Audacia

Der Herbst war angebrochen. Die Tage wurden kürzer, der Wind kälter, Regen peitschte das braune und rote Laub von den Bäumen. Die Bauern des Klosters hatten die letzte kümmerliche Ernte eingefahren, und die Äbtissin brachte es nicht übers Herz, die Abgaben einzufordern, die sie dem Kloster zu erbringen hatten. Aber die Bauern vergaßen ihre Klosterfrauen nicht, sie trugen so viel Korn, Obst und Kohl zum Kloster, wie sie entbehren konnten, und baten die Frauen, für ihre armen Seelen, die schlimme Schuld auf sich geladen hatten, zu beten. Was die Äbtissin ihnen huldvoll zusagte.

Es gab vieles, für das die Nonnen in diesem Herbst beten mussten, denn nach wie vor lag das Kloster in Trümmern, die Kirche war ohne Dach, der Turm eingestürzt. Die Frauen sangen ihre Psalmen unter dem freien Himmel Gottes. Nur im Refektorium waren sie vor der Unbill der Witterung geschützt; das Dormitorium und die übrigen Räume, die sich darüber befanden, waren ohne Dach und somit Wind und Wetter ausgeliefert. Doch es gab auch Gutes zu vermelden. Die sechs Kranken waren alle noch am Leben, vier der Nonnen waren so weit genesen, dass sie am täglichen Leben im Kloster teilhaben konnten, die beiden anderen wurden weiterhin gepflegt.

Guntram, der Abt des Bruderklosters, kam zum Kloster Waldsee geritten, um die Frauen nach dem Schicksal von Bruder Gerwig und seinen Begleitern zu befragen, doch sie konnten ihm nur wenig darüber berichten. Guntram versprach, dem Frauenkloster am kommenden Sonntag einen jungen Priestermönch zu schicken, damit sie die Messe feiern und die Beichte ablegen konnten. Auf die Bitte der Äbtissin, dem notleidenden Kloster mit Lebensmitteln oder Bausteinen auszuhelfen, antwortete er, dass man dies gern täte, sobald die Frauen bereit seien, ihren Hochmut abzulegen und dem Bruderkloster das Recht auf die Wahl der Äbtissin zu überlassen. Danach segnete er die Frauen und ritt in Begleitung seiner zwanzig Knechte davon.

»Der lässt seine Kornsäcke lieber verfaulen, als uns auch nur einen Scheffel davon zu gönnen«, murmelte die Priorin, die mit der Äbtissin am offenen Klostertor stand und den Reitern nachsah.

Auch Audacia war zornig, doch sie befahl Clara zu schweigen. Lieber wolle sie hungern und frieren, als dem Bruderkloster Rechte zurückzugeben, die ihre Vorgängerinnen mühsam erstritten hatten.

»Gott wird uns helfen, Clara. Vertrauen wir auf ihn!«

Am folgenden Sonntag traf der Priestermönch im Kloster ein – ein hochgewachsener, schmaler junger Mann mit großen Augen und dünnen, langgliedrigen Fingern. Er kam zu Pferde in Begleitung von zehn Knechten, und die Äbtissin machte sich Sorgen, wie sie so viele Männer verköstigen sollten. Schon Guntrams Knechte hatten an einem Tag mehr Lebensmittel verbraucht als die Nonnen in einer ganzen Woche. Der Priestermönch war über den Anblick des zerstörten Klosters zutiefst erschrocken und bat sogleich, zu den Gräbern der verstorbenen Frauen geführt zu werden, wo er ein Gebet sprechen wollte. Das nahm alle Nonnen und besonders die Äbtissin für ihn ein.

Bruder Raimund, so war sein Name, hielt die Messe mit großem Ernst, nahm den Frauen die Beichte ab, und als man ihn und seine Knechte zum Mittagsmahl einlud, erklärte er, dass er fastete und außer Wasser und ein wenig Brot nichts zu sich nahm. Auch seine Knechte benötigten keine üppige Mahlzeit, eine Schale Haferbrei, etwas Brot und ein Krug Wasser für jeden Mann sei ausreichend.

Die Äbtissin tischte ihnen zusätzlich gebackene Äpfel auf, die die Knechte gerne aßen – Bruder Raimund rührte jedoch nichts davon an. Er war ein scheuer Mensch, wagte kaum, die Nonnen am anderen Ende des Tisches anzusehen, und wenn die Äbtissin ihn anredete, wurde er verlegen. Doch als sie ihn fragte, ob er die Klostermauern zum ersten Mal verlassen habe, erklärte er zu ihrer Überraschung, dass er die vergangenen zwei Wochen in der Bibliothek des Grafenschlosses in Schwerin zugebracht habe.

»Es liegen dort unschätzbar kostbare Folianten«, erzählte er mit roten Wangen. »Ein Verwandter des Grafen hat sie aus dem Heiligen Land mitgebracht, aber niemand hat sie lesen können. Ich habe die arabische Schrift und Sprache erlernt, und es ist mir gelungen, die ersten Seiten eines der Bücher ins Lateinische zu übersetzen.«

Die Äbtissin spürte, wie ihr Herz so heftig zu klopfen begann, dass ein Schwindel sie erfasste. Eilig trank sie einen Schluck kaltes Wasser.

