Franziska

Sommer 1995

Nun begingen sie also die erste Beerdigung in der alten und neuen Heimat. Nicht auf Dranitz hatte Gevatter Tod zugeschlagen, sondern in Ludorf. Aber in den wenigen Jahren, in denen sie Max Krumme gekannt hatte, war ihr der alte Mann ans Herz gewachsen, war beinahe zu einem Familienmitglied geworden. Unverwüstlich war er ihnen allen erschienen, ein Stehaufmännchen, wie man so sagte. Einer, der immer positiv in die Zukunft geschaut hatte, der nicht nur redete, sondern die Dinge in die Hand nahm. Schlau war er gewesen, der alte Max. Einen guten Blick fürs Geschäft hatte er gehabt. Aber vor allem war er Ulli ein zuverlässiger, väterlicher Freund gewesen.

»Siebenundsiebzig ist er nur geworden«, meinte Walter. »Aber ich glaube, er hat die letzten fünf Jahre doppelt gelebt.«

»Ja«, sagte sie nachdenklich. »Vielleicht kommt es nicht auf die Zahl der Lebensjahre an, sondern darauf, ob es erfüllte, glückliche Jahre gewesen sind.«

»Ganz sicher«, antwortete er.

Sie waren enger zusammengerückt, seitdem die Todesnachricht auf Dranitz eingetroffen war. Plötzlich stand Franziska vor Augen, dass die Lebenszeit kostbar war und dass man sie nicht mit Nebensächlichkeiten vergeuden durfte. Am Abend leistete sie Walter im Wohnzimmer Gesellschaft, der Fernseher blieb ausgeschaltet, stattdessen redeten sie miteinander. Das Tagesgeschehen war ebenso ein Thema wie diese oder jene Erinnerung an alte Zeiten oder die Sorgen um Restaurant und Gutshaus. Walter berichtete über den Stand der Ausgrabungen, zeigte ihr Kopien von Klosterchroniken und beschwor eine ferne, längst vergangene Zeit herauf, die Franziska mehr und mehr faszinierte.

»Dieser Flecken Erde ist seit dem Mittelalter besiedelt. Wie viele Schicksale sich da zugetragen haben!«

Walter hatte den Plan gefasst, eine Chronik zu schreiben, in der die Geschichte des Klosters, aber auch die Entwicklung nach dessen Auflösung geschildert werden sollte.

»Wenn mir die Zeit dazu noch bleibt«, sagte er lächelnd.

»Ich helfe dir«, versprach Franziska. »Wir machen es wie Mine und Karl-Erich: Wir werden gemeinsam schreiben.«

Mine und Karl-Erich! Ach, die beiden hatte die Nachricht von Max Krummes Tod am härtesten getroffen. Jenny war mit Ulli zu ihnen gefahren, um die schlimme Botschaft zu überbringen, und sie hatte erzählt, dass Mine geweint hatte.

»Sie haben sich Vorwürfe gemacht, dass sie den Max nicht noch mal besucht haben, dabei hätte man sie doch eh nicht zu ihm gelassen.«

Ein Gutes hatte Max’ Tod aber doch bewirkt – Jenny und Ulli waren wieder miteinander versöhnt. Unzertrennlich waren sie seit diesem Tag. Ulli übernachtete bei Jenny, und wenn Mücke auf ihre Freundin im Kindergarten verzichten konnte, fuhren sie am Morgen gemeinsam nach Ludorf, wo sie sich nützlich machte. Im Prinzip war Franziska sehr froh über diese Entwicklung, allerdings konnte das auf Dauer nicht gut gehen, weil Jenny ihren Kredit bedienen musste. Außerdem musste sie sich um das Gutshaus und das Restaurant kümmern. Seit Bodo Bieger weg war, stand allein die Küchenhilfe Erika in der Küche, am Wochenende unterstützt von einer der beiden Aushilfen, die andere musste servieren. Tolle Menüs gab es nicht mehr, eher Hausmannskost und die berühmte Gutsherrenplatte. Lange konnte das nicht so weitergehen, aber einen neuen Koch zu finden, erwies sich als ausgesprochen schwierig. Und jetzt hatte Jenny auch noch ihre Klausuren. Die richtigen, nicht die Probeklausuren. Heute würden sie den armen Max nun also zu Grabe tragen, und morgen müsste Jenny dann nach Hamburg, um die Prüfungen abzulegen, die sich über mehrere Tage erstreckten. Franziska fürchtete, dass sie nicht genug gelernt hatte bei all den sich überschlagenden Ereignissen, aber ihre Enkelin gab sich erstaunlich gelassen. Hoffentlich würde alles gut gehen!

