Der Kiesweg knirscht unter den Rädern. Patricia sieht aus dem Wagenfenster. Sie sind auf dem Weg zu einem Hof, der etwas abseits liegt, einsam zwischen grünen Feldern, mit einigen Klecksen Mohn am Wegesrand. Österlen ist eine wunderschöne Region.
Die Sonne scheint auf die kilometerweite Wiesenlandschaft, die sich in sanften Wellen vor ihnen erstreckt, und in der Ferne ist das Rauschen des Meeres zu hören.
Sie fahren an vielen niedrigen Häusern mit verputzten weißen Fassaden und gepflasterten Innenhöfen vorbei. Vor einigen von ihnen wurden Schilder aufgestellt, die zu Hofläden einladen. Sie sehen geheimnisvoll aus, halb verborgen hinter üppigen Laubbäumen.
»Was verkaufen diese Hofläden eigentlich?«, fragt Patricia.
»Alles Mögliche, von selbstgebrautem Bier bis Sauerteigwaren. Einige von ihnen bauen Obst und Gemüse an – Himbeeren, Rhabarber, Kräuter und vieles mehr. Andere stellen ihren eigenen Käse her, oder verkaufen Kunsthandwerk oder Honig.«
Patricia nickt. Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf, und sie erschaudert. Die Schatten, die sich langsam über die Felder legen, haben etwas Unheilverkündendes.
Sie sieht zu Doris, die neben Marianne auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat.
»Was weißt du über Pastor Robert?«, fragt sie vorsichtig.
Doris denkt einen Augenblick nach, bevor sie sich umdreht.
»Er war nur für ein paar Jahre Mitglied der Kirche. Ich glaube, Pastor Lindberg hat ihn unter seine Fittiche genommen.«
»Hast du eine Idee, warum er die Gemeinde verlassen haben könnte?«
»Nein. Aber ich weiß noch, dass ich es damals ein bisschen merkwürdig fand. Er und Pastor Lindberg haben eng zusammengearbeitet. Es hat also viele verwundert, als er gekündigt hat.«
»Hattest du hinterher noch Kontakt zu ihm?«, fragt Patricia.
»Nein, aber ich habe gehört, dass er auf einem Hof in Stjärnehov lebt. Das ist dort hinten bei der alten Stärkefabrik.« Doris zeigt aus dem Autofenster. »Dort drüben muss es sein«, sagt sie entschlossen.
Sie biegen in die Kieseinfahrt vor einem baufälligen, roten Haus ein. Es ist von Gestrüpp umgeben, und die angrenzende Scheune sieht ebenfalls heruntergekommen aus. Zwischen den beiden Gebäuden türmen sich Berge von Gerümpel. Neben einem in Einzelteile zerlegten alten Chevrolet liegt ein umgefallener Kleiderschrank, ein rostiger Herd, eine Ansammlung von Autoreifen und ein ganzes Meer prallgefüllter schwarzer Abfallsäcke.
Misstrauisch steigt Patricia aus dem Wagen. Der Hof sieht aus wie eine Müllkippe. Doris geht auf das Haus zu, und Patricia und Marianne folgen dir. Doris steigt auf die provisorische Treppe in Form eines Zementblocks. Sie dreht sich zu Patricia um, wirft ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, dann klopft sie an.
»Robert, bist du zu Hause?« Als niemand antwortet, versucht Doris es ein zweites Mal. »Robert?«, ruft sie mit sanfter Stimme und klopft erneut. »Ich bin's, Doris. Erinnerst du dich?«
Ein Fenster steht offen und von drinnen hört man Stimmen aus einem Fernseher. Marianne steigt neben Doris auf den Zementblock. »Hallo? Jemand zu Hause?«, ruft sie laut.
Als immer noch nichts passiert, legt sie die Hand auf die Türklinke und drückt sie herunter. Die Tür gleitet auf.
»Was machst du denn?«, fragt Doris erschrocken.
