Patricia hält das abgegriffene Foto in der Hand. Es ist ein Bild von Madeleine, aufgenommen einige Wochen vor ihrer Abreise nach Ljusskär. Patricia studiert das Gesicht ihrer Schwester. Madeleine sitzt vornübergebeugt an dem alten Klavier im Wohnzimmer zu Hause in Mill Creek. Die vor Glück glänzenden Augen schauen direkt in die Kamera, und um Madeleines Hals hängt die kleine silberne Note.
Patricia erinnert sich an die Pläne ihrer Schwester für den alten Hof. Sie wollte eine Musikschule eröffnen und den Kindern in der Gegend Klavierunterricht geben. »Für Virginias größte Talente«, hatte Madeleine stolz prophezeit. »Die Leute werden Schlange stehen, um von mir unterrichtet zu werden. Warte nur ab, du wirst schon sehen!«
Patricia schiebt das Foto wieder in ihre Tasche und sieht sich im Foyer des Hotels um. Marianne sitzt am Büchertisch und liest, und aus der Küche dringt Geklapper. Mona ist in vollem Gange, das Mittagessen, Kartoffelpuffer, zuzubereiten.
Marianne legt ihr Buch weg und steht auf. Sie geht eine Runde durchs Café und bleibt schließlich vor Patricia stehen.
»Wusstest du, dass Elizabeths beste Freundin Charlotte diesen Priester heiratet, Mr. Collins?«, fragt sie empört.
»Ja, leider.« Patricia nickt.
»Das … das geht doch nicht!«, entfährt es Marianne. »Das arme Mädchen. Ich könnte es nicht ertragen, nicht über mein eigenes Leben bestimmen zu dürfen.«
Mona taucht hinter ihnen auf und nickt verständnisvoll.
»Ich vergesse immer wieder, wie anders das Leben damals war. Diese ständige Sorge, dass man finanziell nicht über die Runden kommt, muss furchtbar gewesen sein. Und dass sie ihr Zuhause verlieren könnten, wenn Mr. Bennett stirbt!«
»Ja, die Frauenbewegung hat schon so einiges auf den Weg gebracht«, stimmt Patricia zu.
Doris kommt zur Tür herein, und die Frauen drehen sich zu ihr um. Sie schleicht geradezu ins Café und trägt eine flauschige burgunderfarbene Samtmütze, die sie bis über die Ohren gezogen hat.
»Doris!«, ruft Mona fröhlich. »Bist du bereit für dein Date?«
Doris sieht sie mit weit aufgesperrten Augen an.
»Nein«, haucht sie.
»Warum trägst du denn eine Mütze?«, fragt Marianne. »Es sind fünfundzwanzig Grad draußen.«
Doris zögert einen kurzen Moment, dann zieht sie sich die Mütze vom Kopf. Lange, lilafarbene Strähnen quellen unter ihr hervor. Es wird totenstill im Raum, bis Marianne die Hände vor dem Mund zusammenschlägt.
»Was ist passiert?«
Doris zieht eine Grimasse.
»Du hast gesagt, ich soll etwas mit meinen Haaren machen.«
»Ich meinte eine neue Frisur, nicht, dass du sie färben sollst.
»Das war ein Unfall«, sagt Doris und verbirgt ihr Gesicht hinter der Mütze. »Ich wollte nur ein bisschen Tönung reinbringen und jetzt … jetzt seh' ich aus wie so ein Punk.« Sie schnieft, und Mona tätschelt ihre Schulter.
»Aber Doris, das ist doch kein Weltuntergang.«
»Ich finde es schick«, sagt Patricia. »Es sieht … anders aus.«
»Aber ich will nicht anders aussehen«, schnauft sie. »Ich will aussehen, wie ich selbst, nur fünfzehn Jahre jünger.«
Die Türglocke schellt, und Yusuf kommt herein. »Guten Tag, meine Damen«, sagt er und verbeugt sich.
»Hallo Yusuf. Wie geht's dir?«, fragt Mona.
