Franziska

»Nicht aufregen«, sagte Kacpar zu ihr, als er ins Haus trat. Sie saß mit Jenny am Tisch und teilte die Suppe aus, Walter half Julchen, die nassen Schuhe und Socken von den Füßen zu bekommen.

»Was ist passiert?«

»Drüben im Keller … Könntest du vielleicht kurz mitkommen?«

Sie hatte sofort begriffen, dass er etwas Schlimmes zu verkünden hatte. Es lag an seinem Lächeln. Wenn er auf diese sanfte, beschwichtigende Art lächelte, war etwas im Argen, und zwar voll und ganz. In den fünf Jahren, die sie nun gemeinsam am Projekt »Gutshotel Dranitz« arbeiteten, waren sie zu einer Art Familie zusammengewachsen, und es gelang ihm nur schwer, seine Gefühle vor ihr zu verbergen. Jetzt war er selber aufgeregt, auch wenn er von ihr verlangte, ruhig zu bleiben.

»Wir sind gleich wieder da.« Franziska stellte ihren Teller ungefüllt zurück auf seinen Platz und stand auf. »Lasst euch nicht stören.«

»Hat das nicht Zeit bis nach dem Essen?«, knurrte Walter, der vor Julchens Stuhl gekniet hatte und sich jetzt mühsam wieder aufrichtete. »Der Vormittag war eigentlich aufregend genug.«

Franziska warf sich den Mantel über und eilte Kacpar hinterher über den Hof ins Gutshaus. Unerwartete Katastrophen waren an der Tagesordnung, seitdem sie dieses Umbauprojekt begonnen hatten, eigentlich sollte sie längst daran gewöhnt sein. Stattdessen hatte sie das Gefühl, immer dünnhäutiger zu werden, sich über jede Kleinigkeit aufzuregen. Vielleicht lag das am zunehmenden Alter, schließlich war sie schon Mitte siebzig. Jenny dagegen trat den immer neuen Problemen mit weit mehr Gelassenheit entgegen.

Dieses Mal schien es keine Kleinigkeit zu sein. An der Eingangstür des Gutshauses wartete Paul Bauer mit einer wahren Grabesmiene.

»Tut mir schrecklich leid, Frau Baronin, so was ist mir noch nie passiert, in dreißig Jahren nicht.«

»Nicht aufregen«, wiederholte Kacpar besorgt, als sie die Kellertreppe hinuntergingen. »Bleib bitte ganz ruhig, Franziska.«

Jetzt regte sie sich erst recht auf. Unten drang nur wenig Tageslicht in die Räume. Rechts der Treppe sah man den grellen Schein einer Baulampe. Zwei junge Burschen, die Bauer-Söhne, standen vor einem in den Boden gehackten Loch und wichen eilig zurück, als sie näher trat.

Franziska blickte in die Grube. Erst wusste sie nicht recht, was dort so Spektakuläres zu sehen sein sollte, dann begriff sie. Sie starrte auf die gelblichen Knochenreste, die eindeutig von einem Menschen stammten, und spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Oh Gott! Hier, in ihrem Keller, unter den ehemaligen Vorratsräumen, hatte man einen Toten verscharrt.

Kacpar legte den Arm um ihre Schultern.

»Wir werden die Sache der Kripo melden müssen«, sagte er leise. »Oder hast du eine Erklärung für diesen Fund?«

Sie konnte nicht sofort antworten. Starrte auf den Totenschädel, der sie aus blinden Augen ansah, als bäte er um Vergebung für den Schrecken, den er verbreitete. Lange zurückgedrängte Bilder stiegen in ihrem Kopf auf, so schnell und deutlich, dass ihr schwindelig wurde.

»Ich habe keine Ahnung«, stammelte sie. »Es war Krieg. Die Russen waren hier im Gutshaus. Die Flüchtlinge. Auch andere Leute, die damals heimatlos umherzogen …«

»Sie meinen, es könnte ein Russe sein?«, fragte einer der beiden jungen Männer.