»Wenn Ihr am Hof des Grafen in Schwerin gewesen seid, Bruder Raimund, dann habt Ihr gewiss auch von der Tochter des Grafen gehört. Von Regula, die eine meiner Zöglinge ist.«

Bruder Raimund hätte lieber über den Inhalt des arabischen Folianten gesprochen, doch der erregte Blick der Äbtissin forderte eine Antwort.

»Regula«, sagte er und rieb sich die Stirn. »Ja, ich erinnere mich.«

»Habt Ihr sie gesehen?«, drängte die Äbtissin ungeduldig. »Ist sie gesund?«

»Wie soll ich das wissen, ehrwürdige Mutter?«, fragte er verwirrt. »Mein Ort war die Bibliothek, dort habe ich gearbeitet und auch geschlafen. Wenn ich etwas über eine Grafentochter Regula weiß, dann hat es der alte Diener erzählt, der mir das Essen brachte. Was aber den Folianten betrifft …«

»Und was habt Ihr über die Grafentochter erfahren?«

Er sah sie bekümmert an, weil sie ihn schon wieder von seinem Lieblingsthema abbrachte. Nachdenklich kniff er die Augen zusammen, ein wenig unwillig, wie Audacia schien.

»Es hat einen Streit um sie gegeben, Mutter Audacia. Soweit ich es verstanden habe, hat Bischof Brunward gefordert, dass man sie in seine Hände geben solle, doch ihr Bruder Heinrich will es nicht gestatten. Er hat eine Petition nach Rom geschickt, um das Urteil des Papstes zu diesem Fall zu erfahren.«

Bei dieser Nachricht war es der Äbtissin, als habe ihr jemand ein Messer in die Brust gestoßen.

»Ein Urteil?«, fragte sie, und die Stimme versagte ihr vor Angst. »Worüber soll der Papst ein Urteil sprechen?«

Bruder Raimund sah, wie bewegt sie war, und zögerte daher mit seiner Antwort. Umständlich trank er einen Schluck Wasser, räusperte sich und wischte mit dem Ärmel zwei Wassertropfen vom Tisch. »Es geht wohl um die Frage, ob sie eine Prophetin Gottes oder eine Ketzerin ist.«

Eine Ketzerin! Sie hatte geahnt, dass man diese Anklage erheben könnte. Und sie allein traf die Schuld, denn sie, Audacia, hatte Regula fortgelassen, hatte nicht verhindert, dass die Novizin das Kloster verließ und nach Schwerin ging. Ach, ihr geliebtes Kind, ihre liebste Freundin und Schülerin, hatte das Kloster vor den Slawen gerettet und sich selbst dabei in höchste Gefahr gebracht. Jedermann wusste, dass Papst Gregor IX. die Ketzer unnachgiebig verfolgen und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilen ließ.

»Vertraut auf die Güte des Herrn, ehrwürdige Mutter«, sagte Bruder Raimund mit tröstender Stimme. »Er wird die Unschuld der Grafentochter an den Tag bringen und sie wieder mit ihren Mitschwestern vereinen.«

Die Äbtissin blieb ihm die Antwort schuldig. Ihr Vertrauen auf Gott war grenzenlos und unerschütterlich. Wem sie jedoch nicht über den Weg traute, war Bischof Brunward. Regula durfte auf keinen Fall in seine Hände geraten. Noch war es nicht zu spät! Noch war es möglich, Regula zurückzufordern. Sie gehörte dem Kloster. Hier, unter dem liebenden Schutz der Äbtissin, war sie sicher vor allen Verfolgungen.

Drei Tage später war Audacia reisefertig. Sie nahm die junge Katerina von Wolfert mit, da ihre Familie am Hof des Grafen Einfluss hatte, außerdem begleiteten zwei junge Bauernsöhne die Klosterfrauen. Die Pferde samt Sätteln und Zaumzeug hatten die Bauern ihnen gestellt. Es war sündiges Gut, aber da nun die frommen Klosterfrauen davon Gebrauch machten, würde es vielleicht von der Sünde reingewaschen werden. Audacia hatte wie gewohnt die Priorin zu ihrer Vertreterin eingesetzt und ihren Frauen erklärt, dass sie den Grafen um Hilfe beim Wiederaufbau des Klosters bitten und auf der Rückreise die Novizin Regula mitbringen wolle. Beides entsprach der Wahrheit, nur dass der Äbtissin das zweite Anliegen stärker am Herzen lag als das erste.

Die Reise verlief glücklich bei warmem Herbstsonnenschein, die Reiter kamen gut voran, und die Novizin Katerina erwies sich als angenehme Reisegefährtin, die der Äbtissin mit heiteren Reden und neugierigen Fragen die Sorgen vertrieb. Gegen Abend erreichten sie Schwerin, dort spiegelten sich Grafenburg und Kirche im stillen See, vom milden Licht der untergehenden Sonne beschienen, und die Äbtissin sah dieses schöne Bild als ein Zeichen Gottes für das Gelingen ihrer Mission.

Doch ihre Hoffnung erwies sich als trügerisch. Auf der Burg herrschte eine seltsam aufgeregte und zugleich lethargische Stimmung, die Ritter hockten im Saal und tranken Wein, auf dem Burghof trieben die Knappen ohne Aufsicht ihr Unwesen, die Handwerker saßen beieinander und redeten, am Brunnen stand eine Gruppe Frauen, die eigentlich Wasser holen sollte, doch die Eimer und Krüge blieben ungefüllt. Niemand beachtete die Ankunft der Nonnen mit ihren Begleitern, und erst als ein Diener herbeigeeilt kam, konnten sie ihre Namen nennen und ihr Anliegen vortragen.

