Die Klassik ist – anders als andere Zeiträume der Musikgeschichte – weniger eine Epoche als ein Höhepunkt und Durchgangsraum zu einer neuen und anderen Musikkultur. Das wird schon erkennbar an der kurzen Zeitspanne und an den äußeren Lebensumständen ihrer – vor allem in Wien und Osterreich beheimateten – Protagonisten Haydn, Mozart und Beethoven: Joseph Haydn war zuerst höfischer Musiker im Dienst des Fürsten Esterházy. Zunehmende Anerkennung und Einkünfte ermöglichten es ihm, freischaffender Künstler zu werden und dennoch in Freundschaft zum Fürstenhaus zu verbleiben. Wolfgang Amadeus Mozart begann ebenfalls als höfischer Dienstleister beim Salzburger Fürsterzbischof. Er schied aber im Streit und lebte fortan als freier Künstler in Wien. Ludwig van Beethoven war in seiner ganzen Laufbahn freier Musiker – wurde aber von adeligen Mäzenen unterstützt. In den ökonomischen Verhältnissen zeigt sich der Übergang von einer feudalen zu einer bürgerlichen Musikkultur.
Das klingt zuerst einmal so, als ginge es nur um Geld und Einkünfte, lässt aber auf den zweiten Blick einen grundlegenden Wandel in der Musikpflege erkennen: Denn schon bisher waren es vorwiegend bürgerliche Musiker, die komponierten – aber nun werden es immer häufiger bürgerliche Zuhörer sein, für die sie schrieben. Und in der nächsten, der bürgerlichen Epoche der sogenannten »Romantik« würde es ein bürgerliches Lebensgefühl sein, das sich in der Musik ausdrückt und das die Musik ansprechen will. Doch noch war es nicht so weit. Noch entstand Musik vorwiegend in den Häusern des Adels, des höheren Klerus und der kleinen wohlhabenden Oberschicht – und natürlich auch in den Kirchen, in die jeder gehen konnte. Die Zeit, von der wir sprechen – die sogenannte »Klassik« –, ist eine Zeit des Übergangs, eine Zeit der Umstürze und Revolutionen, eine Zeit des »nicht mehr« und »noch nicht«. Und sie ist dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ein Höhepunkt.
Das zeigt sich eindrücklich am Leben des – häufig unterschätzten – Joseph Haydn. Denn durch seine lange Lebensspanne begann er als Barockmusiker, dann wandelte er sich in einer Phase des »Sturm und Drang«, wurde er Freund und Zeitgenosse Mozarts und Beethovens und komponierte in seinem letzten Lebensabschnitt bereits in Vorahnung der kommenden Romantik. Beethoven sollte diesen Weg weiterführen – sein Sarg wurde, gemeinsam mit anderen Freunden, von Franz Schubert getragen, der selbst ein Jahr später sterben sollte. Hier wird deutlich, dass die sogenannte Klassik ein sich zwischen den Epochen ereignender Höhepunkt ist. Es musste einer schon so kurz leben wie Wolfgang Amadeus Mozart, dass man sein Leben schlechthin mit dieser – nennen wir es halt so – Epoche gleichsetzen konnte. Deshalb ist Mozart sowohl mit seinem Werk als auch mit seiner Karriere als aufsässiger Fürstenknecht und aufgeklärter Bürgerlicher ein gutes Beispiel.
Was sich am wechselvollen Lebensablauf Haydns in einem großen Bogen darstellt, erkennt man bei Mozart und seinem Werk beinahe als Stillstand: Denn abgesehen von den »Lehr- und Lernjahren« des kindlichen und jungen Mozart gibt es in seinem Werk kaum eine nennenswerte Entwicklung – nicht nur weil sein Leben so kurz war, sondern auch weil sich die Zeit seines Schaffens als arg verlängerter Höhepunkt zeigt: die vielzitierte »Vollendung« in Mozarts Musik kommt nicht als Ende einer langen Metamorphose, sondern hält gute zwei Jahrzehnte an und endet abrupt mit dem frühen Tod. Dazu kommt in Mozarts Werk die auffallende »Gleichzeitigkeit« sowohl verflossener Kunstfertigkeit als auch zukunftsweisender Klänge, etwa im Requiem, in seinen Vespern und in seinen späten Werken. Der Brauch, gerade in der Kirchenmusik im stile antico »verspätete Barockmusik« zu schreiben, erlaubte den Anachronismus eines extrem weitgespannten Stilgemischs.