Sie hob hilflos die Schultern. Woher sollte sie das wissen?

»Der liegt unter dem Zementboden«, stellte Paul Bauer mit kühlem Sachverstand fest. »War bestimmt nicht einfach, den dort zu verbuddeln. Da hätten sie den Zement aufreißen müssen.«

Er hatte nicht unrecht. Falls man hier im Keller einen Menschen erschossen oder erschlagen hatte, dann hätte man ihn vermutlich draußen im Park oder auf dem Kirchhof vergraben, nicht unter dem Zement. Außerdem hatten die Russen ihre Toten meist auf Lastwagen verfrachtet, um sie in der Heimat zu beerdigen.

Die Erinnerung an die damaligen Zeiten stieg so schmerzhaft in ihr auf, dass sie heftig atmete, um die düsteren Bilder ertragen zu können. Geister der Vergangenheit, die sie glaubte, gebannt zu haben, starrten sie mit schwarzen Augenhöhlen an.

»Damals war der Kellerboden an vielen Stellen aufgerissen«, sagte sie stockend. »Die Russen haben nach versteckten Wertsachen gesucht, silbernem Besteck, Münzen oder Schmuck. Das haben sie in allen Gutshäusern getan, und fast immer haben sie etwas gefunden …«

»Klar«, sagte einer der jungen Burschen. »War ja auch genug da …«

Sie biss sich auf die Lippen und schwieg. Da waren sie wieder, die sozialistischen Vorurteile über den märchenhaften Reichtum und das üppige Leben der Gutsbesitzer. In der Vorstellung der DDRler waren alle »Junker« hartherzige Despoten, die selbst in Saus und Braus gelebt und ihre armen Angestellten und Bauern dem Hungertod ausgesetzt hatten. Brutale Verführer, die sich über die Dorfmädchen hermachten, sie schwängerten und dann ihrem Elend überließen. Gewiss, es hatte solche gegeben, aber die Wirklichkeit hatte anders ausgesehen. Nur dass sie das heute niemandem mehr vermitteln konnte. Die Zeit hatte ihre eigene Geschichte geschrieben, und jene, die mitbekommen hatten, wie es wirklich gewesen war, würden bald für immer schweigen.

»Tja!«, sagte Paul Bauer und kratzte sich unter der Mütze am Hinterkopf. »Das ist dann wohl Ihre Sache, Frau Iversen. Für uns ist hier erst mal Feierabend.«

Er packte seine Hacke und streifte die Erde mit der Hand ab. Auch seine beiden Söhne suchten ihr Werkzeug zusammen, warfen einen letzten Blick auf den unheimlichen Fund und stiegen hinter dem Vater die Treppe hoch. Die Baulampe ließen sie stehen, sie gehörte zum Gutshaus.

»Rufen Sie mich an, sobald Sie die Sache geregelt haben«, sagte Paul Bauer zu Kacpar und reichte ihm zum Abschied die Hand.

Oben kam ihnen Jenny entgegen, ihre Tochter Julchen im Schlepptau.

»Was ist denn nun schon wieder los?«, regte sie sich auf. »Kann man denn nicht mal in Ruhe zu Mittag essen?«

Franziska nahm sie beim Arm und bedeutete Kacpar, sich um die Kleine zu kümmern. Das Kind sollte den schrecklichen Fund auf keinen Fall zu sehen bekommen. »Schau es dir an, Jenny. Aber erschrick nicht …«

Jenny zeigte sich sehr viel gefasster, als Franziska erwartet hatte. Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination starrte sie auf den Totenschädel, dann stieß sie hörbar die Luft aus.