»Doch, gut. Anscheinend ist eine ganze Kolonie von Glasflüglern in meine Himbeerhecke eingezogen, weshalb mir jetzt mehrere Triebe verdorrt sind, aber ansonsten stehen die Aktien gut.«
»Nur Mut, das wird schon wieder. Du weißt, wie gern ich Obst und Gemüse bei dir kaufe.«
»Na klar. Für dich leg ich doch immer das Beste zurück«, sagt er und zeigt auf die Ablage hinter dem Empfangstresen. »Ist das dein Algenbrot?«
»Ja.« Mona nickt. »Willst du einen Laib?«
»Gern.
Während Mona ihm das Brot einpackt, wendet Yusuf sich an Doris.
»Tolle Haare«, sagt er.
Peinlich berührt, greift sie sich an den Kopf.
»Ach, findest du? Danke.«
»Violett«, fährt er fort. »Wie eine Waldhyazinthe.« Yusuf nimmt das Brot entgegen und bezahlt. »Danke«, sagt er an Mona gewandt. »Ich sag' dir Bescheid, sobald der Rucola und die Radieschen zur Ernte bereit sind.«
Nachdem Yusuf gegangen ist, geht Mona auf Doris zu. »Du siehst toll aus«, sagt sie. »Jetzt geh zu deinem Date und genieß es.«
»Ich bin ziemlich nervös«, gibt Doris zu. »Ich bin noch nie mit jemand anderem als Göran ausgegangen. Was ist, wenn wir uns nichts zu erzählen haben?«
»Ach«, sagt Marianne beruhigend. »Das habt ihr bestimmt.«
»Ihr könnt doch darüber sprechen, welche Vorteile das Leben über sechzig hat«, schlägt Mona vor. »Überleg doch mal, welche Freiheiten wir gerade haben, verglichen mit unseren Zwanzigern oder Dreißigern, als wir immerzu nur gerackert haben, um über die Runden zu kommen, und uns gleichzeitig Sorgen gemacht haben, was wohl andere über uns denken. Jetzt dürfen wir die Meinungen anderer gekonnt ignorieren, weil es sowieso niemanden interessiert, was ein paar alte Tanten wie wir so anstellen. Wir können machen, was wir wollen – mitten am Tag ins Kino gehen, Kuchen zu Mittag essen und freche Jugendliche anschreien.«
»Ganz zu schweigen von all den Erfahrungen, die wir gesammelt haben. Während deiner ersten siebenundsechzig Lebensjahre hattest du ja keine Ahnung, wie es sich anfühlt, sich die Haare lila zu färben, aber jetzt weißt du es«, fügt Marianne hinzu.
Doris lächelt steif, doch das Lächeln kommt nicht in ihren Augen an.
»Ihr habt sicher recht«, seufzt sie.
»Das haben wir immer«, sagt Marianne fröhlich. »Und außerdem trifft man ja nicht jeden Tag einen Mann, der so selbstbewusst ist, dass er sich Casanova nennt.«
»Und wenn er sich nun für jemand ganz anderen ausgibt, als er ist?«, fragt Doris beunruhigt.
»Wo trefft ihr euch denn?«, fragt Mona.
»In dem kleinen Café am Hafen in Ystad.«
»Gut, da seid ihr wenigstens nicht allein.«
»Vielleicht sollte ich besser irgendetwas mitnehmen, womit ich mich verteidigen kann?«
»Ein Nudelholz?«, schlägt Mona vor.
»Nein, das passt nicht in meine Tasche.«
»Ich weiß was!«, ruft Mona. Sie verschwindet in der Küche und kommt kurz darauf mit einer Glasflasche mit gelbem Inhalt zurück. »Das ist mein hausgemachtes Chiliöl. Es ist sehr stark. Wenn dieser Rolf-Casanova irgendwelche Anstalten macht, dann sprühst du ihm das einfach in die Augen.«
»Danke«, sagt Doris und nickt mit ernster Miene. »Das werde ich tun.« Sie schielt auf die schwarze Bahnhofsuhr an der Wand. »Ich muss jetzt los, sonst verpasse ich noch den Bus.«
»Bist du dir sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?«, fragt Mona. »Ich kann mich ja an den Nachbartisch setzen und eine Zeitung lesen.«
»Nein, das ist nicht nötig«, sagt Doris. »Ich muss das alleine schaffen.«
Mona streicht Doris über die Schulter und zupft ihr langes Kleid zurecht. »Dieser Rolf-Casanova weiß ja gar nicht, was für ein Glück er hat.«
»Danke«, murmelt Doris und wendet sich an Patricia. »Ich habe übrigens immer und immer wieder bei Greta angerufen, aber sie geht nicht ans Telefon.«
»Hat sie vielleicht eine neue Nummer?«
Doris schüttelt den Kopf.
