fragte ich mich, worin die Schande eigentlich bestehe. Darin, dass sie mich hatte fallenlassen wie ein gebrauchtes Kleenex, um die einprägsame Phrase ihres Vaters zu wiederholen? Und wenn schon. Sie hatte mich vor kaum zwei Monaten schamlos und unerwartet aufgesammelt. Ich hatte sie während meiner sentimentalen Reise besucht, zum Dinner eingeladen und mich dann in der Bibliothek ihres dementen Ehemannes beim Oralsex mit Madame la comtesse wiedergefunden. Für sie nichts Besonderes, inszeniert, um mich mit der Erinnerung an mein früheres Benehmen zu demütigen. Yves, das Akademiemitglied – wie hätte ich mir auch nur annähernd vorstellen können, was diese beiden verband, welche neue Bedeutung er ihrem Hungerleben mit dem Nachfahren der Kreuzritter gab? Jetzt hatte sie ihren Stolz überwunden, um Yves zurückzunehmen – ich war ein Mistkerl, wenn ich mich nicht für sie freute und ihr alles Gute wünschte wie ein wahrer Freund.
Noch ein paar solche Gedanken, sagte ich mir, und du wirst verrückt oder meldest dich freiwillig für die Arbeit in einer Leprakolonie, falls es diese Kolonien noch gibt.
Ich stand auf, drehte mich zur Düne um und urinierte mühelos und ausgiebig – wie lange werden mir diese verdammten Zellen solche schlichten Freuden noch erlauben –, fasste Tritt und marschierte zügig heimwärts. Heidi, Heidi ho! Heidi, Heidi hier! Marsch, marsch, drei vier, Krebs marschiert mit, im gleichen Schritt, marsch!
Eine lange Erfahrung im Umgang mit mir hat mich gelehrt, gute Entschlüsse prompt umzusetzen. Nicht unbedingt, weil ich meine Meinung mit einiger Wahrscheinlichkeit ändere. Eher, weil ich einfach den Antrieb verlieren könnte. Nie dazu komme, auch wirklich auszuführen, was ich mir vorgenommen habe.
In Paris war es noch so früh am Tag, dass ich meine Floristin an der Place du Palais-Bourbon anrufen konnte. Eine sehr besondere Pflanze für Madame de Viry, sehr besonders soll sie sein, aber keine Orchidee.
Ich wollte sie nicht an den Anlass meines letzten Orchideengeschenks für sie erinnern.
Ich habe einen wunderbaren weißen Azaleenbaum, sagte mir die Floristin. Ich bin sicher, dass er Madame la comtesse gefällt.
So sei es, sagte ich und diktierte, was auf der Karte stehen sollte, die zusammen mit der Pflanze geschickt wurde: Alles Gute und viel Glück von ganzem Herzen.
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Ob meine Geschichte ein Happy End hat? Schauen Sie sich um: Jedes Leben nimmt ein mehr oder weniger schlimmes Ende. Warum sollte meines eine Ausnahme sein?
Ich holte das gebratene Huhn im letzten Augenblick, damit es knusprig und noch warm war, servierte dazu Räucherlachs als ersten Gang, kalte, scharf gewürzte Nudeln zum Huhn, Muskattrauben und ein dickes Stück Stilton. Sherry-Lehmann hatte vor kurzem eine Kiste von dem Chinon geliefert, den ich gern trinke. Ich entkorkte eine Flasche und stellte eine zweite auf die Anrichte – für alle Fälle. Die Nacht war kalt. Ich machte Feuer in der Bibliothek und sorgte dafür, dass das Feuerholz im Esszimmer korrekt geschichtet war. Anzünden würde ich es, wenn wir uns zum Essen setzten. Ich wusste nicht mehr, wann ich zuletzt einen Essensgast in diesem Haus hatte. Natürlich, als Valerie noch da war. Das erklärte sicher einen Teil meiner Nervosität. Wie hätte ich meinen Zustand sonst nennen sollen. Und es war nicht zu leugnen: Ich freute mich wie ein Kind, dass der Gast meine kleine Cousine Sally war.
Sie langte zu und behauptete, alles auf dem Tisch sei genauso, wie sie gehofft habe.
Na ja, Sally, sagte ich, es hat mal eine Zeit gegeben, da ich ein gutes Dinner hätte kochen können. Vielleicht ein Steak grillen. Ich bin aus der Übung!