»Das ist ja wie im Krimi. Die berühmte Leiche im Keller. Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?«

»Nein!«, sagte Franziska. »Aber ich denke, das Skelett stammt aus der Zeit, als die Russen das Gutshaus besetzt hatten. Damals galt weder Recht noch Gesetz, und ein Menschenleben war so gut wie nichts wert. Sie haben meinen Großvater einfach über den Haufen geschossen, als er sich ihnen entgegenstellte, und …« Ihre Stimme brach. Es schmerzte sie, in die Vergangenheit zurückzukehren, sich daran zu erinnern, welche Verluste sie schon so früh in ihrem Leben hatte erleiden müssen.

Jenny nahm die Baulampe, leuchtete die Grube aus und stocherte mit einem langen Holzstab im Erdreich herum. Steine kamen zum Vorschein, weitere Knochen. Etwas, das aussah wie ein dunkler, zerfressener Stoffrest.

»Bestimmt eine Frau. Vielleicht liegt sie ja schon länger hier«, mutmaßte sie. »Am Ende hat irgendeiner unserer Vorfahren seine Ehefrau erschlagen und hier verbuddelt …«

»Rede keinen Unsinn!«, schimpfte Franziska. »So etwas kommt höchstens in schlechten Gruselromanen vor!«

»Sag das nicht, Oma!«

Unfassbar, wie schnodderig das Mädchen über diese grausige Entdeckung redete. Doch womöglich war es ja eine Art Selbstschutz – gewiss war auch Jenny über diesen Fund erschrocken. Auf der anderen Seite hatte sie in ihrem jungen Leben niemals einen Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen erlebt. Zum Glück.

»Die Kriminalpolizei wird sich damit beschäftigen, Jenny. Es ist besser, wenn du nicht weiter im Boden herumstocherst.«

Jenny zog den Stab zurück und sah Franziska erschrocken an.

»Du willst das der Kripo melden, Oma? Ist das dein Ernst? Weißt du eigentlich, was dann hier los ist?«

»Es geht nicht anders, Jenny.«

Ihre Enkelin verdrehte die Augen und machte eine beschwörende Geste.

»Mensch, Oma! Wenn das nach draußen dringt, steht es überall in den Zeitungen. ›Skelett im Gutshaus Dranitz entdeckt‹ oder so was. Was glaubst du, wie viele Gäste dann bei uns Urlaub machen wollen? Wer dann noch in unser Restaurant zu einem gemütlichen Abendessen kommt?«

Daran hatte Franziska überhaupt noch nicht gedacht. Natürlich hatte Jenny recht. Wenn die Presse Wind von dem grausigen Fund bekam, hatten sie eine grandiose Negativwerbung. Da würden zur Eröffnung höchstens ein paar sensationslüsterne Reporter kommen.

»Wenn du mich fragst – wir sollten die arme Frau ausgraben und oben auf dem Friedhof anständig beerdigen – wenn es denn eine Frau ist. Vielleicht liegt da ja auch ein Kerl«, meinte Jenny. »Egal. Hauptsache, wir gehen diskret vor. Ohne Presse. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Das klang vernünftig, nur leider gab es einen Haken bei der Sache.

»Paul Bauer und seine Söhne haben das Skelett gesehen«, wandte Franziska ein. »Und vermutlich sind sie längst dabei, die aufregende Neuigkeit zu verbreiten.«

»So ein Mist«, stöhnte Jenny. »Wieso hast du denen nicht gesagt, sie sollen die Klappe halten? Für ein kleines Bakschisch hätten die das bestimmt getan.«

Franziska schüttelte den Kopf. Die beiden jungen Burschen hatten nicht so ausgesehen, als könnten sie solch eine Sensation über längere Zeit für sich behalten. Die Sache würde die Runde machen, daran konnten sie nichts ändern. Ob offiziell in der Zeitung oder durch Mund-zu-Mund-Propaganda – das Skelett im Keller des Gutshauses wäre in der nächsten Zeit ganz sicher Gesprächsthema Nummer eins in der näheren und weiteren Umgebung.

