Kacpar

Die Hundert-Watt-Birnen in den beiden Strahlern brannten jetzt fünf Stunden am Stück, was jede Menge Strom kostete, aber das würde wohl das Denkmalamt übernehmen, das die Ausgrabungen in Auftrag gegeben hatte. Kacpar stand mit verschränkten Armen am ehemaligen Kücheneingang und schaute den beiden Archäologen zu, die in der inzwischen erweiterten Grube saßen und mit Stäbchen und Pinsel arbeiteten. Gemütlicher Job, dachte er grimmig. Hocken da und kratzen ein wenig Erde von den alten Knochen, dann wird gezeichnet und fotografiert, geschwatzt, gefachsimpelt und ausgiebig Kaffee getrunken. Mittags erschienen die beiden Archäologen – ein Dr. Schreiber und seine Praktikantin Sabine Könnemann – dreckig, wie sie waren, oben im Restaurant, nahmen Nudelsuppe, Hühnerragout mit Reis und Birne Helene oder eine andere von Bodo Bieger, dem Koch des Gutshotels, liebevoll zubereitete Mahlzeit zu sich, tranken Cola und schütteten noch mehr Kaffee und Cappuccino in sich hinein. Die Rechnung ging ans Institut in Schwerin. Das war einfacher, weil sie ja länger hier zu tun haben würden.

»Wollen Sie mal schauen, Herr Woronski?«, fragte Sabine Könnemann jetzt und blinzelte in seine Richtung. Sehen konnte sie ihn schlecht, weil der Scheinwerfer sie blendete.

»Gibt’s was Neues?«

»O ja. Wir haben Textilproben gefunden.«

Na großartig. Dafür hatten sie den ganzen Tag gekratzt und gepinselt. Ohne große Begeisterung trat er an den Rand der Grube, die jetzt »Grabungsstätte« genannt wurde, wobei er beinahe auf zwei verschlossene, mit einem weißen Stift beschriftete Plastiktüten getreten wäre – die wertvollen Textilproben. Sabine kletterte aus der Grabungsstätte und hielt die Funde gegen das Licht. Kacpar konnte etwas Braunes, Verklebtes erkennen, das er für ein verfilztes Stück Baumatte gehalten hätte.

»Sehen Sie? Kette und Schuss. Wahrscheinlich sogar mit eingewebtem Muster. Ziemlich feine Arbeit. Genaueres wird die Textilarchäologin uns sagen können.«

Sie sah mit triumphierender Miene zu ihm auf, als habe sie ihm den Krönungsmantel des Königs Artus präsentiert. Sabine Könnemann war Anfang zwanzig und noch im Studium, sie machte den Sommer über ein Fachpraktikum und würde im Winter in Hamburg weiterstudieren. Später wollte sie einen Lehrstuhl im Ausland annehmen, am besten in den Staaten, England ging ebenfalls, vielleicht auch Norwegen. Zwischendrin hatte sie geplant, Reisen nach Sibirien, Georgien und Südafrika zu unternehmen, um dortige Grabungen zu studieren und darüber Fachartikel für Zeitschriften zu schreiben. All diese Pläne hatte sie Kacpar gleich am ersten Abend verraten, als sie nach der Arbeit noch ein wenig im Restaurant zusammensaßen und einen Absacker zu sich nahmen. Sabine hatte sich vertrauensvoll neben ihn gesetzt und ihm ohne Punkt und Komma von ihrer Familie, ihrem Freund, der Altphilologe war, und von ihren großen Plänen erzählt.

»Wenn die Dame da unten eine Nonne ist, wird es wohl von einem Ordensgewand sein«, überlegte er stirnrunzelnd.

»Das ist die Frage«, sagte sie und warf schwungvoll das lange dunkelblonde Haar zurück. »Für ein Ordensgewand ist dieser Stoff eigentlich zu fein, hat Alwin gesagt.«

Alwin war Dr. Alwin Schreiber, Professor für Mittelalterliche Archäologie aus Dresden. Ein Fachmann, herbeizitiert vom Denkmalamt in Schwerin. Dr. Schreiber war um die vierzig, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit kleinen braunen Augen hinter der dicken Brille. Er war wortkarg, redete nur selten über die Ergebnisse der Grabung und lutschte ständig Eukalyptus-Menthol-Bonbons, weil die Kellerluft ihm auf die Bronchien schlug.

»Vielleicht war es ja eine Äbtissin«, mutmaßte Kacpar. »Dann hat sie kostbare Unterkleider getragen, weil sie vermutlich adelig war.«

»Kaum«, gab Sabine kopfschüttelnd zurück. »Die Nonnen des dreizehnten Jahrhunderts trugen höchstens eiserne Ketten, spitze Haken oder ähnliche Geräte zur Selbstkasteiung unter ihren Gewändern.«

Er hatte davon gehört. Sie taten es, um weniger lange im Fegefeuer braten zu müssen. Arme Menschen, die solch einem Irrtum unterlagen.

»Dieses Stück Stoff legt nahe, dass sie womöglich gar keine Nonne war.«

Aha. Allerdings stellte sich dann die Frage, wer sie dann war und warum man sie in einer Kirche beerdigt hatte.

»Also doch eine Adelige? Die Stifterin des Klosters? Die Landesmutter? Vielleicht sogar eine Heilige?«

Sie lachte oder vielmehr: Sie flirtete. Warf wieder das lange Haar zurück und drückte die Brust heraus. Wen wollte sie beeindrucken? Den unscheinbaren Alwin? Oder ihn, Kacpar? Vielleicht auch sie beide. Das Mädel war hübsch, sehr jung und ausgesprochen naiv. Nicht sein Fall – aber trotzdem musste er sich in Acht nehmen.

