Patricia steigt aus dem Bus und sieht der Staubwolke nach, die er beim Weiterfahren aufwirbelt. Als sie sich umdreht, wird sie von der hochstehenden Sonne geblendet, und sie hebt die Hand, um sich die Augen zu beschatten. Es ist kaum zu begreifen, dass sie jetzt hier ist, dass sie tatsächlich noch einmal die weite Reise nach Ljusskär auf sich genommen hat.
Sie fährt den Griff ihres Koffers aus und versucht herauszufinden, in welcher Richtung es wohl zum Hotel geht. Bei ihrem letzten Besuch in Ljusskär hat sie in Ystad übernachtet und ist mit dem Mietwagen hergefahren, doch diesen Fehler macht sie nicht noch einmal. Der Verleih hatte nur Autos mit Schaltgetriebe, und da sie so eins noch nie gefahren war, kam sie auf der kurvenreichen Küstenstraße mehr schlecht als recht voran.
Die kleine Hauptstraße liegt vollkommen verlassen da, doch ein Stück weiter entdeckt Patricia einen Kiosk, der geöffnet zu haben scheint. Einen Moment überlegt sie, dorthin zu gehen, doch als sie sich umdreht und das Meer sieht, zieht es sie instinktiv in die andere Richtung.
Mit zügigen Schritten geht sie über den holprigen Bürgersteig. Ein hübsches graugrünes Haus mit moosgrünen Fensterläden kommt ihr eigenartig bekannt vor. Vielleicht hat sie es bei ihrem letzten Besuch gesehen oder in einem von Madeleines Briefen darüber gelesen. Vier Mal hat ihre Schwester vor ihrem Verschwinden geschrieben, und Patricia hat die Briefe so oft gelesen, dass sie jede Zeile auswendig kann.
Sie bleibt kurz stehen und verschnauft. Die Reise war anstrengend, aber es gibt viel zu tun. Der außerplanmäßige Urlaub, den sie ihrem Chef aus den Rippen leiern konnte, ist auf drei Wochen begrenzt. Mr. Marsden war nicht gerade erfreut darüber, die ganze Büroarbeit dem kaugummikauenden Schulassistenten Marco überlassen zu müssen. Doch als Patricia versprach, dass sie sämtliche Probleme, für die Marco potenziell verantwortlich gemacht werden könnte, nach ihrer Rückkehr ausbügeln würde, ohne auch nur einen einzigen Dollar Überstundenausgleich zu verlangen, ließ er sie fahren.
Patricia zieht ihren Rollkoffer über eine Bordsteinkante und schaut auf das tiefblaue Meer hinaus. Wie es so spiegelglatt daliegt und den Himmel reflektiert, wirkt es fast unendlich. Eigentlich müsste sie sich hier wie zu Hause fühlen. Ihre Mutter ist in Skåne aufgewachsen, aber von ihrer schwedischen Verwandtschaft hat Patricia bisher niemanden kennengelernt. Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind Briefkontakt zu ihrer Großmutter hatte, doch als ihre Mutter starb, verlief der im Sande.
Müde reibt sie sich die Augen. Die vergangene Woche über hat sie schlecht geschlafen. Der Brief mit der Halskette hat alte Erinnerungen wachgerufen, die sie nachts nicht zur Ruhe kommen lassen. Sobald Patricia die Augen schließt, sieht sie ihre Schwester vor sich – die dunklen Locken, die bei jedem Schritt auf und ab wippen, und dieser unverkennbare Blick, mit dem sie Patricia immer ansah, wenn ihr Vater sich mal wieder darüber beschwerte, dass sie die Küche nicht aufgeräumt oder den Stall nicht ausgemistet hatten. Madeleine wusste genau, wie er sich besänftigen ließ. Sie brauchte nur den Kopf auf die Seite zu legen und »'tschuldigung, liebes Papilein« zu sagen, und schon begann es in seinen Mundwinkeln zu zucken.
