Jenny

»Hast du schon etwas von den Probeklausuren gehört?«, erkundigte sich Kacpar, der wieder einmal mit Jenny und der Kleinen auf dem Weg zu der alten Fabrik war, in der der Holländer sein Lager für antike Möbel hatte.

»Echt, das war für Kleinkinder!«, prahlte sie. »Sogar Mathe hab ich hingekriegt, obwohl ich die totale Panik geschoben habe. Mensch, Kacpar, ich hab’s hinter mir, und ich glaub, ich hab es sogar gut gemacht. In drei Wochen muss ich zu den richtigen Prüfungen antreten, in Hamburg.«

Kacpar setzte den Blinker, und sie bogen am Ende der schmalen Seitenstraße auf das ehemalige Fabrikgelände ab. Der Holländer war ein alter Bekannter, schon Oma Franziska hatte bei ihm gekauft, als er noch in Dranitz sein Lager hatte, und Jenny war sicher, hier einige hübsche Stücke für die Gästezimmer zu entdecken – Kleinigkeiten, die ihnen noch fehlten, außerdem ein paar schicke Sitzmöbel, gerne im Biedermeierstil, der passte so gut zum Gutshaus. Die betonierte Fläche rund um die Lagerhalle war voller Schlaglöcher und Pfützen, weshalb Kacpar so gefühlvoll wie möglich fuhr, trotzdem begann Julchen in ihrem Kindersitz auf der Rückbank zu quengeln.

»Du musst dir vorstellen, das Auto ist ein wildes Pferd«, sagte er nun. »Achtung, gut festhalten, jetzt kommt noch ein Sprung!«

Er machte das richtig gut, fand Jenny, denn die Kleine fing an zu jubeln und wollte, dass das Pferd noch einmal sprang. Und noch mal. Und noch ein letztes Mal.

Als der Wagen hielt und Jenny sie aus dem Sitz hob, verzog sie das Gesicht. »Mama, ich muss Pipi!«

»Kein Problem, wir gehen schnell hinter die Halle.«

Hinter der Halle war allerlei Gestrüpp, Käfer und Fliegen summten, in der Luft lag ein strenger Geruch. Jenny war froh, dass die Zeremonie einigermaßen flott vonstattenging und niemand in der Nähe war. Als sie der Kleinen half, das Höschen wieder hochzuziehen, stellte sie fest, dass sie einen merkwürdigen rotbraunen Ausschlag am Bauch hatte. Eine Allergie? Oder am Ende die Masern? Doch hätte sie dann nicht Fieber haben müssen? Hatte sie aber nicht, die Stirn war verschwitzt, allerdings nicht heiß …

Kacpar hatte geduldig auf sie gewartet. Es machte einen Riesenspaß, mit ihm zusammen für das Gutshaus einkaufen zu gehen. Ganz gleich, ob sie Steine, Fliesen, Parkettböden oder Elemente für die Bäder aussuchten – Kacpar ging immer auf ihre Ideen ein, ergänzte sie mit eigenen Einfällen, korrigierte sie auch, wenn sie sich in ihrer Begeisterung vergaloppiert hatte. Niemals lehnte er einen ihrer Vorschläge kategorisch ab, stattdessen sagte er: »Das könnte schwierig werden«, oder: »Da sehe ich ein kleines Problem.« Und wenn sie beide dann gut überlegten, fand sich immer eine akzeptable Lösung.

Der Holländer war ein kleiner, schmaler Mann mit schütterem Haar und dicker Brille. Er hatte auf sie gewartet, weil Kacpar sie gestern telefonisch angemeldet hatte. Er jammerte über schwierige Einkaufsbedingungen und teure Lagerkosten, aber die Möbel, die er ihnen zeigte, waren traumhaft. Genau das, was sich Jenny vorgestellt hatte. Kleiderschränke aus Nussbaum, einige mit integriertem Spiegel, so wie man sie im neunzehnten Jahrhundert gehabt hatte. Ein Schreibsekretär, Kirschbaum, furniert, mit herunterklappbarer Schreibfläche. Dahinter gab es viele kleine Schubladen und Fächer.

