Madeleine steht mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Kiosk, als der Betreiber des kleinen Ladens gerade aufschließt. Der Himmel ist grau. Schwere Wolken hängen tief über dem Ort, und die Luft ist kühl.
Madeleines Magen knurrt, aber das ist nicht der Grund, warum sie hier ist. Der Kioskbetreiber ist kein Mitglied der Freikirche, und Madeleine will ihn fragen, ob er weiß, wo Evy wohnt.
Als ein älterer Herr mit seinem Hund vorbeikommt, wendet Madeleine das Gesicht ab, um nicht erkannt zu werden.
Sie weiß immer noch nicht genau, was am vergangenen Abend wirklich vorgefallen ist. Aino hat selbst gesagt, dass es ihr gutgeht. Und Desirée hat recht – Madeleine hatte es nicht gerade einfach im Leben. Vielleicht ist Pastor Lindberg einfach nur jemand, der sich Menschen mit tragischem Hintergrund annimmt. Vielleicht ist er eine hilfsbereite Person, der es gerade jetzt auch einmal schlechtgeht. Doch dann denkt Madeleine wieder an die Ohrfeige, die er Jonas verpasst hat. War das auch nur ein Ausdruck der Verzweiflung gewesen?
Sie wünscht, sie könnte mit Jonas sprechen. Madeleine spielt mit der kleinen Silbernote an ihrer Halskette. Sie würde ihm gerne etwas schenken, als Dank für das Mixtape.
Endlich öffnet der Kioskbesitzer die Tür einen Spalt breit, und Madeleine erklärt ihm ihr Anliegen. Der Mann hat einen großen, buschigen Schnauzbart, der zittert, wenn er spricht. Ein paar lange Sekunden überlegt er, dann streckt er die Hand aus und zeigt auf die Hauptstraße.
»Das graue Haus mit den blauen Fenstern«, murmelt er unter seinem Bart hervor.
Madeleine geht mit schellen Schritten auf Evys Haus zu. Sie weiß nicht, warum, aber sie will nicht gesehen werden. Als sie vor dem kleinen Haus steht, klopft sie laut und mit fester Hand an die Tür, doch nichts passiert.
Madeleine späht durch eines der Fenster. Sie kann ein einfach möbliertes Büro erkennen. Ein grauer Bürostuhl mit Rollen steht vor einem Eckschreibtisch aus Kiefernholz. Wenn Evy nicht zu Hause ist, weiß Madeleine nicht, wohin sie gehen soll.
Sie denkt an die Gespräche, die sie bezüglich Amanda geführt hat, und wie sowohl Rut als auch Pastor Lindberg sie dazu überreden wollten, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Wollten sie wirklich aus Respekt gegenüber Amanda nicht darüber sprechen, oder gab es andere Gründe?
Sie zieht die Jacke enger um ihren Körper und klopft noch einmal. Evy muss einfach zu Hause sein, denn Madeleine muss wissen, was sie neulich am Strand gemeint hat.
Es vergeht eine ganze Weile, doch dann wird der Schlüssel im Schlüsselloch umgedreht.
Als Evy öffnet, scheint sie Madeleine erst nicht wiederzuerkennen, aber dann taucht Mats neben ihr auf. Er begrüßt sie fröhlich und reckt ein rotes Feuerwehrauto aus Plastik in die Luft, dessen Leiter ganz schief am Dach des Autos hängt.
»Hallo«, sagt Madeleine. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Komm rein«, erwidert Evy und hält die Tür auf.
Madeleine bittet um nichts, doch sie muss hungrig aussehen, denn Evy kocht eine Kanne Tee und fragt Madeleine, ob sie Lust auf ein Sandwich hat.
Anfangs sprechen sie nicht so viel miteinander, aber Mats plappert beinahe ununterbrochen, während er mit seinem Feuerwehrauto über den Fußboden fährt.