Patricia lässt den Koffer los und greift nach ihrem Handy in der Jackentasche. Obwohl weit und breit niemand zu sehen ist, fühlt sie sich beobachtet. Es ist, als würden all die dunklen Fenster in den niedlichen kleinen Häusern sie ansehen.
Sie lässt den Blick über den pittoresken Straßenzug schweifen. Hier eine Einfahrt mit Kieselsteinen, dort ein weißes Marmorkreuz und vor den Türen große Blumentöpfe mit prangenden Margeriten.
Als ihr Handy piept, sieht Patricia, dass sie eine Nachricht von ihrem ältesten Sohn Matthew bekommen hat. Bist du schon da?, will er wissen.
Sie lächelt matt. In Richmond muss es früh sein. Zu früh für einen Samstagmorgen, aber Matthew hat zwei kleine Kinder, die ihn oft schon in aller Frühe wecken.
Bist du etwa schon wach?, antwortet sie und schreibt ihm, dass sie soeben angekommen und jetzt auf dem Weg zu diesem Hotel namens Bed, Breakfast & Books ist.
Matthew schickt einen schnarchenden Smiley. Zoey findet Schlafen »langweilig«.
Patricia muss lachen. Zoey ist Matthews Älteste, eine eigensinnige Vierjährige, die das Haar stets zu zwei Zöpfen zusammengebunden hat und darauf besteht, nur in Tüllkleidern aus dem Haus zu gehen.
Oh nein, schreibt sie, du Ärmster!
Die nächsten paar Minuten kommt keine weitere Nachricht, und Patricia stellt sich vor, wie Zoey auf dem Sofa sitzt und dies und das bei Matthew bestellt: warme Milch, Bananenscheiben und Toast mit Butter und Honig. Als es erneut piept, hat Patricia das Handy gerade weggepackt. Sofort holt sie es wieder hervor.
Wie fühlt es sich an?
Von all ihren Familienmitgliedern hat sich Matthew am meisten für ihre Reisepläne interessiert. Ihr jüngster Sohn Justin hat Madeleine nie kennengelernt, aber Matthew kann sich noch an sie erinnern.
Komisch, schreibt sie zuerst, doch dann überlegt sie es sich anders und antwortet: Gut. Sie und Matthew hatten schon immer ein besonders enges Verhältnis. Er hat ihre Feinfühligkeit geerbt, und sie möchte ihn nicht beunruhigen.
Das Handy verstummt. Eigentlich hätte Patricia auf dieser Reise gern jemanden dabeigehabt. Es fühlt sich seltsam an, ganz allein in Schweden zu sein, aber von ihrem Ältesten hätte sie nicht erwarten können, dass er seine Familie ihr zuliebe so lange allein lässt. So gutmütig wie Matthew ist, wäre er vermutlich sogar mitgekommen, wenn sie ihn darum gebeten hätte, aber Patricia weiß, dass seine Frau Denise nicht gerade begeistert gewesen wäre.
Seufzend steckt sie das Handy zurück in die Tasche. Patricia bemüht sich wirklich, Denise zu mögen, aber sie kann einfach nicht darüber hinwegsehen, dass diese Frau ihr Matthew genommen hat. Bevor die beiden sich kennenlernten, haben er und Patricia täglich miteinander gesprochen. Sie war diejenige, der Matthew seine Probleme anvertraute und die all seine Neuigkeiten als Erste zu hören bekam. Wenn er eine Prüfung mit der Bestnote bestanden hatte oder in dem Restaurant, in dem er jobbte, zum Mitarbeiter des Monats ernannt worden war, rief er Patricia an, doch für solche Telefonate hat er inzwischen keine Zeit mehr. Außerdem backt Denise ihren Apfelkuchen mit Cheddar. Cheddar! Wie kommt man nur auf so eine Idee?