»Wir kommen vom Kloster Waldsee und bitten demütig darum, bei unserem Herrn, dem Grafen Gunzelin, vorsprechen zu dürfen …«

»Der Graf ist krank und empfängt niemanden«, lautete die Antwort. »Ihr könnt die Nacht hier verbringen, morgen müsst ihr wieder zurückreiten.«

Damit wollte sich die Äbtissin jedoch nicht zufriedengeben. Sie rief den Diener, der schon davongehen wollte, zurück und fragte nach dem jungen Herrn Heinrich, dem ältesten Bruder der Novizin.

»Wartet hier«, verlangte der Diener kurz angebunden. »Ich werde fragen, ob er gewillt ist, mit Euch zu reden.«

Sie stiegen ab, und während sich die Bauernsöhne um die Pferde kümmerten, hörten die beiden Nonnen dem Geschwätz der Frauen am Brunnen zu.

»Jetzt laufen sie in Scharen zu ihm über, die Ritter …«

»Müssen ihr Mäntelchen nach dem Wind hängen …«

»Da wird’s so manchen geben, der den Hof schnöde verlassen muss …«

Die Äbtissin begriff, dass der alte Graf im Sterben lag und der junge Herr Heinrich bald den Thron besteigen würde. Mit dem alten Grafen würden auch dessen Günstlinge abtreten müssen, daher waren Hof und Dienerschaft in solcher Unruhe. Audacia war zu ungeduldig, um länger untätig herumzustehen, sie trat zu den Frauen am Brunnen, wünschte ihnen Gottes Segen, und als man die Äbtissin erkannte, wurde sie untertänig begrüßt.

»Wir sind gekommen, um die Novizin Regula zurück ins Kloster zu geleiten«, erklärte sie. »Wisst ihr, wo ich sie finden kann?«

Betretenes Schweigen war die Antwort. Schließlich wagte es eine der älteren Frauen, das Wort zu ergreifen.

»Wenn Ihr die Grafentochter Regula meint, ehrwürdige Mutter, die ist nicht mehr hier. Vorgestern hat der Bischof einen Wagen geschickt, um sie nach Bützow in seinen Palast zu bringen.«

»Der heilige Mann wird sie von den Dämonen heilen«, sagte eine der jüngeren.

Und eine andere fügte hinzu: »Wir haben sie aus dem Gemach des Grafen getragen. Ganz steif war sie. Und kalt wie der Tod.«

»Gott segne den Herrn Bischof, der sich ihrer annehmen will«, meinte eine dritte. »Der heilige Mann ist weithin berühmt für seine Teufelsaustreibungen. Er wird sie gewiss heilen.«

Die Äbtissin durfte ihre Verzweiflung über diese Nachricht nicht zeigen, weder vor den Frauen noch vor ihrer Begleiterin, der Novizin Katerina von Wolfert. Sie dankte den Frauen, segnete sie und ließ sich dann mutlos auf einem Stein nieder. Sie war zu spät gekommen. Nun gab es nur noch eine einzige Hoffnung – sie musste nach Bützow zum Hof von Bischof Brunward reisen und dort ihre Forderung stellen. Doch da sie niemanden an ihrer Seite hatte, der sie gegen den mächtigen Kirchenmann unterstützte, konnte sie kaum auf Erfolg hoffen.

Man ließ die beiden Klosterfrauen lange warten. Es war schon dunkel, als zwei Diener sie in die Hauptburg führten, wo der junge Herr Heinrich sie in einem kleinen Gemach empfing. Er saß an einem Tisch, auf dem etliche gesiegelte Pergamente ausgebreitet waren – er war mit den Angelegenheiten seiner künftigen Regentschaft beschäftigt. Dennoch sprang er auf, als die Äbtissin eintrat, und kniete vor ihr nieder, um ihren Ring zu küssen.

»Es war nicht mein Wille, dass Regula nach Bützow gebracht wurde, ehrwürdige Mutter«, sagte er bekümmert. »Sie haben meinen Vater auf schändliche Weise belogen und meine Schwester fortgeführt. Aber seid getrost, ich hoffe auf die Unterstützung des Heiligen Vaters, dem der Bischof gehorchen muss.«

Die Äbtissin teilte diese Hoffnung nicht, doch sie nickte freundlich und schwieg. Der junge Herr Heinrich ähnelte seinem Vater wenig, er war groß gewachsen, Haupthaar und Bart waren rötlich, die Augen grau. Er hatte eine gewinnende Art und einen klaren, freundlichen Blick, aber die Äbtissin wusste, dass er auch ein grausamer Kämpfer sein konnte, denn er hatte den Angriff der Slawen mit seinen Rittern abgewehrt.

»Oda, die Amme, begleitet meine arme Schwester«, sagte er, um die Äbtissin zu beruhigen. »Sonst konnte ich nichts für sie tun.«

Damit war das Thema abgehandelt. Die Äbtissin erhielt jedoch das Versprechen, dass noch vor Einbruch des Winters Lebensmittel, Werkzeug und Handwerker im Kloster eintreffen würden, um der schlimmsten Not Einhalt zu gebieten.