Als der Tee fertig ist, setzt Evy sich am Küchentisch Madeleine gegenüber. Ihr Blick ist ernst. Sie streichelt Mats über den Kopf und fragt, ob er mit seinen Legosteinen spielen möchte. Er sagt ja und verschwindet in einem anderen Zimmer.
Madeleine umschließt die warme Tasse mit den Händen und nippt am Tee. Als Evy ihr den Brotkorb reicht, nimmt sie eine Scheibe, beschmiert sie und isst hastig.
Es ist, als ahne Evy bereits, warum sie zu ihr gekommen ist, trotzdem weiß Madeleine nicht, wo sie anfangen soll. Sie beißt sich auf die Lippen und überlegt, was genau sie fragen will, als Evy das Wort ergreift.
»Wie geht's dir?«
Madeleine hat es noch gar nicht geschafft, über ihre eigene Rolle in der ganzen Sache nachzudenken.
»Gut«, sagt sie.
Evy mustert sie schweigend.
»Mir geht es gut«, wiederholt Madeleine, dieses Mal mit mehr Nachdruck. »Eigentlich möchte ich Sie etwas fragen.«
»Okay.« Evy nickt.
»Als wir uns am Strand getroffen haben, haben Sie etwas zu mir gesagt, das ich nicht ganz verstanden habe.«
»Dass du auf dich aufpassen sollst?« Evy lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, ohne den Blick von Madeleine abzuwenden.
»Ja, genau.«
Evy stellt ihre Tasse ab und senkt den Blick auf den Tisch. Ihre Stirn hat sie in nachdenkliche Falten gelegt, und ihr angespannter Gesichtsausdruck lässt sie streng aussehen.
»Ich wohne jetzt seit fünf Jahren in Ljusskär, und in dieser Zeit habe ich viele junge Frauen zur Freikirche kommen sehen.«
Madeleine ändert ihre Position. Sie sitzt auf einem alten gepolsterten Küchensofa, das so aussieht, als wäre es aus dem neunzehnten Jahrhundert.
»Ja, wegen des internationalen Austauschprogramms.«
»Genau.« Evy verstummt und dreht die Teetasse in ihren Händen, dann sieht sie wieder auf und sagt schließlich: »Was glaubst du denn, was ich gemeint habe?«
Madeleine schluckt. Es fühlt sich an, als hätte sie eine riesige Blase in ihrem Inneren, die kurz vorm Platzen ist.
»Wissen Sie, wer Amanda ist?«
»Nein«, antwortet Evy. »Aber ich weiß, wer Debra ist. Sie ist vor vier Jahren nach Ljusskär gekommen, und ich habe sie zufällig getroffen. Als Mats noch ein Baby war, hat er nicht so gut geschlafen, also bin ich oft mit dem Kinderwagen unterwegs gewesen. Eines Tages sah ich sie allein am Strand sitzen. Als ich sie fragte, wie es ihr geht, brach sie zusammen und fing an zu weinen. Sie war schwanger und wusste nicht, was sie tun sollte.«
»Schwanger!«, entfährt es Madeleine. »Von wem?«
Evy fährt sich durch das kurze, sandfarbene Haar.
»Das wollte sie mir erst nicht erzählen. Die Vorstellung, was passieren würde, wenn alles herauskäme, hat sie in Angst und Schrecken versetzt.«
»Wollen Sie sagen, jemand aus der Kirche …« Madeleine verstummt.
»Was ich nach und nach verstanden habe, ist, dass diejenigen, die hierherkommen, oft eine schwierige Vergangenheit haben«, fährt Evy tonlos fort. »Es sind immer junge Frauen, die sensibel und leicht zu manipulieren sind.«
»Nein, das stimmt nicht«, widerspricht Madeleine und hält die Hände im Protest hoch. »Deswegen sind wir nicht hier. Pastor Lindberg will uns helfen.« Die Worte strömen aus ihr heraus, doch im selben Augenblick wird sie von Zweifeln gepackt.
Evy legt den Kopf schräg. Ihr Gesicht zeigt nun weichere Züge.