»Wir haben gar keine andere Wahl, als uns an die Kripo zu wenden.«

Jenny warf einen letzten missmutigen Blick in die Grube, dann drehte sie sich um und stapfte Franziska voran zur Treppe, wobei sie leise vor sich hin schimpfte.

»Wir werden auch dieses Problem lösen, Jenny«, versicherte Franziska ihrer Enkelin, doch sie hörte selbst, dass ihr Tonfall nicht wirklich überzeugend klang. Es lag an den Erinnerungen, die sie nun immer heftiger überfielen. Der Anblick des Skeletts hatte eine Schleuse geöffnet. Geschehnisse, die sie für immer hatte vergessen wollen, drängten mit aller Macht ans Licht. Sie würde die kommenden Nächte nicht schlafen können, so viel stand fest.

In stillschweigendem Einverständnis verschlossen sie den Keller, dessen Tür seit geraumer Zeit klemmte, Franziska steckte den Schlüssel ein, dann sahen Großmutter und Enkelin einander an.

»Ich bringe die Sache am besten gleich hinter mich«, sagte Franziska. »Es wäre peinlich, wenn die Polizei es von anderen Leuten erfährt.«

Jenny tat einen tiefen Seufzer. »Tu, was du nicht lassen kannst, Oma.«

Während ihre Enkelin zu ihrer Gulaschsuppe zurückeilte, begab sich Franziska in den Eingangsbereich des Restaurants, wo sie einen Empfangstresen und dahinter ein kleines Büro eingebaut hatten, das jedoch noch nicht ganz eingerichtet war. Sie blätterte das Telefonbuch durch, dann nahm sie den Hörer von dem Telefon, das noch aus DDR-Zeiten stammte.

»Polizei Waren«, meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was können wir für Sie tun?«

Franziska musste sich zweimal räuspern, bevor sie ihr ungewöhnliches Anliegen in Worte fassen konnte.

»Hier spricht Franziska Iversen, Gutshaus Dranitz. Wir sind heute bei Ausschachtungen im Keller des Haupthauses auf menschliche Überreste gestoßen …«

Schweigen. Vermutlich kamen solche Meldungen nicht alle Tage herein.

»Sie haben einen Toten gefunden?«

»Ja. Ein Skelett.«

»Gut. Fassen Sie nichts an. Wir kommen bei Ihnen vorbei, Frau Iversen.«

Als Franziska den Hörer auflegte, hatte sie das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Was ihre Besorgnis nicht minderte. Man konnte das Richtige tun und sich trotzdem jede Menge Probleme einhandeln.

Drüben im Kavaliershäuschen saßen sie noch am Tisch. Walter hatte den Teller von sich geschoben – offenbar hatte man ihn bereits über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt –, Jenny löffelte den Rest ihrer Gulaschsuppe, Julchen verteilte Weißbrotkrümel und fütterte heimlich den unter dem Tisch bettelnden Falko. Kacpar sah Franziska erwartungsvoll entgegen.

»Die Polizei kommt vorbei«, sagte sie und setzte sich auf ihren Platz. Essen konnte sie jetzt nichts, der Appetit war ihr gründlich vergangen.

Kacpar nickte. Dann stand er auf und sah freundlich in die Runde. »Danke für die Suppe. Ich geh dann mal rüber und kümmere mich weiter um die Planung des Wellnessbereichs und der Außenanlagen.«