Mozart war – obwohl er sich manchmal barocker Formen bediente – niemals epigonal. Seine Fugen sind sowohl in altmeisterlicher Manier sehr gekonnt als auch typischer Mozart. Er war aber keineswegs ein Neuerer. Die Vorstellung, dass ein Künstler unbedingt innovativ sein müsse, um ein guter Künstler zu sein, hätte ihn wahrscheinlich belustigt. Die zweifellos interessante Frage, wie Mozart komponiert hätte, wenn er doppelt so alt geworden wäre, ist natürlich müßig. Aber sie zeigt auf, dass »klassische Musik« jenseits des Epochenverständnisses der großen musikalischen Zeiträume zu verstehen ist: Vielleicht ist Klassik nichts anderes, als dass in menschheitslangen Strömen der Musik durch allerlei Neuerungen, Variationen und Metamorphosen alles für wenige Jahre den Atem anhält, um eine Musik zu erleben, die tatsächlich ungebrochen am Leben bleiben sollte. Denn anders als alle anderen vorher wurde Mozart nie vergessen und musste nie wiederentdeckt werden: Seine Musik erklingt, seit sie entstand. In der deutschsprachigen Literatur kann man Ähnliches nur von Goethe sagen.
Mozarts Revolte fand nicht in der Musik statt, sondern im Leben: Er verließ wütend und schimpfend einen eitlen und herrschsüchtigen Kirchenfürsten – der ironischerweise sogar ein Aufklärer war. In Figaros Hochzeit wird die Revolution ins Private gewendet und pfiffig besungen. Aus dem aufmüpfigen Hofmusiker war ein selbstbewusster Künstler und Bürger geworden und zugleich der herausragende Klassiker der abendländischen Musik. Ohne ihn würde vielleicht die Musikwissenschaft gar nicht von einer eigenen Epoche der Klassik sprechen. Denn schon der dritte im Bunde – Beethoven – war mehr revolutionär als klassisch und stand mit einem Bein in der Romantik. Wenn es eine musikalische Dreifaltigkeit der Klassik gibt, dann nehmen Haydn und Beethoven den jung verstorbenen und bis heute jung gebliebenen Mozart in die Mitte. Das gilt auch für die Gattungen: Die bedeutendsten Oratorien stammen von Haydn, die besten Opern von Mozart, die herausragenden Sinfonien von Beethoven. Das ist Klassik.
Wenn man nach den wichtigsten Merkmalen der Klassik sucht, stößt man zuerst auf die Dominanz der Melodie: Gibt es noch aus der Renaissance kaum eine markante Melodie, die ein Musikkundiger spontan nachsingen könnte, hat die Barockzeit deren schon relativ viele bereit. Dennoch gibt es eine Reihe von bedeutenden Meisterwerken, von denen auch Musikfreunde kaum eine Melodie nachsingen könnten. Richtige »Ohrwürmer« sind auch in der Barockzeit eher selten. Ganz anders in der Klassik: Hier tritt – bei aller Kunstfertigkeit im Tonsatz, in der Rhythmik und der Instrumentation – die Gesangslinie ihren Siegeszug an. Die Leichtigkeit und Fruchtbarkeit bei der Erfindung der Melodien ist bei Mozart und später bei Schubert, der noch fest in der Wiener Klassik wurzelt, nicht zu überhören. Hier liegt auch der Grund, weshalb für viele Menschen Musik überhaupt nur oder wenigstens in erster Linie Melodie ist.
Der Begriff der Klassik bezeichnet – auf verschiedenste Bereiche menschlicher Kulturleistungen angewandt – stets einen Höhepunkt. Und zweifellos war die Zeit des weltweit bekanntesten und meistaufgeführten abendländischen Komponisten ein nur etwa zwei Jahrzehnte währender Höhepunkt der Musikgeschichte. Politisch war es eine unruhige Zeit, bestimmt von der Aufklärung und der Französischen Revolution knapp vor dem Ende des 18. Jahrhunderts. Jetzt kam es zu einer letzten Blüte – Kadenz und zugleich Dekadenz –, bevor ein neues Zeitalter der Empfindsamkeit, der mit Blick auf das Mittelalter rückwärtsgewandten Sehnsucht und des behaglich-bürgerlichen Weltverständnisses anbrechen konnte. Zugespitzt könnte man sagen: In der Klassik hielt die Entwicklung der Musik für kurze Zeit den Atem an und erlebte jenen verlängerten Augenblick als Höhepunkt, in dem sich das Rokoko in das Biedermeier verwandelte. Die späteren Generationen hörten diese Musik mit Verwunderung und verlängerten den Augenblick – zu einer Epoche –, weil sie so schön ist.