Max hatte ein notariell beglaubigtes Testament hinterlegt, das vom Amtsgericht eröffnet und in Kopie an die Erben versandt worden war. Darin bestimmte er, dass sein Leichnam verbrannt und die Asche über dem See verstreut werden sollte. Seine Töchter Elly und Gabi waren dagegen gewesen, allein schon, weil es verboten war, die Asche eines Toten über der Müritz zu verstreuen, aber sein Sohn Jörg hatte, von Ulli unterstützt, bestimmt, dass es eine Totenfeier in der Ludorfer Kirche geben würde, damit alle seine Freunde von ihm Abschied nehmen konnten. Anschließend würde er die Urne an sich nehmen, um dem letzten Willen seines Vaters Folge zu leisten. Es hatte hartnäckiger Verhandlungen mit dem Bestatter bedurft, da in Deutschland »Friedhofszwang« herrschte, aber schließlich hatte dieser sich bereit erklärt, die Urne gegen einen entsprechenden »Aufpreis« auszuhändigen, wovon allerdings nur Ulli und er etwas wussten. Ulli hatte es Mine gesagt, und die hatte es Franziska unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut …

Die drei Krumme-Kinder hatten sich im Gutshotel Dranitz einquartiert, weil ihnen, wie sie Elfie am Frühstückstisch erzählten, die moderne Unterkunft in Waren so gar nicht zugesagt hatte. Hals über Kopf waren sie beim ersten Mal angereist, nachdem die Klinik sie informiert hatte, und kaum gab es Entwarnung und sie waren wieder nach Prenzlau und Dranitz zurückgekehrt, kam die überraschende Todesnachricht. Wenn sie gewusst hätten, dass Jenny mit diesem »Erbschleicher« zusammen war, wie die beiden Ulli laut ihrer Enkelin genannt hatten, wären sie bestimmt nicht hier abgestiegen. Nur Jörg schien Ulli gegenüber frei von Ressentiments zu sein.

Der Sommer zeigte sich von seiner besten Seite, die Sonne brannte vom klaren, wolkenlosen Himmel, kaum ein Lüftchen ging, der See lag ruhig, er hatte die Farbe des Himmels angenommen und leuchtete in hellen und dunklen Blautönen.

»Eine Abschiedssinfonie für Max«, bemerkte Franziska auf dem Weg zur Kirche lächelnd.

Sie erhielt keine Antwort. Walter musste den Wagen abbremsen, weil ein Motorradfahrer sie überholte, während ihnen ein Traktor mit Anhänger entgegenkam. Mine und Karl-Erich auf dem Rücksitz schwiegen kummervoll vor sich hin. In Ludorf wartete Ulli auf dem Parkplatz, um dem Opa aus dem Wagen und in seinen Rollstuhl zu helfen.

»Gut, dass wir euch Plätze freigehalten haben«, sagte Jenny, die ebenfalls herbeigelaufen war. »Es wird so voll, dass gar nicht alle in die Kirche passen. Zum Glück ist Julchen bei Mücke und den Zwillingen geblieben, die wär mir bei der Hitze sonst noch umgekippt. Sie wollte sich so gern von ihrem Onkel Max verabschieden, aber sie hat sich schließlich doch einsichtig gezeigt.«

»Ist ja auch nichts für so ’n Kind«, ließ sich Mine vernehmen, und Franziska nickte zustimmend.

