Cornelia
Der Tag war so ziemlich das Letzte gewesen, aber der weiße Kleinlaster auf ihrem Parkplatz im Hof – das war die Krönung. So nicht, liebe Nachbarn! Anliefern oder Abholen, das war genehmigt. Aber dann hatten sie mitten im Hof zu stehen und nicht auf ihrem Parkplatz, für den sie jeden Monat dreißig Mark blechte.
Wütend stieg Cornelia aus, knallte die Autotür hinter sich zu und ging eiligen Schrittes zu dem dreisten Parkplatzbesetzer, doch die Fahrerkabine war leer. Nur eine kleine blonde Plastikpuppe und eine Kette mit blauen Steinen baumelten am Rückspiegel. Als sie sich umdrehte, sah sie einen muskulösen Mann mit dunklen Haaren und tätowierten Armen im Hauseingang, der einen rosa Sessel hinaustrug und auf der Ladefläche des Kleinlasters verstaute. Anschließend wischte er sich den Staub vom T-Shirt und strebte erneut Richtung Haustür.
»Hallo?«, rief Cornelia. »Sie blockieren meinen Parkplatz!«
Der Mann warf einen Blick auf ihren schwarzen Opel, der neben der Hofeinfahrt stand.
»Bin gleich fertig«, sagte er mit türkischem Akzent. »Nur noch Bett und Schrank und zwei Kisten. Dauert nicht mehr lange.«
»Nein!«, widersprach sie energisch und trat auf den Mann zu. »Kommt nicht in Frage. Und tragen Sie sofort den Sessel wieder rein.«
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Warum?«
»Weil das mein Sessel ist. Darum.«
Jetzt war er verblüfft. Kratzte sich im Nacken, schaute auf den Sessel, dann wieder zu Cornelia, schließlich wanderte sein Blick an der Hauswand hinauf bis zum zweiten Stock. Dorthin, wo ihre Wohnung war.
»Ihr Sessel? Frau Himmelreich hat gesagt …«
»Sylvie!«, fiel sie ihm ins Wort. »Das darf doch nicht wahr sein!« Kaum zu fassen, aber sie hatte ihre Drohung tatsächlich wahrgemacht. Das hatte sie nur geschafft, weil Thomas ihr den Rücken stärkte. Allein hatte Sylvie noch nie eine Entscheidung fällen können.
»Dieser Sessel gehört mir«, erklärte sie dem Mann mit fester Stimme. »Tragen Sie ihn zurück, sonst hole ich die Polizei.«
Der Möbelpacker zuckte leicht zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf, doch er machte Anstalten, den Sessel von der Ladefläche zu holen.
Cornelia ging ihm voran ins Haus und die Treppen hinauf. Oben angekommen, sah sie, dass die weiß lackierte, altmodische Wohnungstür weit offen stand. Dahinter entdeckte sie zwei Kartons, einen Gummibaum, drei Plastiktragetüten und das Vorderteil eines hölzernen Bettgestells.
»Sylvie!« Cornelia schnaufte. Sie war noch nie besonders sportlich gewesen, und das Treppensteigen hatte sie aus der Puste gebracht. »Sylvie! Was soll das?«
Die blonde Wuschelmähne, durch die sich jetzt graue Fäden zogen, erschien über einem Karton. Sylvies Gesicht war blass und zerknittert, die erschrockenen Augen sahen hinter der runden Nickelbrille noch größer aus, als sie in Wirklichkeit waren.
»Conny?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Du bist schon zurück? Wolltest du nicht erst morgen …?«
Aha! Sie hatte während ihrer Abwesenheit heimlich alles zusammenpacken und ohne Abschied verschwinden wollen. Und das nach über fünfundzwanzig Jahren, in denen sie zusammengewohnt hatten. Sechsmal waren sie gemeinsam umgezogen, hatten Freud und Leid miteinander geteilt, genau wie die Möbel, die Lebensmittel und manchmal sogar die Männer. Und das sollte nun das Ende einer jahrzehntelangen Freundschaft sein? Nur weil irgendein Typ Sylvie etwas von Liebe und Heirat eingetrichtert hatte?