»Ich öffne die Tür«, sagt sie. »Er sitzt sicher irgendwo herum.«
Sie betreten den Flur, und ein süßlicher Duft schlägt ihnen entgegen. Auf dem Boden liegen Berge von schmutzigen Klamotten und anderem Gerümpel.
Patricia geht in die Küche und hält sich instinktiv die Nase zu. Auf dem Herd haben sich leere Bierflaschen angesammelt, das Waschbecken ist voll von dreckigem Geschirr, und über dem Tisch kreisen die Fliegen über vergessenen Essensresten.
Doris ist bleich im Gesicht.
»Wir können doch hier nicht einfach so reingehen«, murmelt sie.
»Hallo Robert, wir wollten mit dir sprechen«, ruft Marianne. »Weil du uns nicht aufgemacht hast, haben wir uns selbst hereingebeten.«
Alle drei warten ab und lauschen.
»Hört ihr etwas?«, fragt Doris ängstlich.
Marianne nickt und tritt in den nächsten Raum, der das Wohnzimmer zu sein scheint. Patricia folgt ihr. Der Fernseher läuft mit leisem Ton. Davor stehen zwei hellblaue Plüschsessel, aber beide sind so mit Dingen vollgepackt, dass man sich nicht setzen kann. Mit dem Rücken zu ihnen steht eine durchgesessene Couch, bedeckt mit Kleidern und Decken, vor ihr ein Tisch, auf dem allerlei Krams liegt.
»Robert?«, wiederholt Marianne, als sich auf der Couch etwas regt. Doris schreckt auf. Ein lautes Stöhnen dringt aus dem Deckenberg, und Patricia geht einen Schritt zurück.
Ein Mann mit einem buschigen, weißen Bart setzt sich auf. Sein Blick ist trübe, und er blinzelt.
Doris lehnt sich vor.
»Robert«, entfährt es ihr. »Wie geht es dir?«
»Nicht so gut«, wimmert er.
»Ich hol' ein Glas Wasser«, sagt Marianne. »Wenn ich denn ein sauberes finde.«
Der Mann auf der Couch reibt sich das Gesicht. Es ist rot und aufgedunsen, und ein schmutziges T-Shirt spannt sich über seinen Bauch.
»Hier«, sagt Doris und reicht ihm eine Brille, die er sich aufsetzt.
Robert schaut von einer zur anderen, und als Marianne ihm ein Glas Wasser reicht, trinkt er mit großen Schlucken.
»Wer seid ihr?«, fragt er verwirrt.
»Ich bin Doris. In den Achtzigern waren wir beide Mitglieder derselben Gemeinde, in der Freikirche, erinnerst du dich?«
»Ach ja. Was willst du?«, seufzt er.
»Erkennst du mich?«
»Ja, ja, nun raus mit der Sprache.«
»Meine Freundinnen Patricia, Marianne und ich wollen herausfinden, was damals mit Madeleine Grey passiert ist. Sie war Praktikantin in der Kirche im Jahr 1987, aber hat die Gemeinde an einem Tag im August plötzlich verlassen.«
»Ich erinnere mich«, sagt Robert mit breiiger Stimme.
»Sehr gut«, antwortet Doris. »Ich habe gerade mit Rut Lindberg gesprochen, die meinte, du hättest sie in einen Bus nach Malmö steigen sehen, an dem Abend, an dem sie verschwunden ist.«
Robert nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen. »Nein«, grunzt er. »Das war nicht ich.«
»Das hat Rut uns aber erzählt«, wiederholt Doris.
Er schüttelt den Kopf und überprüft seine Brillengläser, bevor er sie an seinem T-Shirt putzt.
»Dann lügt sie.«
»Sind Sie sich sicher?«, hakt Patricia nach.
Robert setzt seine Brille wieder auf und sieht sie an.
»Ja, ganz sicher. Ich habe Madeleine in keinen Bus steigen sehen, und es wundert mich nicht im Geringsten, das Rut Unsinn erzählt.«
Auf Doris' Stirn bildet sich eine Falte.
»Wie kommst du darauf?«
»Wir haben uns zerstritten«, sagt Robert und lehnt sich zurück.