»Mein Vater liegt seit Tagen unbeweglich auf dem Lager«, sagte der junge Herr. »Er ist in einem Reich zwischen Leben und Tod, und nur Gott weiß, wie lange er dort verweilen wird. Betet für seine Seele, ehrwürdige Mutter.«

Das versprach die Äbtissin, und damit waren sie und ihre Begleiterin entlassen. Die beiden Frauen verbrachten die Nacht in einem schmalen Flur, wo mehrere Dienerinnen und auch die Jagdhunde des Grafen mit ihnen nächtigten. Mehrfach wurden sie im Schlaf gestört, weil es im Dunkeln Geflüster und Gelächter gab, und die Äbtissin bedauerte sehr, die junge Katerina auf diese Reise mitgenommen zu haben, wo sie von Sünde und Unzucht umgeben waren.

Am folgenden Morgen verließen sie die Burg schon früh, und als die Äbtissin ihren Begleitern erklärte, dass sie nicht zurück ins Kloster, sondern nach Bützow reiten würden, waren die beiden Bauernsöhne erfreut, denn sie hatten inzwischen Geschmack am Reisen gefunden. Auch Katerina, die gestern noch ganz steif von dem langen Ritt gewesen war, fügte sich ohne Murren dem Willen ihrer Äbtissin.

»Wie schön es sein wird, Regula wiederzusehen«, sagte sie in naiver Freude. »Sie ist ein ganz besonderer Mensch. Ich glaube fast, dass sie eine Auserwählte Gottes ist.«

Der Weg war lang, denn sie mussten den See in südlicher Richtung umreiten, später führte er durch Kiefernwälder und weites Grasland, an runden Wasserlöchern vorbei, wo die Füchse und Rehe tranken. Die Dörfer kündigten sich schon von Weitem mit den bunt gewürfelten Äckern und Wiesen an, die die strohgedeckten Häuser umgaben. Mehrfach mussten sie nach dem Weg fragen und erhielten mürrische Antwort. Der Bischof war ein harter Lehnsherr, der seinen Hörigen mehr abverlangte, als es das Kloster Waldsee tat, auch wusste er die Abgaben mit Gewalt einzutreiben.

Sie erreichten Bützow erst, also schon der Mond am Himmel aufgegangen war. Reiter und Pferde waren erschöpft und ausgehungert, doch als sie an die Tore des Bischofspalasts klopften und um ein Nachtlager baten, wies man sie ab. Eine Bäuerin erbarmte sich der kleinen Reisegruppe und ließ sie in ihrer Scheune übernachten, brachte ihnen auch frische Milch, Brot und Eier.

»Eine Sünde ist es, die Fremden abzuweisen«, sagte sie, als sie ihnen die Gaben überreichte. »Aber so ist er, der gestrenge Herr. Wo andere Menschen ein Herz haben, da hat er einen Stein in der Brust. Schlimm geht es zu am Hof des heiligen Mannes. Meine Tochter ist dort in Diensten – betet für uns, ehrwürdige Mutter!«

Die Frau war redselig und freute sich, zwei Klosterfrauen beherbergen zu können, da sie sich davon einen Sündenerlass erhoffte. Gewiss – sie hatte den Wagen vor drei Tagen hier vorbeifahren sehen. Es hatte geregnet, und die Insassen, eine junge und eine alte Frau, schützten sich mit einem Tuch. Die junge trug die braune Tracht einer Novizin, das Haar von einem Schleier verhüllt, die alte war rundlich, hatte eine Haube auf und schien eine Dienerin zu sein.

»Meine Tochter hat erzählt, dass die beiden in einem Gemach untergebracht sind, zu dem nur der Bischof selbst Zugang hat. Die Alte kommt ab und zu hinunter in die Küche, um eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die Novizin hat in den drei Tagen niemand zu sehen bekommen.«

Die Äbtissin verbrachte eine schlaflose Nacht, in der sie ohne Unterlass darüber grübelte, wie sie ihrer Forderung vor dem Bischof Nachdruck verleihen konnte. Erst als schon die Hähne krähten, fiel sie in den tiefen Schlaf der Erschöpfung, aus dem die Novizin Katerina sie bald wieder weckte.

»Sie haben die Tore des Palastes geöffnet, ehrwürdige Mutter. Die Bäuerin sagt, wir sollten besser jetzt gehen, weil später viele Bittsteller kommen würden und wir lange warten müssten.«

So tranken sie rasch ein wenig Milch, zupften die Strohhalme von ihren Gewändern, steckten ihre Schleier fest und begaben sich zum Hof des Bischofs Brunward. Man ließ sie das Tor passieren und führte sie in eine hohe Halle, deren Wände mit prächtigen Gemälden und Teppichen bedeckt waren. Dort warteten schon andere Bittsteller, die vor ihnen angekommen waren: eine Gruppe Kaufleute, die orientalische Waren anzubieten hatten, eine Blinde, die von ihrer Tochter geführt wurde, und mehrere Krüppel, die von den Almosen des frommen Bischofs lebten. Nach einer Weile rief man die Kaufleute mit ihren Waren zum Bischof, wo sie eine lange Zeit verblieben. Inzwischen füllte sich die Halle mit weiteren Menschen, die alle ein Anliegen an den Bischof hatten, und die Äbtissin kam mit ihnen ins Gespräch. Viele waren schon zum vierten oder fünften Mal gekommen, denn es war nicht leicht, zu dem heiligen Mann vorzudringen. Ihre Bitten waren unterschiedlich, einige hatten einen Streit, andere waren Lehnsleute und brauchten die Erlaubnis zur Heirat, wieder andere brachten einen Kranken, den der Bischof von der teuflischen Besessenheit heilen sollte.

