Mine

Winter 1995

So einen Hochzeitstag – den würde keiner von ihnen so schnell vergessen. Am wenigsten das junge Paar. Aber auch die Hochzeitsgäste nicht. Einige hatten sogar absagen müssen. Wegen des Sturms. Autobahnen waren gesperrt. Oben an der Küste hatte es eine Sturmflutwarnung gegeben. Und die Müritz war über die Ufer getreten.

»Der ganze Strand und die Landungsstege – alles Land unter!«, sagte Ulli am Morgen, als er die Großeltern abholte.

»Hauptsache, wir sind im Trockenen«, meinte Karl-Erich.

Der saß schon um halb neun im guten Anzug mit Schlips und blank geputzten Schuhen im Rollstuhl und konnte es nicht abwarten. Dabei war die Trauung in Ludorf in der Kirche erst in einer Stunde.

Gestern waren sie auf dem Standesamt gewesen und hatten sich anschließend im engsten Kreis bei Mine im Wohnzimmer mit Kaffee und Kirschstreusel verwöhnen lassen, und am Abend hatte es den guten Fischeintopf gegeben, das hatte sie sich nicht nehmen lassen. Schließlich war sie seine Großmutter und hatte ihn zusammen mit Karl-Erich großgezogen. Nur das Brautpaar und Julchen, Jennys Mutter Cornelia, die Frau Baronin und Walter Iversen, die Sonja und der Bernd waren da gewesen.

Heute hatte Mine das gute Schwarze angelegt und dabei festgestellt, dass es ihr inzwischen zu groß geworden war. So ging das im Leben. Den Kindern wurden die Sachen zu klein, und bei den alten Leuten war es umgekehrt. Machte aber nix, so war es bequemer und klemmte nicht mehr am Bauch, da konnte sie beim Essen zuschlagen. Nur die Schuhe, die waren mit den Jahren enger geworden und ließen sich kaum anziehen. Karl-Erich war es ähnlich gegangen – aber der brauchte auch nicht zu laufen.

Aber der Ulli! Nee, sie musste ein paar Tränen verdrücken vor Rührung. Wie der junge Karl-Erich schaute er aus im Hochzeitsanzug. Nur dass sie beide damals keine so große Hochzeitsfeier gehabt hatten. Schnell hatte es gehen müssen, weil ja schon Krieg war und ihr Liebster hinaus ins Feld musste. Ach Gott, das konnten sich die jungen Leute gar nicht vorstellen, wie einem da zumute gewesen war.

Die kleine Kirche in Ludorf war trotz einiger Absagen proppenvoll. Als das Brautpaar in die Kirche einzog, war es, als ob der Wind sie durch die Pforte hineingeblasen hätte. Jennys weißes Kleid bauschte sich ordentlich, der Schleier flatterte, und Julchen ließ vor Schreck den Korb mit den Blumen fallen. Papierblumen waren das, weil die echten im November viel zu teuer waren. Anne Junkers Sohn Jörg hob den Korb auf und half seiner kleinen Freundin, alle Blumen wieder einzusammeln.

Dann stand das Hochzeitspaar vor dem Altar, Ulli in seinem schicken dunklen Anzug und Jenny im weißen Tüllkleid, das sie noch am Tag vorher mit Mückes Hilfe hatte weiter machen müssen. So richtig feierlich war es dann doch nicht, weil der Wind so laut um die Kirche heulte und die Dachschindeln klapperten. Erst nach der Zeremonie waren alle gerührt. Weil Ulli seine Braut in die Arme nahm und vor der ganzen Gemeinde ausgiebig küsste.

»Jawoll!«, rief Karl-Erich laut. Der Pastor lächelte zwar, aber Mine war es doch peinlich. So direkt vor dem Altar. Nee, das hätte der alte Pastor Hansen damals nicht erlaubt.