»Ich habe bei der Auskunft nachgefragt, sie sollte also stimmen.«
»Vielleicht fahre ich einfach mal bei ihr vorbei und versuche, mit ihr zu reden«, überlegt Patricia.
»Ja, warum eigentlich nicht.« Doris holt tief Luft und sammelt sich. »Jetzt muss ich aber wirklich.«
»Ganz viel Spaß«, sagt Mona mit einem Lächeln.
Doris verlässt das Hotel, und Mona tischt zum Nachmittagstee auf, während die anderen sich an ihren Stammplatz setzen. Als Patricias Telefon piept, holt sie es rasch hervor.
»Mein Sohn«, erklärt sie.
»Wie viele Kinder hast du?«, fragt Mona.
»Zwei Jungs. Justin ist der jüngere, er lebt in New York und arbeitet an der Börse. Matthew wohnt in Richmond. Das ist ungefähr hundert Kilometer von Charlottesville entfernt«, erklärt sie.
Lina kommt die Treppe heruntergehoppst und umarmt ihre Großmutter.
»Hallo Oma.«
»Hallo, mein Schatz. Wie geht es dir?«
Die Kleine klettert auf Monas Schoß und grinst. »Ich glaube, die große Tasche in dem grünen Zimmer gehört einem Piraten.«
»Ach was? Wie kommst du darauf?«
»Weil da ein Fernglas drin war, und ein langer Stock, der mal ein altes Holzbein war.«
»Das ist ja spannend. Hast du keine Schatzkarte gefunden?«
Lina überlegt und klettert dann wieder von Monas Schoß. »Ich geh nachschauen«, sagt sie und schießt die Treppe wieder hinauf.
»Sie ist wunderbar«, sagt Patricia. »Was für ein Glück du hast, so viel Zeit mit deiner Enkelin zu verbringen.«
»Ja, es ist herrlich, sie zu Besuch zu haben. Hast du Enkelkinder?«
Patricia zeigt Mona Bilder auf ihrem Handy.
»Das sind Zoey und Dax. Sie sind vier und zwei Jahre alt.«
»Die sind aber süß!«, sagt Mona und schlägt vergnügt die Hände aneinander.
»Ja«, seufzt Patricia. »Leider sehe ich sie nicht besonders oft.«
Marianne nimmt ihre Lesebrille ab.
»Warum nicht?«
»Wie gesagt, sie wohnen über hundert Kilometer von mir entfernt.«
»Kannst du nicht in ihre Nähe ziehen?«
»Nein«, sagt Patricia. »Ich lebe auf dem Hof unserer Familie.«
»Kann man den nicht verkaufen?«, fragt Mona vorsichtig.