»Unser Bischof ist ein heiliger Mann, der große Macht über das Böse hat«, berichtete eine junge Frau. »Wenn er den Teufel bei seinem Namen ruft, dann beginnt der Besessene zu schreien wie ein wildes Tier, er windet sich vor Schmerz, weil Satan ihn nicht verlassen will. Aber schließlich fährt der Teufel aus seinem Mund, und er ist geheilt.«

Die Äbtissin wusste, dass solche Heilungen möglich waren, doch nur bei denen, die tatsächlich vom Teufel besessen waren. Ihre geliebte Tochter und Freundin Regula aber war rein wie ein Engel, ihre Visionen kamen von Gott.

Als sie endlich zum Bischof gerufen wurden, spürte die Äbtissin eine große Erschöpfung und Müdigkeit, die ihren Körper schwächte, und sie wusste, dass sie nicht viel ausrichten würde. Dennoch trat sie mutig vor den hohen Würdenträger, der seine Bittsteller in einem geheizten, mit kostbaren Gerätschaften ausgestatteten Saal empfing. Bischof Brunward war ein alter Mann, das Gesicht hager, Haupthaar und Bart dünn und aschgrau. Er saß auf einem geschnitzten Stuhl, das goldbestickte Ornat wohlgeordnet über den Knien, die Arme auf die Lehnen gestützt.

»Die Novizin Regula?«, fragte er mit heller Greisenstimme. »Gewiss wird sie in ihr Kloster zurückkehren. Wenn ich sie von ihrer Besessenheit geheilt habe, dürft Ihr sie mitnehmen.«

»Vergebt mir, hochwürdigster Herr«, wandte die Äbtissin ein. »Aber die Novizin ist nicht besessen. Sie ist eine Auserwählte Gottes, die durch göttliche Gnade Gesichte hat. Ihr Platz ist in meinem Kloster, dem ihr Vater, der Graf von Schwerin, sie vor einem Jahr anvertraut hat.«

Der Bischof sah sie aus kleinen Greisenaugen scharf an.

»Das zu beurteilen seid Ihr nicht berechtigt und auch nicht in der Lage, Mutter Audacia. Ihr werdet warten, bis ich die Heilung vollzogen habe. Wenn sie gelingt – worauf ich fest vertraue –, könnt Ihr die Novizin haben. Widersteht der Satan aber meiner Macht, dann kann ihre Seele nur durch das reinigende Feuer erlöst werden.«

Etwas schrie auf im Herzen der Äbtissin. Eine Stimme brüllte zornig in ihrem Inneren: Du einfältiger alter Mann! Doch sie ließ der Stimme keinen Raum, denn der Zorn hätte ihre Mission nur verdorben. Stattdessen versuchte sie, den Gegner durch Worte zu beeindrucken.

»Niemals würde ich es wagen, Eurer Hochheiligkeit zu widersprechen, bin ich doch nur eine einfache und ungebildete Klosterfrau. Es könnte jedoch sein, dass der junge Herr Heinrich, der in wenigen Tagen den Grafenthron in Schwerin besteigen wird, seine Schwester von Euch zurückfordert. Die Novizin Regula reiste gegen den Willen ihres Bruders hierher.«

Der Bischof verstand die Drohung – das Verhältnis des Bistums zum Schweriner Grafenhaus war niemals gut gewesen. Ein offener Konflikt, der in eine kriegerische Auseinandersetzung münden konnte, würde dem Bistum Schaden bringen. Aber Brunward war nicht der Mann, der sich von einer Nonne einschüchtern ließ, und sei sie auch als kluge und weitblickende Frau bekannt.

»Der künftige Graf von Schwerin sollte dem Bischof dankbar sein, dass er sich seiner Schwester annimmt. Satan ist überall, er kann sich klein machen wie eine Maus und in jeden von uns hineinschlüpfen. Es hat schon Fälle gegeben, ehrwürdige Mutter, in denen der Versucher durch den Mund eines Mönches oder auch einer Nonne redete.«

»Dann erbitte ich untertänig die Gnade, die Novizin sehen zu dürfen.«

»Das ist unmöglich, da sie sich durch Fasten und Beten auf den Exorzismus vorbereitet.«

Er ließ sie hungern, der heilige Mann. Aufs Neue erhob sich die zornige Stimme im Inneren der Äbtissin, und sie brüllte: »Es wird der Tag kommen, da der Herr dich grausam straft für das, was du seiner liebsten Dienerin antust!« Aber sie gab der Stimme keinen Raum, sondern blieb gefasst und redete untertänig, wie es sich einer Klosterfrau dem Bischof gegenüber geziemte.

»Dann bitte ich um die Gnade, so lange am Hof verweilen zu dürfen, bis der hochwürdigste Bischof die Novizin Regula freigibt.«

Dies wurde ihr gewährt, und mit einem müden Wink der linken Greisenhand waren die beiden Klosterfrauen entlassen.

»Ist es wahr, dass Regula vom Bösen besessen ist?«, fragte die Novizin Katerina beklommen, als sie von einem Diener durch Treppen und Flure geführt wurden.

»Nein, das ist sie nicht.«

»Aber hat der hochwürdige Bischof nicht eben behauptet, dass …«

»Er irrt!«

»Wie ist es möglich, dass ein Bischof sich irrt, ehrwürdige Mutter?«, wollte Katerina verwirrt wissen.