Franziska blickte ihm nachdenklich hinterher. Sie wurde nicht immer schlau aus dem jungen Architekten Kacpar Woronski; vor allem die Flatterhaftigkeit, sein Liebesleben anbetreffend, gefiel ihr nicht, auch wenn sie ihn grundsätzlich für einen feinen, anständigen Menschen hielt. Zuerst hatten sie alle geglaubt, dass er in Jenny verliebt war. Warum sonst hätte er ihr aus Berlin hierher in die Pampa folgen sollen? Dann hatte er sich plötzlich Mücke zugewendet und war eine Weile mit ihr zusammen gewesen, bis die Beziehung schließlich zerbrach. Franziska glaubte sich zu erinnern, dass Kacpar sich damals heftig gegen Mückes Wunsch nach einer Hochzeit gesträubt hatte. Nun – das war sicher gut so gewesen, denn Mücke war inzwischen mit ihrem Kalle verheiratet und restlos glücklich. Danach hatte der junge Woronski eine Liebschaft mit Anne Junkers, der Sekretärin des Bürgermeisters, begonnen, doch schon nach wenigen Monaten war es wieder aus zwischen den beiden gewesen. Was Franziska schade fand, denn Annes kleiner Sohn Jörg hatte sich damals eng an Kacpar angeschlossen, und alle hatten geglaubt, aus den dreien könnte eine glückliche, kleine Familie werden. Jörg war inzwischen acht und ging in die dritte Klasse, aber hin und wieder tauchte er auf Dranitz auf und fragte nach Kacpar. Der kümmerte sich auch jetzt noch um den Jungen, das musste man ihm lassen, er mochte Kinder und konnte mit ihnen umgehen. Nur wurde Jörgs Mutter jedes Mal fuchsteufelswild, wenn der Kleine wieder zum Gutshaus lief. Anne Junkers hatte Kacpar den Abbruch der Beziehung übel genommen, sie wollte nichts mehr von ihm wissen. Ja, der junge Pole war – was sein Privatleben betraf – in der Tat ein eher unbeständiger Mensch. Angeblich hatte man ihn in letzter Zeit des Öfteren mit einer jungen Frau in Schwerin gesehen, doch Franziska hatte noch nie viel auf Gerede gegeben. Trotzdem wusste sie eines ganz genau: Sie wollte nicht, dass Kacpar Woronski Teilhaber am Gutshotel Dranitz wurde. Einen solchen Schritt würde sie auf alle Fälle verhindern, auch wenn Kacpar ein vorzüglicher Architekt und Bauleiter war. Nein, Dranitz sollte in Familienhand bleiben, und zwar für immer, und auch wenn Kacpar ihrer Familie so eng verbunden war – Blut war nun mal dicker als Wasser.

Walter stand auf und holte ihr einen Teller Suppe aus der Küche. »Ich hab dir vorsichtshalber was warm gestellt«, sagte er und lächelte sie liebevoll an.

Sie freute sich über seine Fürsorge und griff zögernd nach dem Löffel. Vielleicht war es doch besser, wenn sie etwas aß, auch wenn ihr Magen wie zugeschnürt war. Walter war und blieb der ruhende Pol in ihrem Leben, er hörte zu, gab Ratschläge, tröstete und war beständig um ihre Gesundheit besorgt. Das Wagnis einer späten Ehe, das sie vor drei Jahren eingegangen waren, hatte sich als großes Glück erwiesen. Oft hatte sie darüber nachgedacht, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, hätten der Krieg und die deutsche Teilung sie nicht auseinandergerissen. Ein Haus in Berlin, ein Fotoatelier, Kinder, eine große, glückliche Familie … all das wäre möglich gewesen. Es war anders gekommen, ein Menschenleben verlief selten wie geplant, das Schicksal mischte die Karten immer wieder neu. Sie konnte dankbar sein, dass es ihnen diese letzten, schönen Jahre miteinander geschenkt hatte.

»Ich geh dann mal rüber und setze mich an meine Bücher«, verkündete Jenny und stand auf. »Julchens braune Schuhe stehen ja noch bei euch, oder? Die da sind klatschnass.«

Julchen warf ihrer Mama eine Kusshand zu, dann verlangte sie ihre Buntstifte und den Zeichenblock. Sie war momentan in einer heißen Malphase, wobei sie fast immer eine große gelbe Sonne, ein Haus und mehrere Strichmännchen aufs Papier brachte. Das größte Strichmännchen war sie selbst, danach kam der Strichhund Falko, die anderen waren je nach Wichtigkeit gestaffelt bis hin zur Ameisengröße.

