Die Ursprünge der Musik liegen im Dunkeln. Doch zwei Elemente gab es schon in den ersten Anfängen: die Melodie und den Rhythmus. Die Melodie ist eine Folge von Tönen, die man auch ohne Instrumente allein mit der menschlichen Stimme hervorrufen kann: der Gesang. Der Rhythmus entsteht geradezu zwangsläufig dadurch, dass die Melodie den Zeitraum braucht, um erklingen zu können. Ein kleines Kind, das vor sich hin summt oder singt und sich dabei bewegt, demonstriert unbewusst diese Urform der Musik. Durch die Dauer und Abfolge der Töne entsteht ein durchgängiges Pulsieren, das man auch durch Klatschen, Klopfen oder Tanzen verstärken kann. Auch dieses Pulsieren gibt es schon in der Natur: im Wind und in den Wellen, im Atem und im Pulsschlag. Wenn der Mensch in das Singen und Pulsieren der Natur einstimmt, es aufgreift und weiterführt, entsteht Musik: Singen, Klatschen und Tanzen sind also die ältesten Formen, Musik zu erfinden und zu pflegen.
Zu dieser ursprünglichen Weise des Musizierens braucht man keine Instrumente: Der Mensch selbst ist sein Instrument, das singt, klingt und sich bewegt. Doch schon das Klopfen mit Holzstäben oder Knochen erweitert den Klangraum: Es entstehen Instrumente. Doch vom hohlen Stab mit Löchern bis zum Digitalsound der modernen Elektronik ist es ein weiter Weg. Vorerst ist Musik jedoch von der Vergänglichkeit des Klangs bestimmt. Denn mit dem letzten Ton ist alles unwiederbringlich vorbei. Die einzige Möglichkeit, der Musik wenigstens in irgendeiner Weise Dauer zu verleihen, war die Wiederholung. Die Flüchtigkeit der Musik, die mit dem letzten verklungenen Ton geradezu stirbt, gibt ihr neben der Intensität auch einen eigenen Zauber: Sie ist wie unser Leben – einmalig, einzigartig und endlich. Erst die Notenschrift seit 1000 und die Erfindung der Tonträger seit 100 Jahren versuchen die Vergänglichkeit der Musik ein wenig aufzuhalten.
Von der Musik der Antike haben wir nur fragmentarische Ahnungen. Alle Versuche, die Musik jener Zeit wieder erklingen zu lassen, sind Rekonstruktionsversuche, die keinesfalls behaupten können, dass es damals so klang. Sie können höchstens sagen, dass es damals so geklungen haben könnte. Etwas besser ist es im Mittelalter. Die frühen Beispiele von Notation sind zwar noch mit vielen Unsicherheiten behaftet. Die Musikwissenschaft deutete die Zeichen auf den alten Handschriften durchaus nicht einheitlich. Dennoch haben wir aus dieser Zeit einen großen Schatz von Musikstücken – vorwiegend anonym –, die wir heute wiedergeben können: den gregorianischen Choral. Die Rede von »gregorianischen Chorälen« ist zwar gut gemeint, aber falsch. Es gibt nur die vielen Gesänge in der Gattung des »gregorianischen Chorals«. Zwar gibt es verschiedene Schulen und Lesarten, Gregorianik auszuführen, doch der unbefangen zuhörende Laie würde die Unterschiede kaum bemerken.
Man kann deshalb sagen, dass der noch heute klingende Fundus der abendländischen Musik mit diesen Gesängen der Mönche, der Nonnen und Priester des Mittelalters beginnt. Wenn es verwundert, dass ausgerechnet geistliche und kirchliche Musik am Anfang des überlieferten musikalischen Schatzes steht, dann muss man bedenken, dass die Aufzeichnung von Musik und die Wiedergabe nach einer Notenschrift voraussetzt, dass man lesen und schreiben kann. Und das konnten vorwiegend die Mitglieder der geistlichen Stände. Deshalb gibt es nur wenige Beispiele weltlicher Musik des Mittelalters – etwa der Troubadoure, der Minnesänger und die berühmten Carmina Burana, eine um 1300 entstandene Liedersammlung aus dem Kloster Benediktbeuren: Hier wird zwar viel Text, jedoch nur wenig Musik überliefert. Zu einigen dieser Texte schuf Carl Orff 1935/36 neue Musik. Dass aus dieser Zeit nur wenig weltliche und viel geistliche Musik überliefert wurde, lag nicht an der Frömmigkeit des Volkes, sondern am Eifer der Kleriker und Ordensleute. Nur sie konnten Musik aufschreiben.
Der gregorianische Choral war stets einstimmig und unbegleitet – entweder in hoher Lage von Frauen oder Knaben oder in tiefer Lage von Männern gesungen: von Ordensfrauen und Knaben der geistlichen Schulen, von Ordensmännern und Klerikern. Diese Art des Gesangs kann man gut verstehen, wenn man bedenkt, dass auch ein gesprochener Satz bereits Melodie und Rhythmus besitzt. Wir sprechen ja nicht monoton wie eine Computerstimme. Aus der Rhetorik des sprachlich gekonnten Vortrags entfaltete sich jene Musik, die dem Sprechen entlehnt ist: die Klangrede. Gregorianik ist nicht nur eintönige Musik mit lateinischen Texten ohne Begleitung, sondern die ins Musikalische übersteigerte Sprachmelodie. Deshalb kann ein gregorianischer Gesang ohne gute Kenntnis der lateinischen Texte und ihrer religiösen Bedeutung nicht gelingen.
Im späteren Mittelalter kam zu den ersten beiden Elementen der Musik – den Melodien und den Rhythmen – noch ein drittes hinzu: der Zusammenklang. Doch nicht in der Weise, in der wir es heute vielleicht erwarten würden – etwa in Akkorden, um die Melodien zu »stützen«. Nach ersten Anfängen in parallelen Quinten und Quarten – dem sogenannten Organum – bildete sich der Zusammenklang dadurch, dass man der vorhandenen Melodie eine zweite entgegensetzte. Das war aber keine Begleit-, sondern eine Gegenstimme. Aus diesem Gegensatz – Stimme gegen Stimme, Note gegen Note, Punkt gegen Punkt – entstand das, was man später »Kontrapunkt« nennen sollte (punctus contra punctum). Als dann noch eine dritte Stimme hinzutrat, erkannte man in ihr ein Symbol für die göttliche Dreifaltigkeit. Es ging ja noch immer um religiöse Musik. Mit der anwachsenden Mehrstimmigkeit überschreiten wir bereits die Schwelle zur Neuzeit. Es entstand ein kunstvolles Stimmengeflecht nach strengen Regeln, in denen es – sozusagen nebenbei – zu Zusammenklängen, also zu Harmonien kam.
An dieser Stelle befinden wir uns bereits in der ersten Epoche der heute noch lebendigen, gepflegten und wiedergegebenen Musik. Im Folgenden wird der Weg der abendländischen Musik in fünf Etappen beschrieben. Ihre Bezeichnungen sind nur mit Vorbehalt gültig, jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch verankert. Die Epochen gehen ineinander über und lassen sich auch unterteilen oder verschieden deuten:
1 Renaissance – Die Kunst der Mehrstimmigkeit
2 Barock – Musik von der Bühne
3 Klassik – Die einsame Spitze
4 Romantik – Geniekult als Religion
5 Moderne – Musik auf getrennten Wegen