»Nur Gott kennt die Wahrheit, mein Kind. Menschen aber können irren.«

Sie bekamen eine Kammer mit einem kleinen Fenster zugewiesen, das auf den Palasthof hinausging und ein wenig Tageslicht hereinließ. Die Äbtissin hielt sich dort nicht lange auf, sondern ging hinaus, um nach den beiden Bauernsöhnen zu sehen und nach den Pferden zu fragen. Alle waren wohlversorgt, die jungen Männer hatte der Schmied in seine Werkstatt genommen, wo sie das Feuer in Gang hielten, Holz schleppten und gut verköstigt wurden. Also wandte sich die Äbtissin zur Burgküche, denn sie hegte die Hoffnung, dort die Amme Oda anzutreffen. Doch in der Küche herrschte großes Gedränge, Feuer rauchten, es qualmte aus den Töpfen, auf den Tischen fand sich ein unfassbarer Überfluss an Fleisch, Fisch und Geflügel, fremde Gewürze verbreiteten einen Duft, der einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Die Köche und Küchenhilfen arbeiteten mit solcher Hast, dass die Äbtissin eilig wieder davonging.

In ihrem engen Gemach traf sie eine junge Dienerin bei der Novizin Katerina an. Es war – wie sie schon vermutet hatte – die Tochter jener Bäuerin, die sie in der vergangenen Nacht in ihrer Scheune aufgenommen hatte.

»Zu Euren Diensten«, sagte die junge Frau und kniete vor der Äbtissin nieder.

Sie hatte die Aufgabe, die Klosterfrauen zu bedienen und ihnen die Wünsche und Befehle des Bischofs zu überbringen. Es sei den beiden Nonnen verboten, im Palast umherzulaufen oder den Bewohnern Fragen zu stellen, richtete die Bauerntochter, deren Name Elisa war, aus. Sie hätten sich in ihrem Zimmer aufzuhalten und im Gebet für das Gelingen des Exorzismus zu verharren.

»Ich bin froh, die Nächte in Eurer Nähe bleiben zu dürfen«, gestand Elisa. »Die Ritter des Bischofs sind große Sünder, ehrwürdige Mutter. Betet für mich.«

Die Äbtissin sah zur Tür und stellte zu ihrer Beruhigung fest, dass sie einen starken eisernen Riegel besaß.

»Dich trifft nur ein kleiner Teil der Schuld, meine Tochter«, sagte sie dann zu der jungen Dienerin, die immer noch vor ihr kniete. »Ich will dich in meine Gebete einschließen und bitte dich zugleich, mir einen Gefallen zu erweisen.«

Sie wolle mit Oda, der Amme, sprechen, doch Elisa erklärte ihr, sie habe die Amme seit gestern nicht mehr gesehen. Es hieß, dass sie mit ihrem Schützling gemeinsam faste.

»Dann bitte ich dich, der Novizin Regula ein Zeichen zu überbringen.«

»Das darf ich nicht, ehrwürdige Mutter. Bei meiner Seligkeit, der Bischof würde mich zu Tode prügeln lassen.«

»Und wenn ich dich herzlich darum bitte, Elisa?«

Die junge Frau stöhnte und seufzte, schob die Haube auf ihrem Kopf hin und her und zupfte nervös an ihrer Schürze. »Was für ein Zeichen, ehrwürdige Mutter?«

Audacia zog das schmale Stückchen Pergament aus der Tasche ihres Habits hervor, wo sie es in einem kleinen Stoffbeutel verwahrte. Die Rose, die Regula für sie gemalt hatte, war frisch und lebendig wie eine echte Blüte, und es fiel ihr unendlich schwer, sich davon zu trennen.

»Schiebe dies unter der Tür ihrer Kammer hindurch.«

Zwei Tage und zwei Nächte warteten sie, verbrachten die Zeit mit den gewohnten Gebeten, in die sie die Novizin Regula mit Inbrunst einschlossen – doch es kam keine Antwort. Der dritte Tag war ein Sonntag.

»Heute nach der Messe wird der Bischof die Novizin heilen«, verkündete Elisa. »Er befiehlt den Nonnen vom Kloster Waldsee, der Messe und dem Exorzismus im Dom beizuwohnen.«

Die Ankündigung kam so überraschend, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, sich auf das Ereignis vorzubereiten. Voll banger Sorge betrat die Äbtissin mit Katerina den Dom, ging ohne Rücksicht auf Rang und Ordnung nach vorn bis zur Apsis und kniete dort nieder. Von hier aus sah sie den Altar mit dem hölzernen Kreuz, daneben den Stuhl des Bischofs, aus rotem Sandstein gehauen und mit einem weichen Kissen gepolstert. Der Dom füllte sich mit zahlreichen Menschen, die sich nach altgewohnter Ordnung einrichteten. Vorn die Ritter und Damen auf hölzernen Schemeln, dahinter die Ministerialen und Höflinge. Die Bürger und das restliche Volk knieten auf dem Boden, ebenso einige Mönche aus einem nahe gelegenen Kloster. Ganz hinten, dicht bei der Eingangspforte, hockten die Bettler und Krüppel, die nach der Messe in Scharen herbeistürzten und um milde Gaben bettelten. Weil sie dabei oft in Streit gerieten, standen mehrere Knechte des Bischofs bereit, um mit ihren Knüppeln für Ruhe zu sorgen.