»Wie spannend«, meinte sie. »Ist da auch ein Geheimfach drin?«

Der Holländer zuckte die Schultern, aber Kacpar zog eine der Schublädchen heraus, griff in die Öffnung und brachte eine weitere kleine Lade ans Licht, die dahinter verborgen gewesen war. Leider war sie leer, keine Liebesbriefe, auch keine versteckten Juwelen.

Jenny war begeistert. »Was wollen Sie dafür haben?«

Er wollte tausend Mark, weil das Möbelstück in bestem Zustand und außerdem selten war. Tatsächlich – die Preise hatten ordentlich angezogen. Die Zeit, in der viele hier ihre alten Möbel verschleudert hatten, um sich bei einem der großen Versandhäuser mit Billigmöbeln einzudecken, war endgültig vorbei.

»Schauen wir mal.« Kacpar setzte ein verbindliches Lächeln auf. »Wie schon am Telefon angekündigt, geht es uns darum, acht beinahe fertig eingerichtete Gästezimmer mit zusätzlichem Kleinmobiliar auszustatten, da könnte schnell ein größerer Posten zusammenkommen.«

Das freute den Holländer. Er führte sie durch sein Lager, zeigte seine besten Stücke, erzählte, auf welchem Dachboden, in welcher verstaubten Ecke er dieses oder jenes Juwel entdeckt hatte, was daran restauriert werden müsste, wie und wo man es am besten aufstellte. Jenny wählte einige Sachen aus, untersuchte die Möbel gründlich und fand immer noch eine weitere Macke, wobei Kacpar sie tatkräftig unterstützte. Sie waren ein gutes Team. Niemals ließen sie durchblicken, wie sehr ihnen ein Stück gefiel, stattdessen taten sie beide so, als könnten sie leicht darauf verzichten, wenn der Preis zu hoch war.

Die ganze Zeit über war Julchen erstaunlich brav und still, weshalb Jenny erst nach einer Weile bemerkte, dass ihre Tochter zwischen all den antiken Möbeln verschwunden war. Sie machte sich auf die Suche und entdeckte die Kleine auf einem Biedermeiersofa. Julchen hatte die Arme um ein besticktes Samtkissen geschlungen und schlief tief und fest. Als Jenny sich neben sie setzte und ihr die Hand auf die Stirn legte, spürte sie, dass die Kleine fieberte.

»Kacpar, Julchen geht es nicht gut. Sie muss dringend nach Hause. Könntest du uns rasch fahren und vielleicht später noch mal wiederkommen? Ich denke, wir sind uns einig, was wir brauchen.«

Kacpar nickte, und auch der Holländer erklärte sich in Anbetracht der speziellen Umstände sofort bereit, im Lager auf Kacpars Rückkehr zu warten.

Jenny trug ihre quengelnde Tochter zum Wagen und schnallte sie an. Kaum war Kacpar losgefahren, schlief sie wieder ein. Als Jenny ihre Stirn fühlte, kam sie ihr nicht mehr sonderlich heiß vor. Vielleicht hatte sie sich ja vorhin auch getäuscht.

Sie fuhren über die Landstraße in Richtung Waren. Der Wald war vom lichten Grün der jungen Buchen durchsetzt, auf den Äckern spross der Roggen wie ein sattgrüner Flaum, die Wiesen waren während der Regenperiode kräftig in die Höhe geschossen, ein Schäferhund wie Falko würde darin verschwinden.

»Das Gutshaus deiner Eltern – hatte das Ähnlichkeit mit Dranitz?«, fragte Jenny in die Stille hinein, die sich zwischen ihnen herabgesenkt hatte.

Kacpar warf ihr einen Seitenblick zu, dann räusperte er sich. »Ich kenne es nur von einem alten Foto. Es ist etwas kleiner als Dranitz, aber die gleiche Bauart. Ein Vorbau im klassizistischen Stil mit vier Säulen. Darunter eine breite Treppe, die hinauf zum Eingang führt. Wenn die Herrschaften unten im Garten saßen und Kaffee tranken, lief ein Diener die Treppe mit seinem Tablett hinunter, um Kuchen und Sahne zu servieren.«

»Woher weißt du das, wenn du nie da warst?«, wunderte sie sich.