Die alte Backsteinkirche St. Maria und St. Laurentius wurde von den Touristen häufig bestaunt. Ein verwinkelter Bau auf einer achteckigen Grundfläche mit Strebepfeilern und drei kleinen Kapellen, die man später angebaut hatte. Ein Pilger, der aus Jerusalem zurückgekehrt war, sollte sie im frühen Mittelalter, inspiriert von der Kapelle des Heiligen Grabes, gestiftet haben. Heute war sie bis auf den letzten Winkel mit Trauergästen angefüllt. Alle waren sie gekommen, die Freunde aus Dranitz und aus Ludorf, dazu die Leute vom Zeltplatz und auch die Angestellten. Wer in der Kirche keinen Platz mehr fand, blieb draußen vor den weit geöffneten Türen stehen, manch einer setzte sich in den Schatten der alten Bäume und lauschte von dort aus der Zeremonie durch das weit geöffnete Kirchenportal. Als Jenny, Hand in Hand mit Ulli, ihnen die frei gehaltenen Plätze zeigte, fiel Franziskas Blick auf die drei Kinder von Max, die in der ersten Reihe Platz genommen hatten. Gabi hatte Ulli entdeckt, deutete auf das junge Paar und flüsterte Elly etwas ins Ohr, die sich daraufhin umdrehte und die beiden, Franziska und Walter anstarrte. Und dann begann auch schon der Trauergottesdienst. Der junge Pfarrer sprach sehr einfühlsam und fasste sich kurz in Anbetracht der vielen Gäste, die draußen vor der Kirche in der Hitze standen. Am Ende der Zeremonie stand Jörg Krumme auf, trat nach vorn und lud alle Ludorfer Gäste zum Trauerkaffee auf »Herrn Ulli Schwadkes« Zeltplatz ein; die Gäste aus Dranitz sowie die Familie würden im Restaurant des Gutshotels bewirtet. Das hatte er zuvor mit dem Ulli abgesprochen.

Als die drinnen versammelten Trauernden hinaus auf den Kirchhof traten, gingen die anderen hinein, um ihre Blumen vor Max Krummes Urne abzulegen.

»Nee«, sagte Karl-Erich zu Jenny, die seinen Rollstuhl aus der Kirche schob. »War nicht anständig von ihm, bei dieser Hitze den Abgang zu machen. Hätte gut bis zum Herbst warten können, der Max. Aber der hatte ja immer seinen eigenen Kopf!«

»Den hatte er!«, bestätigte Ulli und sah zu Simon Strassner hinüber, der mit seiner Freundin ebenfalls gekommen war und ihm sein Beileid ausgesprochen hatte. Auch Evelyne Schneyder hatte ihm die Hand geschüttelt, und Franziska hatte verwundert festgestellt, dass der gute Ulli dabei einen roten Kopf bekam. Vielleicht lag es aber auch an der Hitze.

»Wir kommen später nach«, sagte Jenny, als Karl-Erich wieder wohlbehalten neben Mine im Auto saß und der Rollstuhl im Kofferraum verstaut war. »Die Elke Stock erwartet die Gäste auf dem Zeltplatz – es ist alles organisiert, es dürfte also nicht allzu lange dauern, auch wenn ich fürchte, dass es auf dem Zeltplatz nicht bei Kaffee und Kuchen bleiben wird. Keine Sorge, Oma! Der Ulli muss nur kurz nach dem Rechten schauen, ich bleibe bei Wasser, damit ich ihn hinterher sicher nach Dranitz fahren kann.«