»Möchtest du dich vielleicht ein wenig hinlegen, Franzi?«, fragte Walter, als sie langsam ihre Suppe aß. »Ich könnte eine Runde mit Julchen und Falko drehen, damit du deine Ruhe hast.«

Sie zögerte, weil sie wusste, dass er nicht mehr gut zu Fuß war. Zweimal war er unten am See gestürzt, zum Glück war ihm dabei nichts Schlimmes passiert.

»Geh nicht zu weit«, warnte sie ihn. »Und zieh ihr die Gummistiefel an.«

Der Rat war müßig, weil Julchen inzwischen selbst bestimmte, was sie anzog. Man konnte höchstens mit sanfter Überredung etwas erreichen, doch darin war Walter Meister.

»Wir reden heute Abend«, sagte er lächelnd zu ihr und streckte Julchen auffordernd die Hand entgegen. »Ich denke, es gibt Anlass dazu.«

Franziska nickte. Später, gegen sechs, würden sie Julchen hinüber zu Jenny schicken, dort schaute sie noch die Sesamstraße, bevor die Mama sie zu Bett brachte. Dann war für Franziska und Walter die Zeit gekommen, bei einem Teller mit belegten Broten und einem Glas Rotwein die Ereignisse des Tages zu besprechen.

Franziska trug die Teller in die Küche. Anschließend zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, streifte die Schuhe von den Füßen und schlüpfte angezogen unter die Steppdecke. Obgleich es weder draußen noch im Haus kalt war, fröstelte sie. Eine Weile hörte sie zu, wie Walter mit Julchen über die Frage diskutierte, warum sie keine roten Gummistiefel wie ihre Freundin Annegret hatte, sondern bloß grüne, dann entfernten sich die Stimmen. Die Tür fiel ins Schloss, und Franziska war allein.

Es war keine gute Idee gewesen, sich zu einem Mittagsschlaf hinzulegen, das merkte sie sofort, als sie für einen Moment die Augen schloss. Die Bilder waren da, stürzten auf sie ein, legten sich auf ihr Gemüt und peinigten sie. Nichts hatte sie vergessen. Vor allem nicht die dumpfe Trauer, die sie empfand, als sie damals mit ihrer Mutter auf den hochbepackten Planwagen stieg, um gemeinsam mit einem Lehrerehepaar aus Ostpreußen vor den Russen zu fliehen. Nachdem sie die Nachricht von Walters Hinrichtung erhalten hatte – die sich sehr viel später glücklicherweise als falsch erwiesen hatte –, war sie der Ansicht gewesen, nichts auf dieser Welt könne sie mehr erschüttern. Doch dann, als das vertraute Gutshaus ihren Blicken entschwand, die Felder, auf denen das Korn stand, die Pferdekoppel, der Wald mit dem Familienfriedhof – da begriff sie plötzlich, wie schutzlos sie geworden waren. Sie hatten kein Heim mehr, keine Heimat – alles, was sie besaßen, war auf diesen beiden Wagen gestapelt, und hinter ihnen dröhnten und knatterten die todbringenden russischen Geschütze. Zu dieser Zeit ahnten sie noch nicht, dass ihnen von der hastig zusammengestellten Habe so gut wie nichts bleiben würde, auch nicht die junge Fuchsstute und der brave braune Wallach. Schon am ersten Tag ihrer Flucht fiel eine Gruppe Männer über sie her, es waren tschechische und polnische Fremdarbeiter, die ihre Freiheit zurückerhalten hatten und der Heimat entgegenliefen. Sie hatten Schlimmes durchgemacht und nahmen sich, was sie kriegen konnten – Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, auch Decken und Kissen. Hilflos mussten sie und das Lehrerehepaar aus Ostpreußen zusehen, wie sie ihre Sachen durchwühlten, vieles auf den Boden warfen und unbrauchbar machten, anderes davonschleppten. Es war eine ganz neue Erfahrung für die junge Franziska, die bisher als Tochter des Gutsherrn ein privilegiertes Leben geführt hatte. Jetzt waren sie nur noch heimatlose Fremde, Freiwild für die Sieger, verdreckte, verlauste Flüchtlinge, die selbst die einfachen Bauern, die sie früher ehrerbietig gegrüßt hatten, von ihrer Schwelle jagten. Und es sollte noch schlimmer kommen.