»Man sieht es auf dem Foto.«

»Aha.«

Sie sah sich nach Julchen um, die immer noch friedlich schlief. Vielleicht hatte sie ja gar keinen Ausschlag am Bauch. Am Ende hatte sie sich nur mit irgendetwas eingeschmiert. Neulich hatte sie Jennys Lippenstift erwischt und sich damit bemalt.

»Ich dachte immer, du hättest dort gelebt. Oder zumindest deine Familie. Es hat doch deiner Familie gehört, oder?«, forschte sie weiter.

Er scherte aus, um auf der schmalen Straße einen Lastwagen zu überholen. »Mein Großvater war dort als Verwalter angestellt«, sagte Kacpar, als er wieder auf der rechten Spur war. »Er hat viel von dem Gut erzählt. Meine Großmutter stammte aus dem Dorf. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Russen das Land und den Hof zugesprochen bekommen, da sind sie gegangen.«

Er wandte ihr das Gesicht zu und lächelte schief. »Meine Vorfahren waren keine adeligen Gutsherren, Jenny. Sie waren einfache Leute, aber sie haben diesen Ort geliebt und oft davon gesprochen.«

»Verstehe«, sagte Jenny.

Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Mein Opa war übrigens auch nicht adelig. Und mein Vater ebenfalls nicht.«

Er schwieg. Offenbar war er verlegen. Jenny dachte nach. Kacpar hatte nie direkt behauptet, von adeligen Gutsbesitzern abzustammen, aber er hatte sehr oft erzählt, dass seine Familie auch einmal einen Gutshof bewirtschaftet hatte, sodass der Eindruck entstanden war, es handele sich um den Familienbesitz. Nun also hatte er sich entschlossen, die wahren Verhältnisse klarzustellen. Das war in Ordnung. Aber auch irgendwie rührend. Kacpar war überhaupt ein lieber Kerl. Wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte sie ihn gern als ihren älteren Bruder adoptiert. Dennoch war sie nie wirklich schlau aus ihm geworden.

»Setzt du uns beide in Ludorf ab, Kacpar?«, fragte sie. »Ulli fährt uns dann zurück nach Dranitz.«

Kacpar nickte etwas verkrampft. Jenny wusste, dass er schon lange ein wenig eifersüchtig auf Ulli war, weshalb sie rasch das Thema wechselte und ihm von dem jungen Paar aus Belgien erzählte, das ein Hausboot gemietet hatte und mit einem Segler kollidiert war. Zum Glück war außer dem Schrecken nicht viel passiert, aber die beiden älteren Herren auf dem Segelboot waren fuchsteufelswild gewesen, weil das Hausboot führerlos im See getrieben war. Das junge Paar hatte sich zu einem Schäferstündchen ins Innere zurückgezogen.

»Ulli hat gesagt, er macht jetzt ein Schild an seine Boote: ›Sex während der Fahrt verboten!‹«

Kacpar lachte etwas gezwungen.

»Soll ich die Kleine nicht besser mit nach Dranitz nehmen? Sie schläft so schön …«,

»Nee lass mal«, meinte Jenny. »Die freut sich doch auf Ulli. Und auf Max.«

Der Parkplatz in Ludorf war so voll, dass Kacpar sie am Seitenrand aussteigen ließ.

»Bis später dann«, rief er durchs Seitenfenster, nachdem Jenny Julchen vom Rücksitz geholt hatte, und winkte zum Abschied.

Julchen fing an zu weinen. Also brütete sie wohl doch etwas aus.