Nach und nach trudelten die Trauergäste im Gutshaus ein. Mine hatte gestern noch mehrere Bleche mit Kirsch- und Butterstreusel in den Ofen geschoben, aber auch Tine Koptschik, Mücke und Irmi Stock wollten Selbstgebackenes beisteuern. Gerda und Kalle hatten versprochen, für die geistigen Getränke zu sorgen, das sei wichtig, denn eine Beerdigung musste traurig beginnen, aber einen fröhlichen Ausgang haben. Tatsächlich wurde das Restaurant des Gutshauses am heutigen Tag so voll, dass man Stühle aus den Gästezimmern und aus dem Büro herbeiholen musste. Viele Leute aus dem Dorf waren gekommen, vor allem die Älteren, die Max und seine Frau Gertrud noch aus der Zeit nach dem Krieg gekannt hatten, als das Ehepaar für eine Weile in Dranitz wohnte. Aber auch die Jüngeren kamen, einige brachten ihre Kinder mit, die gemeinsam mit Julchen, Jörg Junkers und Mandy und Milli am Kindertisch platziert wurden. Erika, die Küchenhilfe, sowie die beiden Serviermädchen Elfie und Anke waren mit Warmhaltekannen voller Kaffee von Tisch zu Tisch unterwegs, Kuchenplatten wurden herumgereicht, und die Gespräche kamen rasch in Gang. Krischan Mielke wusste noch, wie Max und Gertrud damals ganz abgerissen und halb verhungert im Dorf angekommen waren. Zu Fuß waren sie aus Masuren bis hierher gelaufen, die Eltern und eine Schwester von Gertrud waren auch dabei gewesen. Als er zu Ende erzählt hatte, hielt Paul Riep, der Bürgermeister, eine kurze Rede, in der es weniger um Max Krumme als vielmehr um das Gutshaus und die »Frau Baronin« ging. Franziska wurde ganz verlegen, als er ihr vor allen Gästen seinen Dank für ihre große Leistung aussprach. Gewiss, man sei nach der Wende, als sie aus dem Westen gekommen und das alte Gutshaus gekauft habe, zunächst ein wenig misstrauisch gewesen, weil einige gesagt hatten, dass nun die adeligen Junker zurückkämen und die alten Zustände wie vor dem Krieg wieder einkehren würden. Aber das seien nur ganz wenige gewesen, die meisten Dranitzer hätten sich über diese Rückkehr gefreut – allen voran natürlich Mine und Karl-Erich Schwadke.

»Jetzt steht das alte Haus in neuem Glanz, ein Hotel und ein Restaurant sind entstanden, es werden Gäste hier einkehren, und auch wir Dranitzer werden Vorteile davon haben. Ich sehe Geschäfte und Cafés in unserem Ort entstehen, neue Straßen und Gebäude, Schule und Kindergarten werden wieder voller Leben sein, und vielleicht kriegen wir sogar einen Bahnanschluss …«

Zum Schluss hob er das Glas, das ihm Gerda Pechstein noch schnell mit Wein gefüllt hatte, und brachte einen Trinkspruch aus.

»Die Frau Baronin und ihr Gutshaus – sie sollen leben!«

Großer Applaus folgte seiner Rede. Die Kaffeetassen wurden beiseitegeschoben und die Gläser gefüllt, man trank auf »die Frau Baronin«, dann auf Max Krumme, danach auf Bürgermeister Paul Riep, und wer dann noch nicht genug hatte, hob das Glas auf die gute alte Zeit und auf die Zukunft. Mitten in der allgemeinen Hochstimmung erschienen Jenny und Ulli im Restaurant, und ehe sie noch ihre Plätze neben Franziska und Walter einnehmen konnten, wurden auch sie mit einem Trinkspruch bedacht.

»Hoch lebe das junge Paar!«

»Da gibt’s wohl bald wieder eine Hochzeit auf Dranitz!«

»Und Julchen kriegt Geschwisterchen …«

Elly und Gabi, die ebenfalls im Gutsrestaurant Platz genommen hatten, standen empört auf und verließen den Saal. »Tatsächlich! Die Bagage von dem Erbschleicher!«, zischte Elly ihrer Schwester beim Hinausgehen zu. Was dachte sich der Jörg bloß dabei, sich mit diesem Ulli zusammenzutun? Aber noch war das letzte Wort nicht gesprochen, wie würden sich einen Anwalt nehmen, um zurückzufordern, was ihnen zustand.

Jörg dagegen blieb, stand auf und dankte Ulli vor allen Anwesenden für die treue Freundschaft, die dieser seinem Vater bekundet habe, und für die großartige Unterstützung bei der Beerdigung. Auch Franziska sprach er seinen Dank aus, genau wie allen, die seinen Vater gekannt und gemocht hatten und die diesen Tag zu einem würdevollen Abschied hatten werden lassen.

