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Donnerstag, 13. Juni

Patricia steht auf der Treppe vor dem grauen Haus. Ihr Herz schlägt schnell und das Blut pocht in ihren Ohren. Ihr letzter Besuch bei Evy ist alles andere als angenehm gewesen, und sie hofft, dass es diesmal besser laufen wird.

Mit Nachdruck klopft sie an die Tür und hört, dass sich im Haus jemand bewegt. Aber niemand öffnet. Patricia klopft ein zweites Mal an, und als wieder nichts passiert, lehnt sie sich zum Türspalt vor.

»Evy?«, ruft sie. »Ich bin es noch mal, Patricia Sloane. Ich würde sehr gerne mit Ihnen reden.«

Sie verstummt und lauscht an der Tür. Eine Minute, die ewig zu dauern scheint, ist nichts zu hören, dann klappert es im Haus.

»Evy!«, wiederholt sie, diesmal fordernder. »Können Sie nicht aufmachen? Ich möchte ihnen gerne etwas erzählen, und ich möchte das ungern auf offener Straße tun.«

Patricia wartet auf eine Reaktion, doch nichts passiert. Stattdessen taucht ein Mann auf dem Nachbargrundstück auf. Seine olivfarbene Haut leuchtet golden in der Sonne, und der gestutzte Bart ist weiß.

»Sie mag keinen Besuch«, sagt er freundlich.

Patricia nickt.

»Ja, das sehe ich.«

Der Mann befestigt einen Schlauch an dem Wasserhahn neben dem Haus und zieht ihn hinter sich her in seinen Garten. Patricia seufzt. Sie hatte gehofft, dass sie wenigstens kurz die Chance haben würde, mit Evy zu sprechen.

Als der Nachbar wieder auftaucht, trägt er eine schöne schwarze Katze auf dem Arm. Er legt einen Finger an die Lippen, um Patricia zu verstehen zu geben, ganz still zu bleiben. Dann klopft er an Evys Tür.

»Evy«, ruft er. »Saba will ins Haus.«

Er setzt die Katze auf den Boden, die sich an die Tür schmiegt und mauzt. Der Mann zeigt den Daumen nach oben.

»Danke«, flüstert Patricia.

»Yusuf«, sagt er und reicht ihr die Hand. »Man muss nur ein paar Tricks kennen.«

Er verschwindet wieder in seinem Garten, und nur wenige Sekunden später hört Patricia, wie der Schlüssel in Evys Türschloss umgedreht wird.

Patricia macht einen Schritt zur Seite, damit Evy sie nicht sofort sieht. Evy schiebt die Tür nur einen Spalt weit auf, und als sie die Katze entdeckt, öffnet sie sie ganz. Patricia holt tief Luft, dann streckt sie vorsichtig ihre Hand aus, um Evy nicht zu erschrecken.

»Hallo.«

Evy sieht sie verdutzt an, dann zieht sie die Tür sofort wieder zu, doch Patricia hat ihren Fuß schon in den Türspalt geschoben.

»Entschuldigen Sie«, sagt sie. »Ich will sie nicht belästigen, aber ich muss mit Ihnen sprechen.«

Evy wirft ihr einen hasserfüllten Blick zu, während sie weiterhin versucht, ihre Tür zuzuziehen. »Nehmen Sie den Fuß da weg«, faucht sie.

»Bitte«, fleht Patricia. »Es dauert nur ein paar Sekunden.«

Sie bemerkt Evys musternden Blick. Das Gesicht unter dem kurzen, grauen Haarschopf ist wettergegerbt, und Patricia stellt fest, dass sie dieselben blauen Arbeitshosen, dasselbe T-Shirt und dieselbe Fleecejacke wie bei Patricias letztem Besuch trägt.

»Der Grund, warum ich mehr über Madeleine Grey wissen möchte,«, sagt sie, so schnell sie kann, »ist, dass ich ihre Schwester bin.«

Evy zuckt zusammen, und die strengen Züge um ihren Mund scheinen eine Spur weicher zu werden. Patricia hebt die Hände, um zu zeigen, dass sie keine bösen Absichten hat, und nimmt den Fuß aus der Tür.

»Ich bin hier, weil ich einfach herausfinden muss, was mit Madeleine passiert ist. Vor ein paar Wochen hat mir jemand ihre Halskette geschickt. Ich weiß nicht, was das bedeutet, ich weiß auch nicht, ob Sie sie kannten, aber in der Kirche hat mir jemand gesagt, dass ich mich an Sie wenden soll. Ich habe schon mit vielen Leuten hier im Ort gesprochen, aber niemand scheint sich an meine Schwester zu erinnern. Bitte«, fleht sie erneut, »wenn Sie etwas wissen, erzählen sie mir davon.«

Einen kurzen Moment lang sehen die beiden Frauen sich an. Evy sieht nachdenklich aus und öffnet leicht die Lippen, als würde sie etwas sagen wollen.

Patricia wartet geduldig. Ihr Herz schlägt so schnell, dass sie kaum Luft bekommt. Evy weiß etwas über ihre Schwester, sie kann es an ihrem Blick sehen, und sie kann nicht verstehen, warum Evy nicht mit der Sprache herausrückt.

Die Sekunden vergehen langsam, sie sind so zäh wie Sirup. Im Augenwinkel sieht Patricia, wie Evy ihre Hand nach der Türklinke ausstreckt. Jetzt, denkt sie, jetzt lässt sie mich rein. Aber sie liegt falsch. Stattdessen schüttelt Evy den Kopf.

»Tut mir leid«, sagt sie und schließt die Tür.

Patricia wankt ein paar Schritte nach hinten.

Sie hat wirklich für einen Moment geglaubt, dass Evy ihr helfen würde, dass sie entscheidende Informationen hätte, die die wenigen merkwürdigen Puzzleteile, die Patricia gesammelt hatte, zu einem Bild zusammenfügen könnten.

Die Frustration schmerzt in ihrem Körper. Patricia verspürt den plötzlichen Wunsch, etwas kaputtzuschlagen. Wie kann das alles sein? Wie konnte Madeleine einfach verschwunden sein, ohne dass eine einzige Person wusste, was mit ihr los war?

In all den Jahren hat sie ihren Kummer begraben, hat ihn von sich weggeschoben, weil sie dachte, sie würde eines Tages stark genug sein, das alles zu ertragen. Doch obwohl dreißig Jahre ins Land gezogen sind, ist sie genauso verzweifelt wie am ersten Tag. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass Madeleine weg ist und dass niemand weiß, wohin sie gegangen ist. Sie weigert sich, das zu akzeptieren.

Patricia schlägt die Hände vors Gesicht. Warum hat sie sich mit ihrer Schwester gestritten, bevor sie nach Ljusskär gereist ist? Sie hätte erkennen müssen, dass es für Madeleine zu viel Verantwortung war, den Hof zu übernehmen – wie konnte sie so dumm sein? Und warum hat sie sich nicht die Zeit genommen, ihrer Schwester zu schreiben?

Was nun, wenn es ihre Schuld ist, dass Madeleine verschwunden ist?

Was, wenn Madeleine deshalb weggegangen ist, weil sie dachte, Patricia sei wütend auf sie und wolle sie niemals wiedersehen?