»Weshalb?«
Er fährt sich mit der Hand durch den weißen Bart, sein Blick schweift aus dem Fenster.
»Es ging um ihren Mann, Pastor Lindberg. Er hat sich gegenüber einer Adeptin unpassend verhalten, und als ich versucht habe, mit ihm darüber zu sprechen, hat er mich angeschrien.« Robert zuckt die Achseln. »Rut wollte mir versichern, dass er so etwas noch nie getan habe und dass alles nur passiert sei, weil sein Vater erkrankt ist, aber ich weiß nicht, ob das der Wahrheit entspricht. Ich war der Meinung, dass er seinen Dienst nicht weiterführen konnte, doch Rut bestand darauf, dass er nur eine Pause bräuchte. Ein paar Wochen später kam er zurück in den Dienst, als wäre nichts passiert, und ich habe gekündigt.« Er atmet schwer. »Das hat mich nie richtig losgelassen. Schon in meinem ersten Jahr bei der Freikirche wurde geflüstert, dass es einen Grund gab, warum so viele Adepten die Kirche ohne Begründung wieder verließen, aber Rut und Pastor Lindberg versicherten mir, dass das nur Behauptungen böser Zungen seien. Sie waren beide sehr nett zu mir, haben mich in der Gemeinde willkommen geheißen, als ich keinen anderen Ausweg wusste, und haben mir eine Ausbildung gegeben. Ich habe wirklich an sie geglaubt, doch dann ist diese Sache mit Aino passiert, und plötzlich ergab sich ein größeres Bild. Im Nachhinein habe ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich die Kirche verlassen habe, statt zu bleiben und alles aufzudecken.«
»Und Madeleine?«, fragt Patricia ungeduldig. »Wissen Sie, ob jemand anderes sie in diesen Bus hat steigen sehen?«
Robert schüttelt den Kopf.
»Das weiß ich leider nicht«, sagt er.
Das Herz galoppiert in Patricias Brust, und obwohl sie versucht, normal zu atmen, fühlt sie sich, als würde sie jeden Moment explodieren. Sie hatte wirklich geglaubt, endlich auf der richtigen Spur zu sein.
»Ich brauch frische Luft«, sagt sie und verlässt das Wohnzimmer.
Die dunklen Wolken ziehen näher. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen und der Wind peitscht unheilbringend gegen ein Wellblech, das gegen die Scheunenwand donnert. Patricia drückt ihre Knöchel gegeneinander. Seit ihr zum ersten Mal berichtet wurde, dass Madeleine Ljusskär verlassen hat, hat sie sich gefragt, ob das wirklich wahr ist. Doch die Polizei klang so überzeugend, dass Patricia ihr eigenes Bauchgefühl ignoriert hat.
Tränen steigen ihr in die Augen, und sie lehnt sich gegen die Hauswand. Warum hat Rut gelogen, und warum hat Patricia ihrer Intuition nicht mehr vertraut, als sie 1987 zum ersten Mal hier war? Sie hätte erkennen müssen, dass etwas nicht stimmte. Diese Gefühle sind kaum zu ertragen, und als Doris vors Haus kommt, um Patricia zu trösten, fällt sie ihr in die Arme.
»Wenn sie nie in diesen Bus gestiegen ist, wo ist sie denn dann hingegangen?«, schnieft sie an Doris' Schulter. »Ich muss es wissen, ich halte das langsam nicht mehr aus.«
Marianne taucht neben ihnen auf und legt eine Hand auf Patricias Rücken.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Aber wir müssen wieder zurückfahren, es sieht nach einem Unwetter aus.«
Doris führt Patricia zurück zum Auto, und alle drei steigen ein. Marianne startet den Wagen.
»Glaubt ihr ihm?«, fragt sie.
Patricia sieht Doris an, dann nickt sie.
»Ich auch«, sagt Marianne und schaltet in den ersten Gang.
»Aber ich verstehe nicht, warum Rut uns angelogen hat«, murmelt Doris.
»Fragen wir sie doch einfach«, sagt Marianne.