»Wir waren schon einen Tag früher fertig«, erklärte sie kühl und schob die Kartons zur Seite. »Und dass eines klar ist: Der altrosa Sessel bleibt hier. Den habe ich von meinen Eltern geschenkt bekommen, der gehört mir!«
Sylvie war ganz aufgelöst vor Aufregung und schlechtem Gewissen.
»Du hast doch nie darin gesessen, Conny. Hast du nicht immer behauptet, dass du das scheußliche Plüschteil am liebsten in den Sperrmüll geben würdest? Ich hab gedacht, ich tu dir einen Gefallen, wenn ich ihn mitnehme …«
»Quatsch!«
Ganz unrecht hatte Sylvie nicht. Damals war sie fuchsteufelswild gewesen, weil ihre Eltern ihr einfach eine Wagenladung Möbel, Geschirr und andere praktische Dinge in ihre Studenten-WG in Frankfurt geschickt hatten. Sie hätten gehört, dass sie auf dem Boden schliefen, hatte Mama damals am Telefon gesagt, als sie zornbebend zu Hause anrief. Conny hatte alles verschenkt – es genügte schon, dass sie sich den Zwängen ihres Vaters Ernst-Wilhelm, für den die Firma stets an erster Stelle stand, hatte beugen und vor dem Studium eine Banklehre absolvieren müssen. Das Studium der Betriebswirtschaften hatte sie abgebrochen, sobald sie von zu Hause raus war, und sich ganz den Geisteswissenschaften und der Politik verschrieben. Der rosa Plüschsessel war übrig geblieben, weil ihn keiner haben wollte. Sie hatte das Teil nie leiden können, aber jetzt, da Sylvie, diese untreue Person, mit dem rosa Monstrum still und heimlich verschwinden wollte, spürte sie auf einmal, dass sie doch tatsächlich an diesem Sessel hing. Warum, das war psychologisch ganz sicher erklärbar, ein Rückfall in die Kindheit vermutlich, ausgelöst durch eine Krise …
Was für eine Krise eigentlich? Es gab keine Krise in ihrem Leben. Beruflich lief alles glatt, da hatte sie vieles ausprobiert und wieder verworfen, hatte manches Mal die Stadt gewechselt, bis sie sich schließlich in Hannover eingelebt hatte, wo auch einige WG-Mitglieder von früher Fuß gefasst hatten, darunter auch Sylvie, der Herrmann und der Bernd, Jennys Vater, ihr On- und Off-Partner und seit etwa zwei Jahren wohl endgültig off. Der Bernd hatte hier früher eine florierende Anwaltskanzlei betrieben, bevor er als Ökobauer in MeckPom hängen geblieben war. War immer schon ein Spinner gewesen, aber ein liebenswerter, ein Träumer … Sie selbst war vor einiger Zeit als Quereinsteigerin bei der Unternehmensberatung Schindler gelandet – die Unternehmensberatungen boomten seit einiger Zeit, und man war immer offen für Neues.
Privat – nun ja, da herrschte momentan ein wenig Ebbe, aber das konnte man nicht »Krise« nennen. Eher »Leerlauf«. »Ruhephase«. Die Vorbereitung auf einen neuen Lebensabschnitt. Genau. Sie war sozusagen auf dem Sprung, und das nicht zum ersten Mal. Hinter ihr erschien der Möbelpacker in der Wohnungstür. Cornelia zeigte ihm, wo er den Sessel abstellen sollte: im Wohnzimmer, das nun kein gemeinsames mehr sein würde, sondern nur noch ihres. Die Letzte, die aus der WG übrig geblieben war. Ein Urgestein. Ein Dinosaurier. Ein Fossil. Conny Kettler, politische Aktivistin, Kommunistin, Frauenrechtlerin. Geschasste Gymnasiallehrerin, die Anfang der Siebziger mal in einer durchsichtigen Bluse in die Schule gegangen war. Was zu ihrem Rauswurf geführt hatte. Disziplinarverfahren. Moralisch nicht in der Lage, die Jugend zu erziehen. Na ja – Schwamm drüber. Waren ihre wilden Jahre gewesen. Lange her.