»Männer, die Täter sind, haben oft das Talent, Vertrauen zu ihren Opfern aufzubauen. Auf diese Weise ist es für die Gepeinigten schwierig, etwas dagegen zu unternehmen. Debra erzählte mir, dass sie in ihn verliebt war. Dass sie dachte, er würde seine Frau verlassen und ein neues Leben mit ihr beginnen.«
Madeleine seufzt. Ihr fällt wieder ein, was Desirée über Evy gesagt hat, dass sie etwas gegen die Gemeinde hat. Doch wie sehr sie auch versucht, die widersprüchlichen Gefühle, die in ihr wachsen, wegzuschieben – es ist unmöglich, denn irgendwo tief im Inneren haben sie bereits Wurzeln geschlagen.
Sie fängt an zu zittern und schlingt die Arme um ihren Oberkörper. Sie fühlt sich steif und durchgefroren an. Evy verlässt die Küche und kommt mit einer Decke zurück, die sie ihr über die Schultern legt.
Madeleine knabbert an einem Fingernagel. Wie kann sie das nur übersehen haben? Wie kann sie so dumm gewesen sein?
Ihr fällt wieder ein, was Rut in der Nacht zu Pastor Robert gesagt hat. Dass es nur ein Ausrutscher war. Doch wenn Evy die Wahrheit sagt, scheint es ja schon einmal passiert zu sein. Ist Amanda deswegen nach Hause gefahren? Wurde auch sie zum Opfer?
Sie sieht Pastor Lindberg vor sich, und ein Zucken fährt durch ihren Körper. Madeleine fällt es schwer zu schlucken. Sie fühlt sich fürchterlich verraten. Sie hatte geglaubt, der Kirche vertrauen zu können, dem Pastor vertrauen zu können, und Rut.
Zitternd zieht sie die Decke fester um sich. Ihr ganzer Körper schreit, dass er von hier verschwinden will. Sie will nach Hause, nach Mill Creek, und nie wieder hierher zurückkommen.
»Wie viele?«, fragt sie, ohne aufzusehen.
»Das weiß ich nicht«, antwortet Evy. »Soweit ich weiß, hat Pastor Lindberg das Austauschprogramm bereits in den Siebzigern gestartet, und während meiner Zeit in Ljusskär habe ich unzählige junge Frauen kommen und gehen sehen.«
Madeleine umschließt ihre silberne Note mit der Hand.
»So etwas darf man nicht sagen, wenn man nicht sicher ist, ob es stimmt.«
»Nein«, erwidert Evy mit ernstem Blick. »Aber nichts zu unternehmen, wenn man weiß, dass es wahr ist, ist noch schlimmer.«
»Haben Sie mit jemandem von der Kirche darüber gesprochen?«
Evy sieht aus dem Fenster.
»Das habe ich mehrmals versucht, aber niemand will zuhören.«
Madeleine sinkt in sich zusammen. Sie denkt an ihre eigenen Treffen mit dem Pastor zurück, wie er seine Arme um ihre Taille geschlungen und sie gebeten hat, von ihrem Vater zu erzählen. Was wäre passiert, wenn sie nicht unterbrochen worden wären?
Mats ruft aus dem anderen Zimmer, und Evy geht zu ihm. Madeleine schließt die Augen. Die Müdigkeit übermannt sie und sie spürt, wie sie in eine tiefe Dunkelheit gepresst wird. Langsam rutscht sie tiefer in das Küchensofa, bis sie zusammengekauert unter der großen Decke liegt.
Sie muss eine Möglichkeit finden, nach Hause zu kommen. Das Flugticket ist teuer, das weiß sie. Und sie wird kaum die Kirche um Hilfe bitten können. Doch was wird aus Desirée und Aino, wenn Madeleine die Kirche verlässt? Sie müssen auch von hier weg.
Die wirren Gedanken ermatten sie nur noch mehr. Aus der Ferne hört sie Mats fröhliche Stimme, die ihr Sicherheit verleiht, und langsam fällt sie in einen tiefen Schlaf.