»Ich glaube, das hätte Max gefallen«, flüsterte Ulli Jenny zu, als die Anwesenden erneut die Gläser auf Max Krumme hoben. »Der konnte keine Trauerklöße leiden.«

Kurz darauf brachen die ersten Gäste auf, die einen wollten die Nachrichten im Fernsehen sehen, andere hatten Vieh, das gemolken werden musste. Irmi und Tine versorgten sie mit Kuchenpaketen, dann leerte sich das Restaurant nach und nach. Auch Jörg Krumme verabschiedete sich und zog sich in sein Hotelzimmer zurück. Erika und die beiden Aushilfen räumten das Geschirr ab und setzten die Spülmaschine in Gang. Die übrig gebliebenen Gäste, darunter Sonja, Bernd, Mücke und Kalle, fanden sich an Franziskas Tisch zusammen. Das Gespräch kreiste noch eine Weile um Max, dann stand Kalle auf und drängte zum Aufbruch. »Lass uns heimfahren, Schatz, die Mädels sind reif für die Badewanne.«

»Wird langsam eng bei den Rokowskis«, bemerkte Sonja mit schlechtem Gewissen, als die beiden weg waren.

Eigentlich hatte Kalle mit seiner Familie in die renovierte Ölmühle einziehen wollen, aber weil dort nun der Laden und Ausstellungsraum des Tiergartens waren, wohnten sie bei den Schwiegereltern. Sicher war Tillie Rokowski nicht böse darüber, so hatte sie die Enkelinnen stets bei sich.

Jetzt, da sie unter sich waren, wurde es ruhiger am Tisch. Die euphorische Stimmung, die die schönen Erinnerungen an Max Krumme und Paul Rieps Rede hervorgerufen hatte, war vergangen. Man kehrte zu den anstehenden Problemen zurück, tauschte sich über die neuesten Entwicklungen aus und versuchte sich in vorsichtigen Zukunftsprognosen.

»Ich werde es hoffentlich schaffen, ohne Insolvenzverfahren aus der Sache herauszukommen«, sagte Bernd. »Den Hof mit neuen Belastungen weiterzuführen würde mich nur noch tiefer in die roten Zahlen stürzen. Jetzt ist der richtige Moment, um Schluss zu machen, und genau das werde ich tun.«

Jenny, stur wie alle von Dranitz’schen Frauen, hielt dagegen. »Du weißt so gut wie ich, Papa, dass ein solches Projekt mindestens fünf Jahre lang in den roten Zahlen bleibt, bis es endlich etwas abwirft. Du musst eben einen längeren Atem haben und nicht gleich alles hinschmeißen … Außerdem könnte ich dir fürs Erste einen kleinen Betrag leihen.«

»Liebe Jenny«, entgegnete Bernd. »Ich denke, dass du das Geld selbst benötigst, denn soweit ich es beurteilen kann, ist auf Gut Dranitz noch eine Menge zu tun.«

Franziska war der gleichen Meinung. Sie erinnerte Jenny daran, dass es schließlich Ullis Geld war, das so bald wie möglich zurückgezahlt werden sollte.

»Das hat keine Eile«, meinte Ulli gutmütig. »Aber ich finde auch, dass Bernd recht hat – ihr müsst langsam mit dem Gutshof in die Puschen kommen, sonst wird die Sache einfach zu teuer.«

Da waren sie wieder bei den ewig anstehenden alten und neuen Problemen. Franziska beklagte, dass das Restaurant bald geschlossen werden müsse, weil der Koch gekündigt hatte – sie könnten den Gästen nicht ewig dieselben einfachen Gerichte anbieten, die sie mit Ach und Krach zusammenbastelten.

»Und wieso stellt ihr keinen neuen Koch ein?«, wunderte sich Sonja.

»Weil wir einfach keinen finden!« Sie hatten die Stelle in der Zeitung ausgeschrieben, aber die Gehaltsvorstellungen der Bewerber waren horrend. Vielleicht waren sie für ein Fünf-Sterne-Restaurant am Ufer der Müritz angemessen, aber nicht für das Gutshotel Dranitz.

»Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger wäre«, sagte Mine, die der Unterhaltung aufmerksam folgte. »Ich hätte eine gute Köchin abgegeben. So wie unsere Hanne Schramm damals. Die machte noch aus einem Restchen Speck ein ganzes Abendessen.«

Karl-Erich nickte bestätigend und bemerkte grinsend, dass er der Glückspilz sei, der seit über fünfzig Jahren Mines großartige Küche genießen durfte. Ulli fügte hinzu, dass auch er ein paar Jährchen davon profitiert hätte, und auch Sonja und Walter konnten mitreden. Auf einmal waren alle Probleme vergessen, und die Gespräche drehten sich um Kochrezepte aus der Region, um Fischgerichte, Hasenragout, Quarkkeulchen und Rehrücken mit Pfifferlingen. Auch Franziska beteiligte sich daran. Es war angenehm, für ein Weilchen allen Sorgen zu entfliehen und Mines Erzählungen aus der »guten alten Zeit« zu lauschen. Ja, die Köchin Hanne Schramm, die war eine strenge Frau gewesen, aber das Herz hatte sie am rechten Fleck gehabt. Wen sie leiden konnte, für den setzte sie sich ein, und niemals war sie ungerecht zu einer Küchenhilfe gewesen. Ihre Kochrezepte, die hatte sie in einem grün eingebundenen Büchlein aufgeschrieben, da war eine Schnur drum gewickelt und so fest verknotet, dass ein Unbefugter höchstens mithilfe eines Messers an den Inhalt gelangen konnte. Nur vor großen Festen wie Hochzeiten oder Kindstaufen löste Hanne Schramm die Schnur, weil sie dieses oder jenes Rezept, das sie nur selten kochte, noch einmal nachlesen musste.

»Und was ist aus dem Büchlein geworden?«, fragte Jenny neugierig.

»Nun«, sagte Mine gedehnt. »Als unsere gute Hanne im Sterben lag – das war, als schon die Russen im Land waren –, da hat sie es versteckt. Damit sie es aufbewahrt und es nicht in falsche Hände kommt.«

»Und wo hat sie es versteckt?«, fragte Walter mit einem verschmitzten Lächeln.

»Das weiß ich leider nicht«, erwiderte Mine betrübt. »Sonst hätte ich längst danach gestöbert und alles nachgekocht.«

Kacpar, der die ganze Zeit über ungewöhnlich still gewesen war, bemerkte, dass solch eine Rezeptsammlung sicher ein großer Schatz sei.

»Ich zum Beispiel würde ein hübsches Sümmchen dafür zahlen«, sagte er zu Mine.

»Seit wann sammelst du denn alte Mecklenburger Kochrezepte?«, erkundigte sich Jenny erstaunt.

Franziska sah Kacpar an, dass er einige Nächte schlecht geschlafen hatte. Armer Kerl. Natürlich hatte er sich Hoffnungen gemacht, die nun, da Jenny wieder mit Ulli vereint war, zerstoben waren.

»Warum nicht?«, fragte Kacpar mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich habe schließlich vor, ein Gutshaus hier in der Nähe zu kaufen und zu einem Hotel mit Gastronomie umzubauen.«

Alle schwiegen, nur Karl-Erich, der in letzter Zeit schlecht hörte, erzählte Walter, was es an der russischen Front neunzehnhundertvierundvierzig zu essen gegeben hatte und wie erfinderisch er und seine Kameraden hatten sein müssen, um überhaupt halbwegs bei Kräften zu bleiben.

»Du willst … was?«, stotterte Jenny.

Kacpar wandte leicht verlegen den Blick ab.

»Ich will mich selbstständig machen. Schließlich habe ich genügend Erfahrungen gesammelt, um eigenständig etwas auf die Beine zu stellen!«

Franziska brauchte einen Moment, um zu begreifen. Kacpar wollte Dranitz verlassen. Das war kaum vorstellbar, denn er war seit Jahren bei ihnen, immer hilfsbereit, immer im Arbeitseinsatz, immer verfügbar. Ohne Kacpar wäre die Renovierung des Gutshauses nicht möglich gewesen. Auf der anderen Seite war sein Entschluss durchaus verständlich. Sie hatten seinen Wunsch nach einer Beteiligung abgewiesen – warum sollte er sich länger für Dranitz engagieren?

»Wenn das tatsächlich dein fester Entschluss ist, Kacpar«, sagte sie langsam, »dann bedaure ich das sehr. Du wirst uns fehlen!«

Er zuckte die Schultern und sah kurz zu Jenny hinüber. Die schwieg und schaute betreten auf ihren leeren Kuchenteller. Ulli räusperte sich, um etwas zu sagen, ließ es dann aber bleiben.