Später, als sie aus der Kirche gingen, hatte Karl-Erich einen Riesenspaß, weil der Wind den Frauen die Röcke hochpustete und die Frisuren zerzauste. Noch im Auto – dieses Mal fuhren sie mit der Frau Baronin und Herrn Iversen – jubelte Karl-Erich, dies sei die schönste Hochzeit gewesen, die er je erlebt habe.

»Na ja – die zweitschönste«, gab er gleich darauf kleinlaut zu. »Die schönste, das war natürlich unsere damals. Was, Mine?«

Das bestätigte Mine, und auch die Frau Baronin, die ja damals dabei gewesen war, pflichtete ihnen bei. Eine ernste, aber schöne Hochzeit sei es gewesen.

Sie hielten direkt vor dem Eingang des Gutshauses, und sogleich liefen vier junge Burschen herbei, um Karl-Erich die Stufen des Gutshauses hinaufzutragen und oben in seinen Rollstuhl zu verfrachten. Die Feier heute sollte im Restaurant des Gutshotels stattfinden.

Ach, wie schön drinnen alles geschmückt war! Da hatte die Frau Baronin echte Blumen bringen lassen, und die lange Hochzeitstafel war genau so aufgebaut, wie es damals zur Zeit der Frau Baronin Margarethe von Dranitz gehalten worden war. Und auch wenn sie viel umgebaut und verändert hatten – die restaurierte Stuckdecke war die gleiche, unter der sich seinerzeit die junge Franziska in den Major Iversen verliebt hatte.

Ach die Zeit, die Zeit … wo war sie hingegangen? Damals war sie selbst so jung und flott auf den Füßen gewesen, hatte die Tafel decken dürfen und für die vielen Gäste gesorgt.

»Haste gesehen?«, fragte Karl-Erich, als sie auf ihren Plätzen oben an der langen Tafel, gleich neben dem Brautpaar, saßen. »Da draußen auf dem Schild steht: ›Geschlossene Gesellschaft‹.«

»Das muss auch sein«, sagte Ulli. »Weil das Restaurant jetzt doch immer voller Gäste ist, seitdem Conny die Werbung gestartet hat. In zwei Wochen geht’s mit den Weihnachtsfeiern los, Jenny will die Dekoration machen, und Conny arbeitet mit dem Koch die Menüpläne aus.«

»Der frisst ihr aus der Hand, der Bodo«, kicherte Karl-Erich. »Die Cornelia Kettler, die ist ja man ein echter Besen. Aber so was hat euch gefehlt, wie?«

Mine verpasste ihm einen sachten Rippenstoß, weil doch die Frau Baronin gleich neben ihnen saß und sie das ganz bestimmt nicht gern hörte. Ulli hatte erzählt, es habe einen richtigen Familienkrach gegeben, als Cornelia Kettler ihnen ihre Pläne präsentiert hatte. Jenny war zu Ullis großer Verblüffung sofort auf der Seite ihrer Mutter gewesen. Aber die Frau Baronin, die hatte sich schwergetan, wollte zunächst von all diesen Ideen nichts wissen und zog sich beleidigt zurück.

»Ich habe fünf Jahre lang um dieses Anwesen gekämpft, mein Herzblut, meine ganze Kraft, mein gesamtes Vermögen – alles habe ich dafür gegeben. Glaubt ihr wirklich, dass ich mir meinen Besitz so einfach aus den Händen nehmen lasse?«

Das hatte sie gesagt, weil Cornelia Kettler einen »Erlebnispark Gutshof Dranitz« ins Leben rufen wollte. Zusammen mit dem Tiergarten Müritz und später auch Bernds ehemaligem Ökohof, der ja nun von Kalle und Wolf bewirtschaftet wurde, sollte eine GmbH daraus werden. Aber die Frau Baronin war dagegen, weil dann andere Leute über ihr Anwesen bestimmen konnten, und das wollte sie nicht. Eine ganze Woche lang hatte sie geschmollt, aber schließlich hatte der Herr Iversen sie davon überzeugt, dass ihre Tochter das Richtige tat, und dann war auf einmal alles ganz schnell gegangen.