»Ziehst du zu Thomas?«, rief sie in den Flur hinein.
Ihre Mitbewohnerin oder vielmehr ehemalige Mitbewohnerin antwortete nicht gleich, weil der Möbelpacker – offenbar ein Bekannter von ihr – wissen wollte, was nun mit den anderen Sachen sei.
»Ja, zu Thomas«, hörte sie Sylvie sagen, bevor diese zu ihr ins Wohnzimmer trat. »Er kann die Wohnung sonst nicht halten, weil sie ihm die Miete erhöht haben. Das Bett willst du nicht haben, oder?« Das Bett hatte Herrmann gehört, doch der hatte es dagelassen, weil er zweimal mit seinem Freund durch die Latten gekracht war. Sylvie hatte Bücherkartons daruntergestellt, da hielt es.
»Nimm es ruhig mit«, knurrte Cornelia.
Was für ein fadenscheiniger Vorwand! Der arme Kerl konnte seine Miete nicht länger allein zahlen. Sylvie, der Engel der mittellosen Mieter. Thomas war ein arbeitsloser Werbezeichner und die faulste Socke, die Cornelia je über den Weg gelaufen war. Aber wenn Sylvie ihn finanzieren wollte – sie hatte ja ihr Gehalt als Grundschullehrerin.
»Und wieso hilft er dir nicht beim Umzug?«
»Er hat sich den Fuß verstaucht.«
»Nein, so ein Pech aber auch!«
Sylvie lächelte verlegen und tat so, als habe sie die Ironie nicht bemerkt. Sie ging auf Cornelia zu, legte ihr die Arme um den Hals und drückte sie schwesterlich an sich.
»So ist das eben, Conny. Immer wenn etwas Altes zu Ende geht, fängt etwas Neues an. Ich danke dir für die schöne Zeit, die wir miteinander hatten.« Ihre Schultern fingen an zu beben.
»Ist ja gut«, murmelte Cornelia und streichelte unbeholfen Sylvies zuckende Schultern. »Deshalb musst du nicht gleich heulen. Du bist ja nicht aus der Welt. Und wenn du irgendwann wiederkommen willst …«
»Ach, Conny … Wenn du nicht solch eine Tyrannin wärest …« Sylvie presste ihre nasse Wange an Cornelias Jackenaufschlag. Conny krauste die Stirn. War sie wirklich eine Tyrannin?
Im Flur krachte es laut – das Rückenteil des Betts war umgefallen. Gleichzeitig drang aus dem Hof ein ohrenbetäubendes Hupkonzert zu ihnen herauf. Cornelia löste sich aus Sylvies Umarmung und eilte zum Fenster. Aha, der Noltemayer stand mit seinem BMW in der Hofeinfahrt und konnte nicht auf seinen Parkplatz fahren, weil ihr Opel den Weg blockierte.
»Ach du lieber Gott!«, rief Sylvie. »Bist du fertig, Osman? Wir müssen uns beeilen!«
Osman hechtete die Stufen hoch und schnappte sich das Bettkopfteil, Sylvie nahm den Gummibaum und ihre Handtasche, dann folgte sie ihrem Helfer, während Cornelia ihr wie erstarrt nachsah.
»Tschüss, Conny!«, rief Sylvie noch über die Schulter, während sie schon die Treppe hinunterlief. »Wir sehen uns … bald …«
Es hupte erneut. Cornelia löste sich aus ihrer Starre und rannte ebenfalls nach unten. Osman steuerte den Kleinlaster aus der Hofeinfahrt, vorbei an dem wütend gestikulierenden Noltemayer, und Conny stieg in ihren Opel, um ihn auf ihrem nun freien Parkplatz abzustellen. Sie wartete, bis ihr Nachbar – ein ewig gestresster Abteilungsleiter bei einem Automobilzulieferer, der glaubte, den oberen Teil der Karriereleiter noch vor sich zu haben – im Haus verschwunden war, dann stieg sie aus, holte Koffer und Aktentasche aus dem Kofferraum und kehrte in ihre leere Wohnung zurück.