Franziska stöhnte und stand aus dem Bett auf, um in der Küche einen Schluck Wasser zu trinken. Doch die peinigenden Bilder folgten ihr, und während sie trank, blickte sie wie durch ein schlieriges Fenster zurück in die Vergangenheit. All die Jahrzehnte über hatte sie geschwiegen, bemüht, das, was sie erlebt hatte, zu verdrängen. Nicht einmal mit ihrer Mutter hatte sie je darüber gesprochen. Auch nicht mit Ernst-Wilhelm, ihrem ersten Ehemann, der doch ebenfalls ein Flüchtling gewesen war. Damals hatten sie alles Schreckliche so schnell wie möglich vergessen wollen. Wenn sie über die Vergangenheit sprachen, Ernst-Wilhelm und sie, dann erzählten sie sich die heiteren Erlebnisse, die es in all dem Elend hie und da gegeben hatte.

Die vielen Toten, die am Wegrand gelegen hatten, erwähnten sie nie. Sie waren beinahe zur Normalität geworden; man ging an den Unglücklichen vorüber, war mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Nur wenige Tage nachdem sie aufgebrochen waren, hatte die russische Front sie schon eingeholt. Die Soldaten drangen in die Bauernhäuser und Gutshöfe ein, wüteten in den Dörfern und Städten. Mit Müh und Not waren sie in einem kleinen Ort bei einer Bäuerin untergekommen, fanden einen Stall für die Pferde, ein wenig Milch und Mehl für ihre hungrigen Mägen. In jener Nacht machte sich das ach so liebenswerte Lehrerehepaar in aller Heimlichkeit davon, packte den Wagen voll mit ihren letzten Vorräten, spannte die junge Fuchsstute ein und ließ sie allein zurück. Franziska und ihre Mutter waren vor Erschöpfung tief eingeschlafen und bemerkten den Betrug erst, als gegen Morgen eine Gruppe russischer Soldaten die Tür einschlug. Vor Zorn, dass sie weder Schmuck noch Uhren erbeuten konnten, schleppten sie den armen Inspektor Heinemann, der sie kutschiert hatte, in den Park und schlugen ihn halb tot. Dann führten sie die junge Bäuerin und Franziska in die Scheune. Was dort mit ihnen geschah, war in Franziskas Erinnerung ein schwarzes Loch, eine Lücke in ihrem Bewusstsein, etwas, das so unvorstellbar brutal und demütigend gewesen war, dass es der Erinnerung entglitt. Nur an den Schmerz erinnerte sie sich, der nicht aufhören wollte, sich zu Fieberanfällen steigerte und sie noch wochenlang danach quälte. Wäre ihre Mutter nicht bei ihr gewesen – sie hätte wohl nicht überlebt. Margarethe von Dranitz war über fünfzig, sie hatte vier Kinder in die Welt gesetzt, zwei Söhne waren im Krieg gefallen, sie wusste nicht, ob sie ihren Ehemann und die jüngere Tochter je wiedersehen würde. Umso heftiger kämpfte sie um Franziskas Leben, umsorgte die Tochter liebevoll und setzte alles daran, in Schwerin einen Arzt zu finden, was ihr schließlich auch gelang. Die Mutter war eine beharrliche, mutige Kämpferin, nie gab sie die Hoffnung auf, sogar als sie selbst und später ihre jüngere Tochter Elfriede schwer an Typhus erkrankten, war sie davon überzeugt, dass eines Tages alles wieder gut werden würde.