»Ich glaube nicht, dass ich eine große Lücke hinterlasse«, entgegnete Kacpar. »Es war eine schöne und lehrreiche Zeit für mich hier auf Dranitz, aber ich hatte niemals vor, für immer zu bleiben. Mir geht es ähnlich wie Bernd – auch für mich ist der Moment gekommen, eine Phase in meinem Leben zu beenden.«

Franziska merkte ihm an, dass er Mühe hatte, ruhig zu bleiben, denn bei den letzten Worten zitterte seine Stimme. Er stand auf, nickte mit einer seltsam höflichen und zugleich steifen Geste in die Runde und verließ das Restaurant.

»Das macht der doch nicht wirklich«, sagte Jenny leise. »Der hängt doch viel zu sehr an Dranitz …«

Sie sah Ulli hilfesuchend an, doch der hob bloß die Schultern, um anzudeuten, dass ihm dazu wenig einfiel. Dann legte er den Arm um sie.

»Ich bleib jedenfalls bei dir, Jenny«, versprach er ihr zärtlich. »Wir gehen gemeinsam durch dick und dünn. Ganz gleich, was kommt!«

»Das ist doch die Hauptsache«, sagte sie und schmiegte sich an ihn.

Die anderen schwiegen betroffen. Bernd seufzte bekümmert, Mine schüttelte den Kopf, Karl-Erich hob mühevoll das Bierglas mit den krummen Rheumahänden, um einen Schluck zu nehmen.

»Vielleicht war das Angebot, das Cornelia uns an Walters Geburtstag gemacht hat, gar nicht so schlecht«, sagte Sonja nach einer Weile in die beklommene Stille hinein.

»Was für ein Angebot?«, fragte Jenny.

»Erinnerst du dich nicht? Sie hat behauptet, sie habe ein Konzept erarbeitet, mit dem wir unsere Unternehmen auf eine gesunde finanzielle Basis stellen könnten.«

Jenny winkte ab. »Ach das. Große Sprüche, nichts dahinter. Typisch Mama«, knurrte sie.

Franziska fand, dass Sonja recht hatte. Immerhin war Cornelia bereits seit einigen Jahren eine erfolgreiche Unternehmensberaterin. Allerdings hatte sie keine Ahnung von der wirklichen finanziellen und unternehmerischen Misere, in der sie alle steckten. Alle außer Ulli.

»Macht euch doch nicht solche Sorgen«, sagte der prompt. »Mein Betrieb läuft hervorragend, und ich bin gern bereit, euch unter die Arme zu greifen. Bleibt doch alles in der Familie …«

Das war zwar sehr anständig von ihm, aber auf keinen Fall eine Dauerlösung. Es widersprach Franziskas Ehrgefühl, ständig bei dem Zukünftigen ihrer Enkelin verschuldet zu sein.

In diesem Moment trat die nette, mollige Elfie an ihren Tisch. »Ach, da sind Sie ja alle noch!«, rief sie. »So ein Glück. Ich habe ein Schreiben für Herrn Schwadke.«

»Für mich?«, wunderte sich Karl-Erich, der immer gut hörte, wenn eine hübsche Frau in der Nähe war.

»Ich glaube, es ist für Ihren Sohn. Herrn Ulli Schwadke.«

»Das ist mein Enkel, junge Frau.«

Ulli nahm den Umschlag verwundert entgegen, drehte ihn hin und her, dann wollte er wissen, woher sie ihn hatte.

»Die beiden Damen, die Töchter von Herrn Krumme, die hier abgestiegen sind, haben mir den Brief gegeben. Sie sind übrigens abgereist. Wir sollen ihnen die Rechnung nachschicken.«

Ulli riss den Umschlag auf und las mit verständnisloser Miene, dann lachte er nervös auf. »Die beiden wollen mich anzeigen. Sieht tatsächlich so aus, als würden die Ernst machen. Max sei nicht mehr zurechnungsfähig gewesen, als er mir sein Land verkauft hat. Ich hätte sie auf widerrechtliche Weise um ihr Erbe gebracht, dafür gäbe es Zeugen. Wir würden uns vor Gericht wiedersehen …«