Während unserer Unterhaltung merkten wir beide, wie wenig ich von ihrem Eheleben wusste. Sie war schließlich ungefähr zwanzig Jahre jünger als ich! Ich war aus Paris zu ihrer Hochzeit in Boston gekommen. Das war ganz selbstverständlich gewesen. Meine Eltern lebten noch. Als ich im College war, hatte ich unzählige Male im Haus ihrer Eltern zu Abend gegessen und in meiner Internatszeit gelegentlich einen Samstag oder Sonntag mit ihnen zugebracht, wenn meine Schule uns für das Wochenende freigab. Sie war meine liebste junge Verwandte. Dann verschwand sie mit ihrem Mann an die Westküste.
Weißt du nicht, was passiert ist?, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
Ich dachte, alle wüssten es, rief sie, nach zwanzig Jahren Ehe hat er beschlossen, jetzt sei es Zeit für ihn, er selbst zu sein. Für ihn hieß das, mir zu sagen, er leide an Genderdysphorie, den Terminus benutzte er, und ich musste ihn im Lexikon nachschlagen: Geschlechtsidentitätsstörung; ihm sei klar geworden, dass er in Wirklichkeit eine Frau ist, und er werde die Transition vollziehen! Das verkünde er urbi et orbi, damit es nur ja nicht zu Missverständnissen komme, und unseren Jungen habe er es auch schon erzählt! Ich habe gesagt: Und das hast du jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, zwei Kindern und einem normalen Leben entdeckt? Ich glaube, ich habe noch schlimmer getobt und ihn zum Schluss etwas wirklich Dummes gefragt: Warum kannst du nicht einfach weiter so sein, wie du bist, und es mit Crossdressing oder so versuchen?
Und was hat er gesagt?
Er hat sich zu seiner vollen Höhe von 189 Zentimetern aufgerichtet und erklärt: Ich kann nicht länger eine Lüge leben! Da habe ich ihm dann eine riesige Venini-Vase auf dem Schädel zertrümmert. Er musste mit zehn Stichen genäht werden. Das ist natürlich gar nichts im Vergleich zu dem, was er anschließend durchgemacht hat. Nicht nur Hormontherapie und Brustvergrößerung, sondern Kastration, Entfernung des Penis und, nach Auskunft meines älteren Sohnes, auch Konstruktion einer Vulva. Kannst du dir das vorstellen? Ich meine, wenn er genagelt werden will, geht's auch anders!
Diese Geschichte ist für mich zu postmodern. Irgendwas sagt mir, wenn er sich wirklich so gefühlt hat, bist du jetzt, nachdem er gegangen ist und es getan hat, besser dran. Dass er meint, er sei jetzt auch besser dran, kann man nur hoffen.
Ich habe so viel hin und her überlegt und gegrübelt, bis ich ganz zermürbt war, erwiderte sie. Jetzt weiß ich nur noch eins: Ich bin sehr einsam. Ich habe niemanden. Sohn Nummer eins lebt in Singapur, Sohn Nummer zwei auf Hawaii. Beide sind verheiratet, haben keine Kinder. Sag's nicht weiter, aber es stimmt: Sie haben weder Ted noch mich zur Hochzeit eingeladen. Ich komme wieder auf dasselbe zurück: Ich bin einsam. Ich habe keinen unangenehmen Körpergeruch, mein Atem riecht frisch, das kann ich versprechen. Wie du siehst, gehöre ich zum Club der Teller-leer-Esser, und Tischmanieren habe ich auch. Vielleicht bin ich nicht reich genug. Es gibt Kerle, die meine Familie kennen, die über Ted Bescheid wissen und meinen, ich hätte Geld. Dann prüfen sie die Lage und finden heraus, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Und sie suchen das Weite, auch wenn sie mich flachgelegt haben.
Ich machte Kaffee mit meiner neuen Espressomaschine, und wir setzten uns in die Bibliothek.
Was für ein gutes Feuer, sagte sie, was für ein schöner Raum, was für ein guter Gastgeber! Würdest du diesem einsamen Mädchen wohl einen Brandy oder einen Single Malt Scotch Whiskey gönnen?