»Mama bietet Entspannungskurse für Führungskräfte an«, hatte Jenny erzählt. »Das schlägt ein wie eine Bombe. Sind alle schon ausgebucht.«

Was für Kurse das waren, hatten weder Mine noch Karl-Erich so richtig verstanden. Aber die Frau Baronin hatte sie später zum Kaffeetrinken eingeladen, und sie war ganz glücklich gewesen, weil das Hotel und das Restaurant jetzt immer voller Gäste waren.

»Diese Stadtleute sind ganz entzückt von dem verwilderten Park und von dem See«, hatte sie erzählt. »Wildromantisch sei das hier. Natur pur. Eine Oase der Ruhe. Ein Schatzkästlein. Und das Essen sei allererste Klasse …«

Da war Mine allerdings ganz anderer Meinung, und Karl-Erich stimmte ihr zu. Was der dünne Koch als Hochzeitsessen auf die Teller brachte, war schon ein komisches Zeug. Vor allem aber war es viel zu wenig.

»Ein Salatblatt mit einem rosa Klecks, und darauf hockt eine einsame Garnele – davon wird doch keiner satt!«, beschwerte sich Karl-Erich.

»Das ist doch nur die Vorspeise, Großpa«, flüsterte Ulli. »Danach gibt es Krabbensuppe à la crème. Und dann kommen noch vier Gänge …«

Mehrere Gänge hatte es an der Tafel der Frau Baronin selig auch immer gegeben. Aber da hatte man den Gästen die Teller immer gefüllt. Das hätte Karl-Erich gewiss besser gefallen. Nur vom Salat hatte er noch nie viel gehalten.

»Das Grüne, das ist für die Hasen!«, sagte er immer.

Bei der Suppe musste sie ihm helfen, denn der Löffel rutschte immer wieder aus seinen krummen Fingern. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, bevor die Frau Baronin ihre Rede auf das glückliche Brautpaar hielt.

Ach, die war so feierlich, dass Mine wieder nach ihrem Taschentuch suchen musste. Franziska holte weit aus, erzählte von den alten Zeiten, von all den lieben Menschen, die Mine noch gekannt hatte und die nicht vergessen sein sollten. Der aufrechte Großvater Dranitz. Die beiden jungen Herren, der Jobst und der Heinrich, die der Krieg alle beide geholt hatte. Und der gute Herr Baron, den die Russen mitgenommen hatten. Zuletzt sprach sie auch von ihrer Schwester, die ein ganz besonderer Mensch gewesen sei.

»Sie alle haben in diesem Haus gelebt, haben gelacht und geweint, einander geliebt und manchmal auch gestritten. Ich bin sehr glücklich, dass dieses bunte, wimmelnde Leben nun weiter fortbestehen wird, dass ein junges Paar sich gefunden hat, dass meine Enkel und Urenkel um mich sind. Bevor ich nun das Glas auf das Hochzeitspaar erhebe, möchte ich meinen Dank aussprechen. Liebe Cornelia – ich bin froh und glücklich, dass du hier bei uns bleiben und das Schicksal von Dranitz nun eine Weile in deine starken Hände nehmen willst …«

»Bravo!«, rief Karl-Erich begeistert, als die Frau Baronin ihre Tochter Cornelia umarmte. Aber dieses Mal war er nicht allein, alle, die am Tisch saßen, standen auf, jubelten und applaudierten. Es wurde richtig laut im Restaurant, denn sie waren über sechzig Leute.

Cornelia Kettler wurde rot vor Freude. Auch sie sagte ein paar Worte, bedankte sich bei ihrer Mutter für das Vertrauen und erklärte, dass der Gutshof Dranitz eine große Zukunft vor sich habe. Dann wurde der nächste Gang serviert, und Mine musste Karl-Erich helfen, seinen Lachs zu essen. Wenn sie den Fisch in kleine Stücke zerteilte, konnte er ihn gut mit dem Suppenlöffel erwischen. Sein Bierglas hatte einen Henkel, und Mine stellte verärgert fest, dass die mollige Elfie ihm ungefragt nachschenkte.