In ihrem Zimmer, in dem sie auch ihr Büro eingerichtet hatte, stellte sie die Sachen ab und zog sich erst einmal bequeme Sachen an. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich an die Businessklamotten gewöhnt hatte, die man als Unternehmensberaterin zu tragen hatte. Musste halt sein, gehörte dazu, aber sie kam sich damit immer irgendwie verkleidet vor. In der Küche hatte sich kaum etwas verändert. Die Töpfe waren noch da, Geschirr und Besteck ebenfalls. In der Speisekammer fehlte allerdings einiges. Obst gab es keins mehr, auch keine Zwiebeln, sogar die Möhren hatte sie mitgenommen. Cornelia wurde klar, dass sie von nun an selbst kochen musste. Sylvies köstlicher Eintopf, den man so gut aufwärmen konnte, ihre Pfannkuchen, die Königsberger Klopse, der leckere Hackbraten – alles Schnee von gestern. Sie nahm sich eine Tütensuppe, füllte Wasser in einen Topf und setzte ihn auf den Elektroherd. Hühnersuppe mit Nudeln. Na ja … Brot war auch alle, im Kasten lag nur eine vertrocknete Weißbrotscheibe. Als sie gerade die heiße Suppe in einen Teller gefüllt hatte und das trockene Brot hineinbrocken wollte, klingelte das Telefon.
Der Chef war dran. Herr Schindler. Woher wusste der, dass sie schon zu Hause war?
»n’Abend, Frau Kettler. Kann es sein, dass Sie Schulz & Kundermann versehentlich das alte Konzept gegeben haben? Das, wo die Verbesserungen noch nicht eingearbeitet waren?«
Es musste einen internen Informationsfluss geben, der ihr verborgen blieb. Klar hatte sie denen das alte Konzept gegeben. Weil das das bessere war.
»Das kann ich mir kaum vorstellen, Herr Schindler, aber ich werde selbstverständlich nachhaken.«
»Tun Sie das, wenn möglich zeitnah. Wäre schade, wenn uns der Auftrag deshalb durch die Lappen ginge.«
»Keine Sorge, Herr Schindler. Ich kümmere mich darum.«
Während sie in der Küche ihre Suppe löffelte, fühlte sie, wie Frust in ihr aufstieg. Da fuhr sie zum Kunden, schaute sich den Betrieb an und arbeitete ein Konzept aus, um ihn rentabler zu machen, und dann kamen diese jungen Schnösel, frisch von der Uni, null Ahnung von der Praxis, aber fest davon überzeugt, die besseren Ideen zu haben, und zerpflückten es. Anschließend schoben sie jede Menge Schwachsinn, den sie unverdaut von der Uni mitgenommen hatten, in ihre Arbeit hinein und verkauften dem Chef das Ganze als großartige Verbesserung. Und Schindler fiel auch noch darauf herein! »Neue Leute bringen neuen Schwung«, lautete seine Devise. Wenn er das im Ernst glaubte, sollte er lieber selber bald seinen Sessel räumen, immerhin war er schon fast sechzig.
Nein, wenn sie ehrlich war, lief es im Job eigentlich auch nicht rund. Sie stellte das Geschirr in die Spüle und ging hinüber ins Wohnzimmer, um den Fernseher anzuschalten. Sie brauchte jetzt dringend Ablenkung. Aber die leeren Regale, auf denen Sylvies Bücher gestanden hatten, waren nicht dazu angetan, ihre Stimmung zu heben. In Sylvies ehemaliges Zimmer ging sie heute besser noch nicht, dazu war morgen noch Zeit. Am Wochenende würde sie umräumen, ihr Bett und den Kleiderschrank rüber in Sylvies Zimmer schieben und das Büro in ihrem Zimmer um ein paar Regalbretter erweitern. Es sammelten sich sowieso jede Menge Unterlagen an, sie wusste schon gar nicht mehr, wo sie den Krempel lassen sollte. Herrmanns ehemaliges Zimmer diente inzwischen nur noch als Abstellkammer. Wie gut, dass sie den Sessel behalten hatte, der war eigentlich total gemütlich, man konnte sich auch quer daraufsetzen und die Beine über die Armlehne baumeln lassen. Oder sich unter einer Wolldecke zusammenkauern, den Kopf seitlich an das dicke Rückenpolster gelehnt, die Beine hochgezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Davon bekam sie allerdings nach einer Weile Rückenschmerzen, und die Arme schliefen ihr ein. Also besser die Beine ausstrecken und die Füße auf einen Schemel legen. Großer Gott – so hatte ihr Vater früher in ihrem Haus in Königstein immer am Fernseher gesessen. Mama hatte ihm extra einen speziellen Hocker dafür gekauft, der hatte ein Polster, das mit Kunstleder bezogen war, damit man es abwaschen konnte.