Ich schenkte uns beiden einen Scotch ein. Dann noch einen. Dann sagte Sally: Ich sollte nach Hause gehen, aber ich bin zu betrunken. Irgendwo in diesem schönen Haus muss doch ein Gästezimmer sein. Darf deine Cousine Sally wohl hier übernachten? Und vielleicht frühstücken?
Ich sagte, die Antwort auf beide Fragen sei Ja, und eine Zahnbürste und Zahnpasta für Gäste hätte ich, und eines von meinen L.-L.-Bean-Hemden könne vielleicht einen Pyjama ersetzen.
Schon gut, lachte sie, ich habe vorhergesehen, dass ich vielleicht um ein Nachtquartier bitten muss. Wenn du so freundlich wärst, zu meinem Auto zu gehen, Vetter Hugo, dann findest du auf dem Rücksitz eine Tasche mit allem, was ich brauche.
Am nächsten Morgen kam sie die Treppe in dem Moment herunter, als ich mit Scones, die ich zum Frühstück geholt hatte, und mit der NYT durch die Haustür trat.
Ich hab so gut geschlafen, sagte sie, deine Küche ist so schön, und es riecht so köstlich nach Kaffee und dann die Scones, die so lecker aussehen! Mehr kann ein Mädchen auf Abwegen wohl nicht verlangen.
Sie trug einen weißen Bademantel über ihrem weißen Pyjama, sah erfrischt aus wie Morgentau, vielleicht, weil sie ja offensichtlich gerade aus der Dusche kam.
Wir frühstückten schweigend, teilten uns die Zeitung. Nach der zweiten oder dritten Tasse Kaffee sagte sie, Cousin Hugo, ich möchte einen Vorschlag machen. Hör zu: Wie ich ja gestern schon viel zu langatmig beim Abendessen erklärt habe, bin ich sehr einsam. Ein sehr lästiger Aspekt meines Zustandes ist, dass ich niemanden habe, der mich irgendwohin mitnehmen kann, zu Partys und Dinners, bei denen man immer mit jemandem kommen muss, oder ins Theater oder in die Oper. Würdest du mein offizieller Beau werden? Bitte sag ja!
Aber ich kann große Cocktailpartys und Dinner nicht leiden, meine liebste Cousine Sally! Das weißt du doch.
Oh, aber ich könnte zusehen, dass solche Gelegenheiten ganz selten wären. Und du könntest auch immer nein sagen, wenn dir etwas zu langweilig vorkäme. Aber ich würde gern in der Stadt bei dir wohnen. Ich glaube nicht, dass ich jemals in deiner Wohnung war. Ich bin mir trotzdem sicher, dass du dort ein ebenso schönes Gästezimmer hast wie hier. Und ich hätte es gern, wenn du mich in der Stadt ausführtest. Ich wäre dir keine Last, Hugo, ich würde meinen Anteil immer selbst bezahlen.
Jetzt redest du Unfug, sagte ich, meine kleine Cousine Sally lade ich natürlich zum Essen oder in die Oper ein.
Dass du das sagen würdest, habe ich mir gedacht. Du bist so altmodisch. Und wenn uns danach ist, wenn wir in der richtigen Stimmung sind, könnten wir von Zeit zu Zeit kuscheln. Das ist auch altmodisch, Hugo, und könnte so hübsch sein!
Sie stand von ihrem Stuhl auf, und bevor ich begriff, was sie vorhatte, saß sie auf meinem Schoß und legte die Arme um mich.
Fühlt sich das etwa nicht gut an?
Doch, sehr gut sogar. Sie war leicht, warm und wohlriechend. Das sagte ich ihr auch. Und dann sagte ich ihr, wir könnten uns einig werden, aber Sex sei ausgeschlossen, auch wenn er mir noch so lieb wäre. Ich sei zu alt. Es könne nicht funktionieren, es könnte kein gutes Ende nehmen.
Aber dies könnte doch dazugehören?, fragte sie und schmiegte sich an mich. Dass wir es uns zusammen gut gehen lassen? Wenn das sein kann, wenn du ja sagst, dann gebe ich noch etwas dazu, was du nicht zurückweisen kannst: Ich will mich mit dir zusammen um meinen kleinen Frenchie kümmern. Ist das ein Vorschlag? Hab ich deine Zustimmung?
Ja, sagte ich, die hast du. Ganz sicher.