Patricia nimmt das Handy hervor, um nachzusehen, ob Matthew noch einmal geschrieben hat, doch das hat er nicht. Erneut stößt sie einen Seufzer aus. Es ist ein eigenartiges Gefühl, so weit weg von der Familie und von Mill Creek zu sein. Der alte Hof ist alles, was ihr von Madeleine und ihren Eltern geblieben ist. Die Zimmer stecken voller Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, und Patricia bringt es nicht übers Herz, von dort wegzugehen. Sie fürchtet sich davor, was dann passieren könnte, dass es sich vielleicht so anfühlen wird, als würde sie ihre Schwester ein weiteres Mal verlieren.
Ihr Exmann Michael hat lange versucht, sie zum Verkauf zu bewegen, was tatsächlich einer der Hauptgründe für ihre Trennung war. Michael wollte nicht in Mill Creek bleiben. Das war auch nie ihr Plan gewesen, aber dann kam es trotzdem so.
Patricia wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie erträgt es kaum, an die Zeit unmittelbar nach Madeleines Verschwinden zurückzudenken. Einen landwirtschaftlichen Betrieb führen und sich gleichzeitig um zwei kleine Kinder kümmern – das war schon hart. Ursprünglich hatten sie und Michael geplant, zurück nach Washington zu ziehen, sobald Madeleine bereit wäre, den Familienhof zu übernehmen, doch dann kam dieser Praktikumsplatz. Sie einigten sich darauf, ihr noch ein Jahr zu geben, aber als sie dann nicht von ihrem Auslandsaufenthalt zurückkehrte, hing die Familie in einer Art Dauerschwebezustand fest.
Patricia weiß, dass sie Michael gegenüber ungerecht war. Er hat jahrelang auf sie gewartet und mit einer Engelsgeduld versucht, sie zurück in ihr normales Leben zu locken, doch das hat nie so recht funktioniert.
Beim Anblick eines großen Lochs vor ihr im Asphalt durchfährt Patricia der Gedanke, dass dieser kleine Ort offenbar seine besten Zeiten bereits hinter sich hat, genau wie sie. Es war ein harter Schlag für sie, als die Kinder den Hof verließen. Dass Justin weggehen würde, wusste sie. Er war schon immer etwas abenteuerlustiger als sein Bruder gewesen und zog nach New York, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Bei Matthew hingegen hatte sie gehofft, er würde bleiben oder zumindest nicht allzu weit wegziehen. Und anfangs sah es auch ganz danach aus. Ihr Ältester hatte sich für ein Studium an der University of Virginia entschieden und fand eine Wohnung in Charlottesville. Doch dann trat Denise in sein Leben, und der war eine Dreizimmerwohnung in Barracks Rugby nicht gut genug. Nein, sie träumte von einer Doppelhaushälfte in Richmond mit offener Raumaufteilung, drei Badezimmern, einem großen Garten und mindestens hundert Kilometern Abstand zur Schwiegermutter.
Patricia schiebt den Gedanken beiseite. Jetzt ist sie hier und muss sich auf die Aufgabe konzentrieren, die nun vor ihr liegt. Trotzdem findet sie es ärgerlich, dass ihre Enkel so weit weg wohnen. Wären Matthew und Denise in der Nähe geblieben, hätte sie ihnen viel mehr helfen können.
Ihre Handtasche ist schwer und scheuert ihr beim Gehen gegen die Hüfte. Vorsichtig schiebt Patricia sie ein Stück zur Seite. Im Inneren befindet sich Madeleines Halskette, die sie vorsorglich in einer kleinen Schachtel verstaut hat. Beim bloßen Gedanken an das Schmuckstück schießt ihr Puls immer noch in die Höhe. Patricias größte Sorge ist es, die kleine Silbernote nicht zu verlieren.