Conny stand auf und trat ans Fenster. In ihr breitete sich ein beklemmendes Gefühl der Einsamkeit aus. Sie dachte an die alten Zeiten, in denen sie sich mit bis zu zehn Leuten eine Wohnung geteilt hatte. Wie oft hatte sie sich damals insgeheim danach gesehnt, endlich mal allein zu sein, aber so beklemmend hatte sie sich das Alleinsein nicht vorgestellt. So still. So endgültig. Ob sie Herrmann mal anrief? Aber der lebte mit seinem Freund zusammen, und wenn er mal vorbeikam, dann nur, um sie anzupumpen. Gudrun? Ach, die war inzwischen verheiratet und hatte Zwillinge. Manni vielleicht? Manni war immer ein netter Kerl gewesen. Sonderschullehrer, hatte sich für Kinder aus sozial schwachen Schichten engagiert. Ach richtig, der war ja nach Australien gegangen. Sie könnte auch eine Anzeige aufgeben. Mitbewohner für WG gesucht. Früher hatten sie einfach einen Aushang im Supermarkt gemacht, das hatte immer funktioniert. Aber da waren sie jung und unbefangen gewesen. Heute sah sie das anders. Sie hatte schon zu viel erlebt, war wählerisch geworden. Hatte keine Lust, irgendeinen Spinner in ihre Wohnung zu lassen.
Apropos Spinner. Sie könnte ja mal Bernd anrufen. Sie hatte ihn sehr bewundert für den Mut, seine Kanzlei zu schließen und etwas ganz Neues anzufangen. Erst später war sie darauf gekommen, weshalb er sich unbedingt auf den ehemaligen Ländereien des Gutshofs Dranitz niederlassen wollte: wegen Jenny. Eigentlich ein feiner Zug von ihm. Er hatte sich überhaupt vorteilhaft entwickelt, war nicht mehr der spießige Langweiler, der wutschnaubend aus der WG auszog, weil er es nicht leiden konnte, dass Klausi ständig seinen Rasierer benutzte. Es hatte damals viel Streit gegeben, und weil sie so sauer auf ihn gewesen war, hatte sie ihm nicht gesagt, dass Jenny seine Tochter war. Aber Bernd war ja nicht blöd, er musste es die ganze Zeit über geahnt haben. Er hatte die Kleine immer sehr gemocht und sich rührend um sie gekümmert, als er noch bei ihnen wohnte.
Und nun wollte er also in MeckPom die Vater-Tochter-Beziehung auffrischen und sich zugleich einen alten Traum erfüllen: ökologische Landwirtschaft. Kein Kunstdünger. Keine Pestizide. Alles ganz natürlich. Er verzichtete sogar auf einen Traktor und pflügte stattdessen mit einem Pferdegespann wie vor hundert Jahren. Und wenn sie ihm Ratschläge gab, wie er seinen Betrieb funktionaler organisieren könnte, dann hörte er gar nicht hin.
Sie zögerte, doch schließlich stand sie auf und holte das Telefon aus dem Büro. Weil sie es zu mehreren genutzt hatten, hatte der Apparat eine lange Schnur, und wer das Gerät suchte, musste nur der Schnur folgen. Nun ja – auch das war jetzt vorbei.