»Wann haben wir denn Kindstaufe?«, erkundigte sich Karl-Erich ungeniert bei Jenny.

»Im März soll es kommen«, gab sie lachend zurück. »Und dieses Mal wird es wohl ein Junge.«

Die Frauenärztin hatte einen Ultraschall gemacht und gesagt, daran bestehe wohl wenig Zweifel.

»Ein Junge«, sagte Mine nachdenklich. »Wie hätte sich der Max darüber gefreut.«

Max hätte auch sonst Grund zur Freude gehabt, denn Jenny und Ulli würden mit Julchen nun doch in Ludorf einziehen. Weil Cornelia Kettler Geschäftsführerin der GmbH »Erlebnispark Gutshof Dranitz« war und zukünftig das Kavaliershäuschen übernehmen wollte, in dem Jenny gewohnt hatte. Wenn er wollte, konnte Bodo Bieger die kleine Wohnung im Dachgeschoss übernehmen. Als Jenny ihm das Angebot unterbreitet hatte, hatte er sich zuerst eine kurze Bedenkzeit ausgebeten, doch sie hatte das begeisterte Funkeln in seinen Augen sehen können.

Kaum hatte man den Fisch verspeist, wurden weitere Teller abgetragen.

»Noch zwei Gänge, und ich bekomme langsam Hunger«, witzelte Karl-Erich. »Zeig doch diesem Kümmerling in der Küche mal, wie man einen anständigen Fischauflauf macht, Mine!«

Der nächste Gang war auch nicht nach seinem Geschmack, es gab ein kunstvolles Gebilde aus zusammengedrehten Fleischstückchen, gegrillten Speckstreifchen und kross gebratenem Schinken. Dazu fanden sich vereinzelte grüne Böhnchen auf dem weitläufigen Teller, einige zarte braune Soßenspritzer und drei Kartöffelchen, die sich angstvoll aneinanderzudrängen schienen.

»Kannste alles auf einen Suppenlöffel nehmen«, knurrte Karl-Erich. »Wenn wir heimkommen, machste mir erst mal was zu essen, mein Mädchen …«

Mine machte sich inzwischen Sorgen, ob sie bei dem Sturm, der um das Gutshaus tobte, überhaupt wieder heimkommen würden. Man hatte eigentlich geplant, die Kinder nach dem Essen ein wenig im Park spielen zu lassen, aber bei diesem Wetter war das viel zu gefährlich, es konnte jederzeit einer der alten Bäume umfallen. Julchen saß einstweilen brav an der Seite ihrer Oma, Jörg hatte sich neben sie geschmuggelt, nur die Zwillinge Mandy und Milli hielten ihre Eltern schwer in Atem. Während jetzt der Bürgermeister Paul Riep seine Rede hielt, musste Mücke mit den beiden in den Nebenraum gehen – Windeln wechseln.

Paul Riep überbrachte die Glückwünsche der Gemeinde und war riesig stolz darauf, dass er immer an den Gutshof Dranitz geglaubt hatte. Fünf Angestellte aus dem Dorf seien nun schon hier tätig, und es würden wohl noch mehr dazukommen, weil im Frühling jemand für die Ruderboote und im Tiergarten zwei Reitknechte gebraucht würden. So wirke sich die Rückkehr der Frau Baronin segensreich auf das Dorf Dranitz aus, was selbstverständlich auch das Verdienst der frischgebackenen Ehefrau Jenny Schwadke sei.

Mine sah, wie Ulli strahlte vor Stolz auf seine Jenny und ihr immer wieder über das gerundete Bäuchlein strich.

Der Nachtisch duftete vorweihnachtlich, es gab Bratäpfel mit Rosinen und Mandeln, dazu drei Sorten Eis und Vanillesoße.