»Darf ich ein Eis haben, Mama?«, bat Jule schniefend, und Jenny sah sie prüfend an. »Der Bauch tut dir nicht weh, oder?«

»Nein. Ich will ein Eis …«

Vor dem Kiosk wartete eine Schlange. Eis und Cola gingen weg wie nix, zwischendurch auch mal eine Zeitung und natürlich Zigaretten. Jenny ging mit Julchen zur Hintertür und klopfte, damit sie nicht so lange anstehen mussten. Max öffnete. Als er sie sah, strahlte er über das ganze Gesicht und ließ sie in den kühlen Kiosk eintreten. Während er weiterhin seine Kunden bediente, durfte sich Julchen ihr Lieblingseis aus der Truhe nehmen. »Ist Ulli am Steg?«, erkundigte sich Jenny.

»Der ist drüben bei der Santa Cäcilia«, antwortete Max und kassierte eine Großbestellung Eis ab. »Die hat gestern wieder mal gemuckt, da wollte er nachschauen, was los ist.«

»Ich nehme Julchen besser mit zum Steg«, meinte Jenny. »Sie war vorhin etwas heiß, als habe sie Fieber, und ist ein bisschen quengelig.«

»Ach wo! Lass sie ruhig hier«, bat Max. »Wir beide kommen schon miteinander klar. Nicht wahr, mein Mädel, du hilfst mir beim Verkauf«, wandte er sich dann an die Kleine, die eifrig nickte.

Jenny bedankte sich und lief zum Bootssteg.

Die Motorjacht Santa Cäcilia war das einzige Boot, das noch an dem neu befestigten Bootsplatz lag, alle anderen waren unterwegs. Es handelte sich um eine schlanke weiße Fairline Turbo von zwölf Metern Länge, das Prunkstück ihrer Flotte. Max hatte das Schiff vor zwei Jahren günstig erhandelt und Ulli damit überrascht.

»Das ist eine Diva«, hatte Ulli mit leichtem Naserümpfen gemeint. »Mit der ist immer was.«

Er hatte recht behalten, denn die Dame war zwar außerordentlich begehrt, hatte aber ihre Launen.

Als Jenny an Bord kletterte, sah sie ihren Ulli schwarz verschmiert und in ebensolcher Laune vor der Bodenklappe hocken, unter der sich der Motor befand.

»Hallo, Schatz!«, begrüßte sie ihn. »Na, will sie wieder mal nicht?«

»Ach, Jenny!«, sagte er. »Nee – ich hab schon den halben Motor auseinandergebaut. Keine Ahnung, warum sie jetzt wieder zickt …«

Es klang nicht so, als wäre er von ihrem Überraschungsbesuch begeistert. Im Moment schien ihm das Innenleben der Santa Cäcilia sehr viel wichtiger als die Gegenwart seiner Liebsten zu sein.

»So sind sie, die Seeleute«, hatte Mücke neulich gewitzelt. »So einen kriegst du nicht für dich allein – den musst du dir immer mit seinem Schiff teilen!«

Aber Ulli war schließlich kein Seemann, der auf den sieben Weltmeeren herumschipperte. Er war bloß gelernter Schiffsbauingenieur und vermietete Boote. Insofern war Jenny nicht geneigt, ihren Schatz mit irgendjemandem zu teilen. Schon gar nicht mit einer Diva, die den albernen Namen Santa Cäcilia trug.

»Kacpar hat mich hergefahren. Wir waren in Neustrelitz bei dem Möbel-Holländer, aber Julchen hat sich plötzlich nicht wohlgefühlt, da dachte ich, wir kommen lieber zu dir, damit sie sich etwas hinlegen kann. Es geht ihr aber schon wieder besser«, fügte sie eilig hinzu. »Sie ist bei Max, futtert Eis und hilft ihm mit den Kunden.«

»Dann kann’s ja so schlimm nicht sein«, sagte Ulli und wandte sich wieder dem Motor zu.

»Rate mal, was wir beim Holländer gefunden haben!«, sprudelte Jenny begeistert hervor. »Du kannst es dir nicht vorstellen: einen supertollen Schreibsekretär mit Geheimfächern!«

Ulli schraubte verbissen an einem ölverschmierten Teil und rutschte immer wieder mit dem Schraubenzieher ab.