»Nein, das kann ich nicht.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, sagt Patricia. »Es fällt mir schwer. Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht, und der Hof ist voller Erinnerungen an meine Familie, besonders an die Personen, die nicht mehr am Leben sind.«
»Ich weiß, wie schwierig das ist«, sagt Marianne und dreht an einem ihrer Ohrringe. »Es hat mehrere Jahre gedauert, bevor ich mich von meinem Elternhaus trennen konnte. Doch als ich mich schließlich dazu entschlossen habe, war es eine buchstäbliche Befreiung, zuzusehen, wie der Bulldozer es dem Erdboden gleichgemacht hat. Und jetzt hab ich dieses fantastische Haus, das auf demselben Grundstück wie das alte steht, mit zwei Terrassen, Meerblick, einem Meditationsgarten und Pool. Was jetzt noch fehlt, ist ein Poolhaus mit Trainingsraum und Gästezimmer, aber sobald Evy aufhört, gegen meine Baupläne zu klagen, kann das auch losgehen.«
»Wenn du deine Enkel so vermisst, ist es vielleicht eine Überlegung wert?«, schlägt Mona vor. »Also, nicht das Haus dem Erdboden gleichzumachen«, sagt sie und wirft Marianne einen verstohlenen Blick zu, »sondern umzuziehen.«
»Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, ob sie mich überhaupt in der Nähe haben wollen. Mein Sohn hat sicherlich nichts dagegen, aber seine Frau, Denise, ist bestimmt anderer Ansicht.«
»Ach was«, entgegnet Mona. »Erstens ist es doch nicht ihre Entscheidung, wo du wohnst. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand etwas gegen ein extra Paar helfende Hände einzuwenden hätte. Welche Eltern von Kleinkindern schlagen denn so etwas aus?«
Marianne deutet auf Markus, der in der hintersten Ecke des Cafés sitzt, die Augen auf sein Handy geheftet.
»Sie sind nur für einen kurzen Augenblick klein. Plötzlich sind sie halb erwachsen, und es wird schwer, mit ihnen zu kommunizieren.«
Patricia nickt. Sie hatte schon mit der Idee gespielt, sich in Richmond niederzulassen, um Zoey und Dax sehen zu können, wann immer sie will, aber sie hatte immer Angst davor, was passieren wird, wenn sie sich von dem Hof in Mill Creek trennt. Außerdem spukt dieser alberne Gedanke in ihrem Kopf herum, dass sie bleiben muss, falls Madeleine eines Tages zurückkommt und nach ihr sucht.
Sie holt ihr Handy wieder hervor und schreibt an Matthew.
Was würdest du davon halten, wenn ich nach Richmond ziehe? Wahrscheinlich ist es albern, ihm diese Nachricht zu schicken, da sie Mill Creek niemals verlassen könnte, doch gleichzeitig ist sie gespannt auf die Antwort ihres Sohnes. Wenn er dem Vorschlag positiv gegenübersteht, könnte ihr das den nötigen Anschub geben. Sie könnte sicherlich einen Teilzeitjob in Richmond finden und eine kleine Wohnung mieten, um zu sehen, wie es sich anfühlt, dort zu leben.
Sie nimmt all ihren Mut zusammen und drück auf Senden. Als ihr angezeigt wird, dass die Nachricht verschickt wurde, zieht es in der Magengegend, und sie würde am liebsten einen Rückzieher machen, doch es ist zu spät. Sie schickt eine weitere SMS hinter: Entschuldigung, es war dumm von mir, du weißt ja, ich kann mich von dem Hof nicht trennen.
Patricia legt das Telefon weg und denkt an das alte Haus, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Es war gar nicht so schlimm wie befürchtet, den Hof zu verlassen, vor allem jetzt, da sie sich an einem Ort befindet, an dem sie sich ihrer Schwester nahe fühlt. Aber das Haus zu verkaufen wäre eine ganz andere Sache. Die Vorstellung, nie wieder den Flur zu betreten und den Türrahmen zu sehen, in dem eingeritzt worden war, wie sehr die Kinder Jahr für Jahr gewachsen sind, oder in Madeleines Zimmer zu gehen, das immer noch so aussieht, als hätte sie es gerade erst verlassen, schmerzt im ganzen Körper.
Schnell schiebt sie den Gedanken beiseite. Das Haus ist alles, was sie noch hat, und Patricia will sich nicht davon trennen. Ihre Sehnsucht, mehr Zeit mit Dax und Zoey zu verbringen, wird von der Angst überschattet, alles zu verlieren, was ihr noch geblieben ist. Die Leere, die Madeleine hinterlassen hat, ist alles, was noch übrig ist, sie ist ihr einziger Anker, und Patricia hat keine Ahnung, was für ein Mensch sie ohne diese Leere ist.