Der Dom war der eindrucksvollste Kirchenbau, den die Äbtissin je gesehen hatte, auch die Novizin Katerina war von seiner Größe und Pracht überwältigt. Hier, in diesem himmelstrebenden Raum, den fromme Christen zu Ehren Gottes errichtet hatten, war für die Sünde kein Platz, hier weilten nur Frömmigkeit und Gottesliebe.

Prächtig waren die Gewänder der Würdenträger, das schönste davon trug der Bischof selbst – einen dunkelroten Mantel, mit goldenen Fäden bestickt. Er las die Messe mit hoher, dünner Greisenstimme, brach das Brot und trank den Wein, segnete die ehrfürchtig vor ihm kniende Gemeinde, und als Audacia schon glaubte, er würde nun mit seinem Gefolge wieder feierlich aus dem Dom ausziehen, befahl er, die Besessene bringen zu lassen.

Man hatte Regula in einem der vergitterten Seitenchöre versteckt, nun wurde sie von zwei Helfern herbeigeführt. Audacia hielt es nicht mehr aus in der knienden Stellung, sie erhob sich, und hätte die junge Katerina sie nicht am Gewand festgehalten, so wäre sie wohl die Stufen der Apsis hinaufgelaufen.

Regula trug ein langes weißes Kleid, sie war barfuß, über ihrem Haupt lag ein helles Tuch, das jedoch hinabglitt, als sie dem Bischof vorgeführt wurde. Ihr Kopf war kahl, man hatte ihr das lange Haar geschoren. Die Augen hielt sie fest geschlossen.

Die Zeremonie begann nach festem Ritus, der Bischof rief Gott den Herrn um Beistand an, sprach lateinische Texte und zeigte der Besessenen das hölzerne Kreuz. Audacia bekam nichts von seinen Worten mit – ihr Blick, ihre ganze Seele hing an der Gestalt ihrer geliebten Tochter und Freundin. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sah, wie hart man mit dem Mädchen umgegangen war, wie schwach und bleich es dort vor dem Altar stand. Regula erschien der Äbtissin wie ein Blatt im Wind, ein Wesen, das sich von allem Irdischen gelöst hatte und dem himmlischen Raum zustrebte, um dort seine wahre Heimat zu finden.

Den Bischof schien das Bild der zarten, jungen Frau nicht zu rühren, er ging nun zum zweiten Teil der Zeremonie über und rief Satan, der seiner Ansicht nach in ihr wohnte, laut mit Namen.

»Verlasse dieses Gefäß, Verfluchter, und fahre davon!«, kreischte er überlaut, sodass die Zuhörer erschauerten. »Fahre aus ihr heraus – ich befehle es dir!«

Auch Regula erschrak bei diesem lauten Geschrei, sie öffnete die Augen und sah sich um. Da hielt es die Äbtissin nicht mehr aus. Sie riss sich von Katerina los, eilte die Stufen hinauf und stieß die Ministranten, die ihr den Weg verstellen wollten, zur Seite. Mit ausgebreiteten Armen blieb sie zwischen dem Bischof und der Novizin stehen.

»Regula – du meine Geliebte!«, rief sie laut und zog die Novizin in ihre Arme. »Meine Tochter … meine Freundin …«

Ihre Blicke verschränkten sich. Da schien es der Äbtissin, als züngelte um sie herum ein Meer aus roten Flammen und hüllte sie ein. Loderte hell um ihre irdischen Körper, die einander umschlungen hielten, verschmolz ihre unsterblichen Seelen zu einer einzigen, untrennbaren Seele.

»Du bist bei mir – nichts kann uns mehr voneinander scheiden«, flüsterte Regula, während Audacia ihr Gesicht mit Küssen bedeckte.

Wen kümmerte es, dass sich Geschrei und Gekreische um sie herum erhob? Dass man sie auseinanderriss, von Satansbraut und Ketzerin redete? Aus der Hand ihrer Freundin rollte ein Pergamentkügelchen, einer der Knechte, der sie abführte, zertrat die zierlich gemalte Rose und konnte ihre Macht doch nicht zerstören.

Später, in der Enge der winzigen Kammer, in die man sie gesperrt hatte, bereute Audacia, was sie getan hatte. Sie hatte einem sündigen Verlangen nachgegeben und alle Gebote und Gesetze, selbst ihr eigenes Gelübde verletzt und ihre Nonnen verraten, die im Kloster getreulich auf sie warteten. Der Ketzerei hatte der Bischof sie in wütendem Zorn beschuldigt, ihr schwerste Strafe angedroht, von einem Kirchengericht gesprochen, das über sie urteilen würde. Sie würde ihr Kloster nicht wiedersehen.

Über Tage und Wochen blieb sie eine Gefangene, lebte von Wasser und Brot, betete nach dem gewohnten Rhythmus, doch ohne Hoffnung auf Vergebung. Manchmal vernahm sie eine Stimme, die ihr Mut zusprach, und sie glaubte, die Novizin Regula zu erkennen, doch sie schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. In ihren dunkelsten Momenten dachte sie darüber nach, ob Regula nicht doch eine Dienerin des Bösen war, die Satan geschickt hatte, um sie zu versuchen, allerdings hielten solche Zustände nie lange an, denn die Liebe zu dem Mädchen erfüllte noch immer ihr Herz.