»Verdammte Scheiße!«, knurrte er zornig.

»Hörst du mir eigentlich zu, Schatz?«

Der Schraubenzieher glitt aufs Neue ab. Ulli hob den Kopf und sah sie an. Grimmig wäre noch sanft ausgedrückt.

»Klar höre ich zu«, antwortete er unwirsch. »Du hast einen Sekretär gekauft. Und was ist so Besonderes an einem Schreibtisch?«

Du liebe Güte! Sie hatte ja früher auch nicht viel von antiken Möbeln verstanden, aber Franziska hatte das grundlegend geändert. Oma liebte antike Möbel, sie kannte sich damit aus und hatte diese Leidenschaft an ihre Enkelin weitergegeben.

»Das ist kein einfacher Schreibtisch, sondern ein kleiner Schrank, bei dem man eine Platte zum Schreiben ausklappt. Dahinter befinden sich Schubladen oder Fächer, in die man etwas hineintun kann.«

Er nickte und suchte einen anderen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten, um es erneut zu versuchen. Endlich hatte er es geschafft und hielt triumphierend die Schraube in die Höhe.

»Der Holländer ruft uns noch an wegen der Lieferung. Er hat versprochen, uns den nächsten freien Termin zu geben«, frohlockte Jenny. »Dann musst du unbedingt kommen, um dir die Sachen anzuschauen.«

»Klar komm ich«, sagte er. »Du brauchst doch bestimmt jemanden, der dir das Zeug in die Zimmer hinaufträgt, oder?«

»Das natürlich auch …«

Sie schwieg enttäuscht und sah zu, wie er das Innenleben des Metallteils mit einem Pinsel reinigte und schließlich wieder zusammenschraubte. Nee – für ihre Leidenschaft für alte Möbel hatte er wenig Verständnis. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie alle Zimmer mit praktischen Möbeln aus billigem Kiefernholz eingerichtet. »Dauert das noch lange?«, erkundigte sie sich und zeigte auf die geöffnete Klappe.

»Ich hoffe nicht.« Er seufzte. »Ich bau das jetzt mal wieder ein, dann müsste sie eigentlich laufen.«

»Okay, ich schau mal nach Julchen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Wäre superlieb, wenn du uns beide nachher rüber nach Dranitz fahren könntest.«

»Geht klar, Schatz«, sagte er, doch sie merkte, dass er ihr schon gar nicht mehr richtig zugehört hatte.

Gleich darauf hörte sie ihn ächzen und fluchen. Enttäuscht kletterte sie zurück an Land, wo der semmelblonde Rocky inzwischen zwei der Ruderboote in Empfang genommen hatte. Rocky war leicht übergewichtig, doch das beeinträchtigte seine Beweglichkeit nicht. Er winkte Jenny zu und hätte wohl gern ein wenig mit ihr geschwatzt, aber zu seinem Pech kam ein junges Paar mit einem gemieteten Tretboot an den Steg zurückgefahren und benötigte seine Hilfe.

Voller Neid schaute Jenny hinüber zum Zeltplatz, wo etliche Wohnwagen und auch große Zelte standen. Drüben vor dem Imbiss hatten sie mehrere Tische und Stühle aufgestellt, dort saßen die Leute dicht gedrängt, um ihre Würstchen mit Pommes zu verdrücken. Allein mit Bier und Cola machten die ein Riesengeschäft.

Na und?, dachte sie, um sich Mut zu machen. Das ist eben nicht unsere Klientel. Bei uns gibt es gepflegtes Essen, gute Weine und gemütlich eingerichtete Zimmer nach Gutsherrenart. Urlaub für betuchte Gäste, nicht für die Typen, die im Zelt hocken und fettige Würstchen aus Plastikschalen futtern.

Auf dem Parkplatz war es inzwischen etwas ruhiger, auch die Schlange vor dem Kiosk war verschwunden. Jenny klopfte an die Hintertür und wartete, bis ihre Tochter sie hereinließ. Julchen hatte heiße rote Wangen, ihre Augen glänzten fiebrig.