Sie kannte Bernds Nummer auswendig, ihr Zahlengedächtnis war immer schon hervorragend gewesen. Um diese Zeit musste er seine Kühe bereits gemolken haben, es konnte höchstens sein, dass er noch in der Käserei arbeitete. Conny hasste Milch, vor allem wenn sie aufgewärmt wurde, und der Geruch in der Käserei würde sie vermutlich umbringen.
»Kuhlmann?«
Er war zu Hause! Endlich hatte sie mal Glück an diesem elenden Tag.
»Grüß dich, Bernd, hier ist Conny. Wollte mal hören, wie es dir so geht …«
Wenn sie bloß sein Gesicht sehen könnte! Freute er sich, oder war er genervt?
»Hallo, Conny. Lange nichts gehört. Hier geht alles seinen normalen Gang. Es gibt ständig zu tun. Letzte Woche hab ich Kohl gesetzt, außerdem hat eine der Kühe ein Kälbchen bekommen. Das war ganz schön aufregend.«
»Wie geht’s Jenny?«, unterbrach Cornelia, die seine Erfahrungen mit dem glücklichen Landleben eher weniger interessierten.
»Die schreibt bald ihre Probeklausuren fürs Abi. Du weißt doch, an einer Fernschule läuft das ein bisschen anders. Die müssen sich erst mal mit Probeklausuren für die richtigen Prüfungen qualifizieren. Ist fürchterlich nervös, das Mädel. Mathe ist ihr Problem, aber da kann ich ihr leider nicht viel helfen.«
Cornelia verkniff sich die Bemerkung, dass ihre Tochter das Abitur längst in der Tasche haben könnte, wenn sie nicht damals die Schule geschmissen hätte.
»Das schafft sie schon«, sagte sie zuversichtlich. »Ist nicht dumm, unsere Jenny. Und sonst? Wie geht’s meiner Mutter?«
Er war über alles gut informiert. Respekt. In nur drei Jahren hatte er es geschafft, nicht nur seine Tochter, sondern auch Franziska und den übrigen Familienclan für sich zu gewinnen, während sie außen vor geblieben war.
Irgendwie stieg ihr das jetzt bitter auf. Sie war außen vor. Eine Tyrannin, hatte Sylvie gesagt. Eine einsame Tyrannin.
»… übrigens hat deine Mutter Jenny als Mitbesitzerin eintragen lassen. Vor einer Weile schon«, hörte sie Bernd sagen. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt, Conny.«
Seine Worte rissen Cornelia abrupt aus ihrem Selbstmitleid. In ihrem Kopf klingelten die Alarmglocken.
»Warum das denn? Hat Jenny etwa einen Kredit aufgenommen?«
Bernd antwortete nicht. Stattdessen drangen seltsame Geräusche aus dem Hörer. Rauschen, Knistern, ein seltsames Schleifen …
»Bernd? Hallo? Bist du noch dran? Ist dir die Bude auf den Kopf gefallen?«
»Conny?«, rief er. »Hallo?«
»Ich bin noch da. Was treibst du?«
Sie hörte ihn lachen. Er lachte anders als früher. Offener. Wärmer.
»Ich habe drei junge Katzen aufgenommen. Sonja Gebauer, Walters Tochter, hat sie mir gebracht, weil ich ja hier jede Menge Platz habe, aber die machen jetzt lauter Unsinn. Eben musste ich rasch mein Abendbrot verteidigen …«
Katzen! Uh, sie hasste Katzen. Tiere überhaupt, die waren so unberechenbar. Höchstens noch Hunde. Die konnte man immerhin abrichten.
»Was hast du gerade gefragt?«
»Ob Jenny einen Kredit am Hals hat, wollte ich wissen.«
Er zögerte, dann antwortete er mit ernster Stimme: »Ich fürchte ja, Conny. Die Kosten für den Umbau sind offensichtlich explodiert.«
Na prächtig! Jenny hatte Bankschulden. Und Franziska vermutlich auch. Konnten sie die überhaupt abzahlen?