Als man sie endlich aus ihrer Haft erlöste, waren ihre Augen blind von der Dunkelheit und ihre Sinne verwirrt. Gleißende Helligkeit umfing sie, darin tummelten sich dunkle Gestalten, auch Reiter waren darunter, Hunde sprangen kläffend um sie herum.

»Nun geh schon, Nonne!«, sagte eine raue Stimme. »Dorthin. Auf den Wagen.«

Auf den Wagen, der sie zum Scheiterhaufen brachte. Ihr letzter Tag auf Gottes schöner Erde war angebrochen. Widerspenstig blieb sie auf der Stelle stehen.

»Ohne Gericht hat auch der Bischof kein Recht, eine Ketzerin zu verbrennen!«

Man lachte über sie. Stieß sie voran, dass sie taumelte. Jemand lief ihr entgegen, umfing sie mit den Armen.

»Seid getrost, Mutter Audacia!«, rief die Stimme der Amme Oda. »Draußen steht das Heer des Grafen Heinrich, der seine Schwester Regula und die Äbtissin Audacia fordert. Der Bischof muss uns ausliefern.«

Jemand legte ihr einen pelzgefütterten Mantel um die Schultern, man hob sie auf einen Wagen, und nun endlich konnte sie durch ihre Tränen hindurch erkennen, woher die gleißende Helligkeit kam. Der Hof des Bischofspalastes lag voller Schnee, den die Sonne glitzern und funkeln ließ, als seien dort Edelsteine ausgestreut. Doch mehr als alles andere beglückte die Äbtissin das Wiedersehen mit der Novizin Regula, die auf weichen Kissen und Pelzen im Wagen saß.

»Denkt nur, was geschehen ist, geliebte Mutter Audacia: Papst Benedikt hat entschieden, dass ich eine Auserwählte Gottes bin«, sagte sie lächelnd zu der Äbtissin. Audacia ließ sich neben ihr nieder und schloss die brennenden Augen. War das alles nun Wirklichkeit oder einer der Fieberträume, die sie in manchen Nächten in ihrem Kerker heimgesucht hatten? Sie hörte das Knarren und Quietschen der großen Torflügel, die Pferde scharrten im Schnee, Befehle erklangen, der Wagen setzte sich knirschend in Bewegung. Vielstimmiger Jubel empfing sie – die Ritter des Grafen, die vor dem Palast gewartet hatten, triumphierten, weil der Bischof ihre Forderung so rasch und bedingungslos erfüllte.

»Vier Wagen sind es im Ganzen«, berichtete die Amme Oda. »Und noch etliche Packpferde, die schwere Lasten tragen. Unser wunderbarer Herr, Graf Heinrich von Schwerin, hat Ersatz gefordert für die Unbill, die seine Schwester unschuldig in Bützow ertragen musste. Mehl und Salz hat er verlangt, süßen Honig, gedörrtes Obst und gepökeltes Fleisch. Dazu auch Gold. Man sagt, der Bischof habe für jedes Haar, das er der Grafentochter hat abscheren lassen, ein Goldstück geben müssen.«

»Aber Oda!«, tadelte sie Regula. »Was erzählst du da nur?«

Die Reise zum Schweriner Hof verging der Äbtissin wie im Flug, denn sie hatte ihre geliebte Tochter und Freundin neben sich. Sie hielten einander bei den Händen, und die Äbtissin lauschte der so lang entbehrten süßen Stimme des Mädchens. Zwei Tage hielten sie sich am Hof des jungen Grafen auf, der seine Schwester mit großen Ehren empfing. Dort fanden sie auch die Novizin Katerina, und sie erfuhren, dass das Mädchen schon vor Wochen der Gefangenschaft des Bischofs entkommen und ganz allein zurück nach Schwerin gelaufen war, um dem jungen Grafen Bericht zu erstatten. Ihr vor allem hatten sie die Befreiung zu verdanken.

Das Kloster Waldsee wurde reich beschenkt, der Graf schickte Handwerker, um neue Dächer zu bauen, im folgenden Jahr wurde ein neuer Kirchturm aus festen Steinen gebaut und die Kirche mit einer schön geschnitzten, hölzernen Decke versehen. Weil der Ruf der Regula von Schwerin, die eine Auserwählte Gottes war, weithin durch das Land eilte, schickten zahlreiche wohlhabende Familien ihre Töchter ins Kloster Waldsee, auch kamen viele Pilger, um sich von ihr segnen zu lassen.

Drei ganze Jahre wirkte Regula von Schwerin im Kloster Waldsee, und auf Befehl des Grafen schrieb der Priestermönch Raimund ihre Visionen auf, damit Gottes Offenbarungen dem Kloster und allen Christenmenschen erhalten blieben. Sie starb am Christtag des Jahres 1239, und man beerdigte sie in der Apsis der Klosterkirche neben dem Slawen Bogdan, dessen Körper auf ihren Wunsch hin hierher überführt worden war.

Nach dem Tod der Regula von Schwerin war die Äbtissin sieben Tage lang krank, lag ohne Regung auf ihrem Lager und sprach kein Wort. Danach stand sie auf und erfüllte die Aufgabe, die Gott ihr gestellt hatte. Audacia stand dem Kloster noch viele Jahre als Äbtissin vor, ihre engste Vertraute, die greise Priorin Clara, an ihrer Seite. Nach deren Tod erwuchs ihr in der Nonne Katerina von Wolfert eine starke Stütze und Nachfolgerin.