»Sie ist tatsächlich krank«, meinte Max bekümmert. »Hat Fieber, das Kleinchen. Hoffentlich sind’s nicht die Masern, sie hat lauter Flecken im Gesicht.«

Ach du Schande! Jetzt sah sie es auch. Die roten Wangen entpuppten sich als Ansammlung von kleinen Flecken, auch auf der Stirn und über der Nase hatte sich der Ausschlag ausgebreitet.

»Ich mach hier zu und fahr euch rüber nach Waren zum Doktor«, bot Max an. »Ich hol nur eben den Autoschlüssel.«

»Aber das kann Ulli doch tun«, wandte Jenny ein.

»Den darf jetzt keiner stören, Mädel«, entgegnete Max grinsend. »Der ist mit seiner Diva intim.«

Eigentlich hätte sie darüber lachen müssen, aber sie ärgerte sich. »Mit seiner Diva intim.« Einen sonnigen Humor hatte er, der Max Krumme!

»Mama, ich hab ganz dolle Kopfschmerzen!«, jammerte Julchen. Jenny nahm ihre Tochter auf den Arm und spürte die Hitze in dem Kinderkörper.

»Wir besuchen jetzt schnell den Doktor, und dann bringen wir dich heim in dein Bett.«

Sie hielt die Kleine auf dem Schoß, während Max sie in die Stadt fuhr. Julchen lag an sie gelehnt, ihre Augen waren geschlossen, sie fieberte hoch.

»Wenn wir erst den Anbau fertig haben«, sagte der alte Mann, wohl um sie abzulenken, »fällt endlich das ständige Hin- und Herfahren flach. Dann wohnst du mit der Kleinen hier in Ludorf, und ihr drei seid immer zusammen.«

Jenny horchte auf. Wovon redete er eigentlich? Sie streichelte das verschwitzte Lockenhaar ihrer Tochter und stellte fest, dass der Ausschlag auch hinter den Ohren zu sehen war. »Was für einen Anbau?«

»Na – wir wollen doch unten im Haus eine große Wohnung für euch bauen. Hat dir das der Ulli denn nicht gesagt?«

»Nein, hat er nicht«, erwiderte sie nervös. »Und das ist auch kompletter Blödsinn. Ich will nicht nach Ludorf ziehen. Ich will auf Dranitz bleiben und irgendwann den Betrieb leiten.« Auf einmal wurde ihre Stimme panisch. »Oh Gott, ich glaube, Julchen muss spucken!«

Sie schafften es gerade noch, vor der Kinderarztpraxis anzuhalten, anschließend verbrauchte Jenny eine ganze Packung Papiertaschentücher.

»Fahr ruhig wieder, Max«, sagte sie, als es Julchen ein bisschen besser ging. »Ich rufe Oma an, die holt uns beide ab.«

Er nickte nur. Ließ den Motor an und fuhr ohne Abschiedsgruß davon. Sie war so mit der kranken Tochter beschäftigt, dass ihr sein Schweigen gar nicht auffiel.

In der Praxis brauchte sie nicht lange zu warten. Die Sprechstundenhilfe schickte sie sofort in einen Behandlungsraum, damit sie nicht im Wartezimmer zwischen den anderen Kindern sitzen musste. Masern – kein Zweifel. Julchens schlimmste Albträume wurden wahr – sie bekam eine Spritze.

»Das ist doch nicht so schlimm«, tröstete Oma Franziska, als sie die beiden abholte. »Durch die Kinderkrankheiten müssen sie alle durch. Ich weiß noch, als damals, zu meiner Kindheit, halb Dranitz die Masern hatte. Als Kind steckt man das gut weg. Deine Mutter hat übrigens auch die Masern gehabt.«

»Ich nicht, glaube ich«, sagte Jenny. »Aber ich bin geimpft. Musste ich doch nachholen, als ich im Kindergarten angefangen hab. Mir kann auch nichts passieren, nur Julchen darf eine Weile nicht aus dem Haus, damit sie niemanden ansteckt.«