Sie wirft einen Blick über die Schulter und schluckt einmal kräftig. Damals, als sie vom Verschwinden ihrer Schwester erfuhr, lagen sechstausendsiebenhundert Kilometer zwischen ihnen, und sie hatte ein Neugeborenes, einen Vierjährigen, ein konstant überzogenes Konto und einen Hof mit Rindern und Schweinen, um die sie sich kümmern musste. Bis sie alles so weit organisiert hatte, dass sie losreisen konnte, waren mehrere Tage vergangen, und als sie endlich vor Ort war, lag Madeleines Verschwinden bereits eine Woche zurück.
Die Erinnerungen an diese Zeit sind sehr vage und lückenhaft. Sie erinnert sich an Telefonate nach Schweden zu später Abendstunde, an das Knistern in der Leitung und daran, dass ihr niemand Antwort auf ihre vielen Fragen geben konnte. Als sie das erste Mal kontaktiert wurde, hieß es, Madeleine sei vermisst gemeldet, doch der Fall wurde schnell ad acta gelegt. Angeblich hatte irgendjemand gesehen, wie Madeleine in einen Bus nach Malmö gestiegen war, und obwohl Patricia ausdrücklich erklärte, dass ihre Schwester nie einfach den Ort wechseln würde, ohne ihrer Familie Bescheid zu geben, schien ihr niemand zu glauben.
Patricia tritt gegen einen Stein, der ein paarmal vor ihr über den Bürgersteig springt und schließlich auf die Straße rollt. Als sie damals in Kopenhagen gelandet war, fuhr sie auf direktem Wege nach Ljusskär und traf dort Gemeindemitglieder der Freikirche, mit denen Madeleine zusammengearbeitet hatte, doch sie alle erzählten ihr das Gleiche. Ihre Schwester habe einfach den Koffer gepackt und sei ohne jede Erklärung fortgereist.
Da Patricias Nachforschungen kein Ergebnis brachten, fuhr sie zurück nach Malmö und ging zur Polizei. Sie klapperte sämtliche Krankenhäuser und Jugendherbergen der Stadt ab und konnte mit etwas Unterstützung sogar Kontakt zur Kopenhagener Polizei herstellen, doch auch die fand nichts heraus. Schließlich musste sie wohl oder übel aufgeben. Doch seit dem Tag, an dem sie in das Flugzeug zurück nach Hause gestiegen war, wird sie von Schuldgefühlen gequält, und sie hat sich immer wieder gefragt, ob es wohl einen Unterschied gemacht hätte, wenn sie damals länger geblieben wäre. Vielleicht wäre sie Madeleine ja auf die Spur gekommen, wenn sie nur etwas hartnäckiger gewesen wäre oder mehr Menschenkenntnis gehabt hätte.
Am Ende der Straße türmt sich eine große gelbe Villa mit Rundbogenfenstern, einer weißen, liebevoll gezimmerten Veranda und einem grün angelaufenen Blechdach auf. Patricia hebt den Blick. Das muss das Hotel sein.
Sie richtet den Kragen ihres Hemdes und fragt sich, ob sie wohl irgendjemand hier wiedererkennen wird. Mit der Freikirche ist sie seit damals zwar in Kontakt geblieben, hat hin und wieder mal angerufen und sich nach Neuigkeiten erkundigt, aber ihr letztes Telefonat ist jetzt bestimmt zehn Jahre her. Patricia gibt es nur ungern zu, doch bevor sie dieser Brief erreichte, hatte sie die Hoffnung, jemals etwas über Madeleines Verbleib zu erfahren, mehr oder weniger aufgegeben.
Wenn sie darüber nachdenkt, was nun auf dem Spiel steht, spürt sie, wie ihr Herz einen Salto macht. Sie muss die Ruhe bewahren, trotz all der Gefühle, die unter der Oberfläche brodeln.
Die Rollen ihres Koffers rattern über den rissigen Asphalt. Sie sieht sich um. Irgendjemand hier weiß, was an jenem Abend im Spätsommer 1987 geschehen ist, denkt sie. Irgendjemand hat Madeleines Halskette all die Jahre aufbewahrt, und Patricia wird nicht wieder abreisen, bevor sie herausgefunden hat, wer dieser jemand ist.