»Kann man essen«, bemerkte Karl-Erich, der gerne Süßes mochte. »Aber die Portion ist wohl für Zwerge gedacht, wie?«

»Es gibt nachher noch Kaffee und Hochzeitstorte, Großpa«, flüsterte Ulli ihm zu. »Dreistöckig. Die hat der Koch extra für uns hergestellt. Sein Meisterstück, hat er gesagt. Weil er auch Konditor ist.«

»Ein Tausendsassa, wie?«, grinste Karl-Erich in seliger Vorfreude.

Zuerst aber bezogen die Musiker eine Ecke des Restaurants, denn es sollte nachher getanzt werden. Darauf hatte Jenny bestanden, weil die Frau Baronin ihr erzählt hatte, dass sie hier in diesem Raum zum ersten Mal mit dem jungen Major Iversen getanzt hatte. Die kleine Band aus Waren bestand aus Bass, E-Piano und einer E-Gitarre – die Musik würde auf jeden Fall anders klingen als damals. Aber das war nicht wichtig.

Dann kam, was Jenny und Ulli befürchtet hatten: Kalle ließ es sich nicht nehmen, zum heutigen Tag seine Knittelverse beizusteuern. Er ließ die Musiker einen Tusch spielen, stellte sich mit seinem Zettel in Positur und freute sich, weil ihm einige aus dem Publikum, die schon wussten, was auf sie zukam, einen Vorschussapplaus spendierten.

»O Gott – lass es schnell vorübergehen«, seufzte die Frau Baronin, und auch Jenny verdrehte die Augen. Drüben, wo Wolf Kotischke und Mücke saßen, wurde jetzt schon gelacht.

»Die Jenny kam auf Dranitz an

Und brauchte dringend einen Mann …«, rief Kalle laut in den Saal hinein.

»Das ist ja wohl …«, flüsterte Jenny empört.

»Psst!«, machte Ulli und legte vorsichtshalber den Arm um sie.

»Was haben wir gesucht

Und fürchterlich geflucht

Weil von den Kerlen allen

Ihr keiner wollt gefallen …«

»Was denn für Kerle?«, murmelte Cornelia. »Hab ich da was verpasst?«

»Der war zu fad, der war zu krumm,

Der eine lahm, der andre dumm …«

»Ein etwas deftiger Humor«, hörte man Simon Strassner flüstern, der Jenny zur Hochzeit das Inspektorenhaus überschrieben hatte. Er könne bei seinen Besuchen gut und gerne im Gutshotel übernachten, und da Julchen jetzt ohnehin in Ludorf wohnen würde, brauche er es nicht mehr. Es solle seiner Tochter an deren einundzwanzigstem Geburtstag zufallen – sozusagen als Starthilfe ins Erwachsenenleben.

»Ulli wollt sie nehmen,

Den schickte sie nach Bremen …«, fuhr Kalle unerbittlich fort.

»Ist gar nicht wahr!«, rief Ulli laut. »Ich bin freiwillig gegangen!«

Gelächter folgte auf seinen Zwischenruf. Kalle musste einen Moment warten, bis er weiterreden konnte.

»Doch was sich neckt, das liebt sich,

Und Streit und Kummer gibt sich.

Ulli holt den Adebar,

führt Jenny vor den Traualtar!«

Damit war Kalles Dichtkunst erschöpft, er hob das Glas und ließ das Brautpaar hochleben, Applaus brandete auf, es wurde gewitzelt und viel gelacht, Elfie und ihre beiden Kolleginnen schenkten Wein und Bier nach.

»Adebar?«, fragte Karl-Erich. »War denn nicht Kalle der Trauzeuge?«

»Das ist der Storch, der Jenny ins Bein gezwickt hat«, erklärte Walter Iversen schmunzelnd.

Der Hochzeitstanz war fällig, und wieder musste Mine ihr Taschentuch suchen, weil die beiden solch ein schönes junges Paar waren. Als dann die Frau Baronin mit dem Herrn Iversen auf die Tanzfläche trat, wurde Mines Taschentuch durch und durch feucht. Danach saß sie neben ihrem Karl-Erich, und sie schauten zu, wie sich die Paare auf der kleinen Tanzfläche drehten. Sonja und Bernd, die Frau Baronin und Herr Iversen, Kalle und seine Mücke, Tom und seine Freundin Maggy, Elke Stock und Rocky vom Zeltplatz. Ulli hatte schon lange gehofft, dass der Rocky bei der Elke landen konnte, denn er war ein feiner Kerl, und nach der Enttäuschung mit dem Jürgen hatte die Elke einen anständigen Mann an ihrer Seite verdient.

