In seiner Vielseitigkeit und mit seiner bisherigen Wirkungsgeschichte ist er vielleicht der bedeutendste Komponist der »klassischen Moderne« – aus dem Pionier und Wanderer durch die verschiedenen Perioden seines Schaffens wurde ein musikalischer Säulenheiliger des 20. Jahrhunderts.
Er wurde in Oranienbaum (bei St. Petersburg) geboren. Sein Vater war Bassist an der Kaiserlichen Oper in St. Petersburg. Seine Erziehung in der russisch-orthodoxen Spiritualität prägte auch die Musik späterer Jahre. Nach einem anfänglichen Jurastudium wandte er sich 1902 endgültig der Musik zu und wurde Privatschüler von Rimskij-Korsakow. Die Zusammenarbeit mit dem berühmten Ballettimpresario Sergej Diaghilew führte zu einem ersten großen Erfolg: »Der Feuervogel« (1910). Dem folgte eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit von 20 Jahren: »Pétrouchka« (1911) und »Le sacre du printemps« (1913). Das letzte Werk war mit einem legendären Skandal bei der Uraufführung verbunden – vielleicht der große Paukenschlag zum Beginn der Moderne, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dass hier ein Mädchen als »Frühlingsopfer« zu Tode getanzt wird, verschärfte die musikalische Provokation um eine moralische.
Im Zug der russischen Revolution blieb Strawinsky in der Schweiz. 1917 kam es in Rom zu einer ersten Begegnung mit Picasso. 1918 gelangte »Die Geschichte vom Soldaten« nach einer russischen Erzählung zur Uraufführung. Die Uraufführung von Pulcinella nach – teils vermeintlicher – Musik von Pergolesi im Jahr 1920 leitete eine klassische Periode ein. Von da an bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebte er in Frankreich, dann vorwiegend in den USA. Nachdem ihn seine Heimat Russland lange Zeit aus ideologischen Gründen boykottiert hatte, wurde er endlich 1960 rehabilitiert und zwei Jahre später beim ersten Besuch seit 1914 stürmisch gefeiert. Er starb als international hoch arrivierter Künstler in New York.
Sein langes Leben gleicht einer Wanderung durch alle wichtigen Stile und Richtungen seines Jahrhunderts – von der Spätromantik über Expressionismus und Jazz bis zur Zwölftonmusik. Und in jeder Phase seines Schaffens gelangen ihm gültige und erfolgreiche Werke. Damit ist sein Lebenswerk ein eindrucksvolles Plädoyer gegen stilistische Einseitigkeiten und Rechthabereien. Viele seiner großen Werke stehen in Verbindung zur Bühne: die Oper »The Rake’s Progress«, die Arbeiten für das Ballett mit Diaghilew und Balanchine (Apollo Musagète, Jeu de cartes, Orpheus, Agon) – sie sind auch ohne Tanz erfolgreiche Musikwerke geworden. Les Noces (1923) steht als Ballettkantate zwischen den Gattungen. »Oedipus Rex« (1928) steht zwischen Oper und Oratorium und weist mit dem griechischen Stoff und der lateinischen Sprache zurück in die Antike. Aus dem reichen Instrumentalwerk kann nur selektiv genannt werden: »Feu d’artifice«, Concerto »Dumbarton Oaks«, das »Ebony Concerto« für Klarinette und Jazzorchester, etliche Werke für Klavier und Orchester, Kammermusik und Klavierwerke. In der Vokalmusik ragt die »Psalmensinfonie« (1930, revidiert 1948) heraus – in den letzten Lebensjahren auch geistliche Musik (Messe und Canticum sacrum).
Meilensteine: Der Feuervogel – Le sacre du printemps – Die Geschichte vom Soldaten – Psalmensinfonie – Oedipus Rex – The Rake’s Progress
Legende: In seiner Lebenswanderung durch verschiedene Epochen erinnert Strawinsky in auffallender Weise an den Maler Pablo Picasso (1881–1973), dessen Leben und Werk in ähnlicher Weise phasenweise zu verstehen ist.