In Neustadt-Glewe endete der von den Russen besetzte Bereich, westlich davon hatten sich die Briten festgesetzt, und zahllose Flüchtlinge versuchten verzweifelt, aus der russischen Besatzungszone heraus zu den Engländern zu gelangen. Aber die Briten waren nicht bereit, die Flüchtlingstrecks aufzunehmen, sie riegelten sich ab. Die Russen hingegen reagierten zornig auf die Fluchtversuche und sperrten die Fliehenden in Lager ein. Mit Müh und Not gelang es Franziska und ihrer Mutter, diesem Schicksal zu entgehen, doch ihre Flucht nach Westen endete hier, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach Dranitz zurückzukehren, halb verhungert, ausgeraubt, in zerrissenen Kleidern. Als sie dort ankamen, waren sie unendlich froh, wenigstens Elfriede, Franziskas um sieben Jahre jüngere Schwester, lebendig vorzufinden. Elfriede, die mit ihrem abgeschnittenen Haar wie ein Knabe daherkam und ihnen mit brüchiger Stimme stockend vom Schicksal des Vaters und Großvaters berichtete …

Franziska kauerte sich unter der Decke zusammen und überließ sich den an ihrem inneren Auge vorüberziehenden Schrecknissen. Der Vater ins Gefängnis abgeführt, der Großvater erschossen. Das Gutshaus voller Flüchtlinge, die alle Zimmer in Besitz genommen hatten, sich dort ausbreiteten und ihnen, den eigentlichen Besitzern, nur eine winzige, verdreckte Dachkammer überließen. Oft gab es Streit unter diesen Menschen, die entwurzelt und verzweifelt waren, man beschuldigte sich gegenseitig des Diebstahls, Prügel wurden ausgeteilt. Immer wieder drangen russische Soldaten ins Haus ein, führten auf Befehl ihres Kommandanten Kontrollen durch, nahmen sich, was ihnen gefiel, führten junge Frauen in den Park, wo sie ein Lager errichtet hatten, am Feuer tranken und Lieder grölten. Kaum eine Frau – von der Greisin bis zum Kind – entging diesem Schicksal. Hatten nicht deutsche Soldaten das Gleiche mit russischen Frauen getan? Jetzt war die Zeit der Vergeltung gekommen.

Franziska richtete sich auf und zwang sich, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. War es möglich, dass einer dieser Flüchtlinge nicht mehr hatte mit ansehen können, wie seine Frau, seine Tochter immer wieder vergewaltigt wurden? Dass er zugeschlagen und das Opfer heimlich im Keller des Gutshauses vergraben hatte?

Sie war erleichtert, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Sie brauchte Ablenkung, Julchens fröhliches, dickköpfiges Wesen, Walters verständnisvolle Blicke, seine Hand auf ihrer Schulter – all das würde ihr helfen, die Geister der Vergangenheit zurück in ihre Gruft zu schicken.

»Ach, hier steckst du«, sagte er und schaute durch den Türspalt ins Schlafzimmer. »Die Kleine ist drüben bei Jenny – Ulli ist gekommen und hat sie mitgenommen. Leistest du mir in der Küche Gesellschaft?«

Als Franziska in die Küche trat, hatte er schon Kaffee gekocht und den Butterkuchen geschnitten, den sie gestern gebacken hatte.

»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, fragte er und reichte ihr den Kuchenteller, damit sie ihn hinüber ins Wohnzimmer trug.

»Was denn?«

»Es könnte doch so etwas wie ein mittelalterlicher Friedhof unter dem Gutshaus liegen. Hast du nicht mal erwähnt, dass hier früher ein Kloster stand?«