»Na, so was! Das ist ja der Herr Pfarrer, der da mit Cornelia tanzt«, wunderte sich Mine. »Und wer hat da eigentlich Anne Junkers im Arm? Den kenne ich gar nicht …«

Karl-Erich kniff die Augen zusammen, weil er dann auf die Entfernung besser sehen konnte.

»Das könnte Jörg sein …«

»I wo! Das ist doch ein erwachsener Mann, nicht ihr Sohn …«

»Ich mein doch Jörg Krumme! Kannst du dich nicht mehr an den erinnern? Den Sohn vom Max …«

Tatsächlich. Jetzt fiel sein Blick auf Mine, und er winkte ihr zu. War immer schon ’n netter Kerl gewesen, der Jörg, still und zurückgezogen, ein Bücherwurm …

Es war draußen schon dunkel, als die Hochzeitstorte ins Restaurant geschoben wurde. Man hatte die Deckenbeleuchtung ausgeknipst, und die Kerzen auf den Tischen überzogen den festlich geschmückten Raum mit einem beinahe magischen Glanz. Karl-Erich aß drei Stücke und musste dann eingestehen, dass er beinahe satt sei.

Der Sturm hatte sich gottlob gelegt, sodass Mine schon daran dachte, sich nun nach Hause fahren zu lassen, denn es war für sie beide ein anstrengender Tag gewesen, und Karl-Erich fielen immer wieder die Augen zu. Aber die jungen Leute hatten noch lange nicht genug, sie waren aus dem Restaurant gelaufen, standen im Eingangsraum des Gutshauses, und Mine hörte, wie die Frau Baronin aufgeregt rief: »Das ist doch viel zu nass, Ulli! Und der See ist bestimmt über die Ufer gegangen!«

»Nur keine Panik, Franziska. Das kriegen wir schon hin. Wer kommt mit? Fackelzug zum See runter und eine Runde rudern?«

Ein ganzer Pulk folgte ihm, sogar Jenny in ihrem weißen Hochzeitskleid und natürlich Mücke, Elke, Maggy, Rocky, Tom und Kalle. Sonja und Bernd schlossen sich an und sogar Cornelia. »Das ist doch vollkommen verrückt!«, stöhnte die Frau Baronin und wollte schon hinterhereilen, aber der Herr Iversen hielt sie am Arm zurück.

»Komm, wir gehen in den ersten Stock hinauf. Da können wir die Lichter und den See sehen«, schlug er lächelnd vor.

Mine blieb bei ihrem Karl-Erich sitzen und sah den übrigen Hochzeitsgästen zu, die munter weiter die Tanzfläche stürmten.

»Weißt du noch?«, fragte sie ihn und leerte ihr Weinglas. »Weißt du noch, wie sie damals mit Fackeln zum See gelaufen und in die Boote gestiegen sind? All die jungen Leute. Der Major Iversen und die Franziska waren dabei. Und die Elfriede …«

»Weiß ich noch genau«, sagte er. »Ich hab doch die Boote vorbereiten müssen. Schön sah das aus, wie sie mit all den Lichtern auf den dunklen See hinausgerudert sind.«

Mine hatte damals oben am Fenster gestanden. Und weil sie das Bild noch so genau vor Augen hatte, tat es ihr auch nicht leid, dass sie jetzt hier bei Karl-Erich saß. Sie hatte ja ihre Erinnerungen, und die wurden mit den Jahren nicht blasser, sondern nur stärker und heller.

Nichts ging zu Ende. Alles begann immer wieder von Neuem. Das Neue trug ein anderes Kleid, aber es sang das gleiche Lied.