»Ist denn das Restaurant endlich eröffnet? Ich dachte, es wäre fertig. Und Zimmer können Sie doch jetzt auch vermieten, oder?«
»Das Restaurant ist offen. Ostersonntag hat die große Einweihung stattgefunden, doch während der Woche ist kaum was los. Nun ja, wenn erst Pfingsten ist, kommen die Touristen. Es sind bereits die ersten Reservierungen eingegangen. Mit dem Wellnessbereich wird es jedoch so schnell nichts – im Keller arbeitet ein Archäologenteam, weil man bei den Ausschachtungen für den Pool ein Skelett entdeckt hat, das dort offensichtlich schon sehr lange liegt.«
Sie hatten einen Toten gefunden, berichtete Bernd. Eine Nonne aus dem dreizehnten Jahrhundert, vielleicht sogar eine Äbtissin. Sie war nicht auf einem Friedhof, sondern in einer Kirche beerdigt worden, denn das Gutshaus stand auf den Ruinen eines mittelalterlichen Klosters.
»Historisch sehr interessant«, meinte Bernd. »Nur ist unten im Keller vorerst Baustopp, bis sämtliche Untersuchungen abgeschlossen sind.«
Das wäre nicht weiter schlimm, dachte Cornelia. Ihrer Meinung nach war es sowieso klüger, zuerst die Außenanlagen anzugehen: Park, Kinderspielplatz, Ruderboote, Pferde. Da konnte man mit Wochenendausflüglern anfangen. Gezielt in die Werbung einsteigen. Damit endlich mal was reinkam …
»Und wie geht’s dir so, Conny?«
»Mir? Gut. Läuft alles nach Plan.«
Offenbar hatten ihre Worte nicht so überzeugend geklungen, wie sie beabsichtigt hatte, denn Bernd räusperte sich und schlug dann vor: »Wenn du überarbeitet bist, kannst du ja mal rüberkommen. Raus aus der Stadt, ein bisschen Landluft schnuppern …«
»Wie kommst du darauf, dass ich überarbeitet bin?«, fuhr sie ihn an.
»Keine Ahnung«, sagte er beschwichtigend, »vielleicht weil es mir ähnlich geht.«
Dass er sich zu viel aufgeladen hatte, konnte sie sich denken. Hoffentlich schaffte er das, er war ja nicht mehr der Jüngste.
»Vielleicht komme ich tatsächlich mal vorbei«, überlegte sie laut. »Im Juni. Oder etwas später im Sommer. Momentan ist viel zu tun, da kann ich nicht weg.«
»Das wäre schön. Bis bald, Conny. Ich muss leider aufhören, ich will noch rüber in die Käserei.«
»Bis dann, Bernd.« Cornelia legte auf und hielt den Hörer noch ein Weilchen in der Hand. Verdammt, sie würde wirklich gern nach Dranitz fahren. Die Landschaft in MeckPom hatte etwas Beruhigendes. Nahm einem den Stress. Man konnte aufatmen, sah weit hinein in die grünen Wiesen und Äcker bis dorthin, wo der Himmel die Felder berührte. Stille, schattige Alleen, Kiefernwäldchen, flauschige Sommerwölkchen am Himmel …
Nee – keine Chance. Sie konnte hier nicht weg. Sobald sie auch nur für ein paar Tage Urlaub machte, hatten die Unifrischlinge ihren Stuhl abgesägt.
Sie schaltete den Fernseher wieder ein, fand eine angebrochene Tüte Kartoffelchips in der Speisekammer und nahm sich ein Bier. Gerade als sie es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte, ging das Telefon.
»Frau Kettler? Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe. Wir haben hier noch zusammengesessen und uns beraten.«
Der Kundermann von Schulz & Kundermann.
»Wir sind von Ihrem Konzept überzeugt und würden es gern umsetzen. Können wir gleich einen Termin für die kommende Woche vereinbaren? Sagen wir Montagvormittag … Herr Schindler ist bereits informiert.«
Na also! Ausgetrickst hatte sie die jungen Schnösel. Jetzt machte das Leben wieder Spaß.