»Möglicherweise eine Adelige, die mit dem Kloster in irgendeiner Verbindung stand«, erklärte sie. »Vielleicht sogar eine Königin. Dann können Sie hier eine Weihestätte einrichten.«

Sie lachte schallend, und schließlich ließ auch er sich zu einem Lächeln hinreißen. Dabei fand er die Sache kein bisschen komisch. Eine Weihestätte zwischen Wellnessgeräten, Sauna und Pool würde es wohl kaum geben. Eher müssten sie ihr Hotel schließen.

»Sabine!«, rief Dr. Schreiber aus der Grube. Er beschattete mit der Hand die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht. »Komm doch bitte mal!«

Die Praktikantin kletterte eilig die Leiter hinunter. Kacpar hörte die beiden aufgeregt miteinander flüstern, doch er verstand nur hie und da ein Wort. »… den Fotoapparat …«, »… den anderen Filter …«, »weiter fotografieren …«, »… den feinen Pinsel …«

Aha, sie hatten wieder etwas gefunden. Vielleicht den BH der adeligen Fürstin? Ein Strumpfband? Den linken Schuh? Er beschloss, besser oben im Restaurant nach dem Rechten zu sehen, vielleicht waren ja trotz des Regenwetters ein paar Gäste gekommen. Werbung hatten sie genügend gemacht, bislang jedoch eher mit mäßigem Erfolg. Eine Familie war heute früh zum Brunch erschienen, zwei ältere Damen aus Neustrelitz hatten nur Eier im Glas, Schwarzbrot und Kaffee zu sich genommen, ein Rucksackwanderer saß seit über einer Stunde bei einem Kännchen Kaffee. Auch der Mittagsansturm blieb aus, und wenn heute Nachmittag nicht ein paar …

»Das ist Gold«, hörte er plötzlich Sabines Stimme aus der Grube. »Ein Ohrgehänge, vielleicht auch ein Schläfenring. Warte, ich halte die Lampe drauf …«

Kacpar hockte sich neugierig an den Rand der Grabungsstätte und verrenkte sich beinahe den Hals, um etwas erkennen zu können, weil ihm die nach vorn gebeugten Körper der Archäologen die Sicht versperrten. Gold? Dann handelte es sich am Ende doch um eine Königin? Endlich richtete sich Dr. Schreiber auf und stieg aus der Grabungsstätte, einen kleinen Gegenstand in der Hand.

»Ein Ohrring. Fränkisch, ohne Zweifel. Aller Wahrscheinlichkeit nach dreizehntes Jahrhundert. Schöne Arbeit. Der Stein ist vermutlich aus Glas, könnte aber auch ein Rubin sein.«

Seine braunen Augen hinter den dicken Gläsern blitzten vor Begeisterung, als er Kacpar den kostbaren Fund zeigte. Ein Ring aus Golddraht, an dem ein tropfenförmiger Anhänger mit einem roten Stein befestigt war.

»Das stützt meine Vermutung, dass es sich hier um das Grab einer hochrangigen Adeligen handelt«, verkündete er aufgeregt. »Vielleicht sogar um das Grab jener Mathilde aus dem Grafenhause Schwerin, die Anfang des dreizehnten Jahrhunderts das Kloster gegründet hat.«

Eine gräfliche Klostergründerin. Nun ja – immer noch besser als eine Königin. Aber zwischen Wellnesseinrichtungen und Pool mit Außenbecken doch reichlich deplatziert.

»Die Sache ist die, Herr Woronski«, sagte Dr. Schreiber und zog die Hand mit dem Ohrring zurück. »Wir werden das Grab mit allen Fundstücken bergen und zur weiteren Untersuchung ins Institut schaffen. Während dieser Arbeiten hat kein Unbefugter zu diesem Keller Zutritt, dafür sorgen Sie bitte. Sobald wir am Abend die Grabungsstätte verlassen haben, muss der Keller verschlossen werden. Das ist wichtig, weil wir Gold gefunden haben. Verstehen Sie?«

Natürlich verstand er. Es gab jede Menge Hobbyarchäologen und Grabräuber, die an einem solchen Fund interessiert waren. Wenn sie Pech hatten, kam noch jemand auf die Idee, gewaltsam ins Haus einzudringen und ihnen dabei ein paar Fenster oder die teure neue Eingangstür zu ruinieren.

»Verstehe«, sagte er. »Wie lange werden die Arbeiten dauern?«

Dr. Schreiber wiegte unschlüssig den Kopf.

»Einige Wochen, denke ich. Wir würden gern Probegrabungen vornehmen, um die genaue Lage des Klosters zu klären. Möglicherweise gibt es weitere historisch bedeutsame Gräber. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Landes Mecklenburg im Mittelalter.«

Einige Wochen. Na großartig – solange konnten sie hier unten nicht weitermachen. Baustopp – und dabei war die Sache gerade so schön in Schwung gekommen.

»Jetzt wäre eine Tasse Kaffee schön«, meinte Dr. Schreiber, den der seltene Fund gesprächig gemacht hatte. »Und vielleicht ein Stückchen Kuchen? Den Sekt trinken wir dann heute Abend. Auf unsere bahnbrechende Entdeckung!«

»Ja … ja, natürlich«, sagte Kacpar. »Kaffee und Kuchen.«

Im Restaurant herrschte deprimierende Leere. Nur zwei nasse Fahrradtouristen und ein älteres Ehepaar saßen einsam in dem großen Raum. Das Ehepaar trank Kaffee, dazu teilten sie sich ein Stück Mandeltorte. Die beiden Aushilfen Elfie und Anke – zwei nette junge Frauen aus dem Dorf –, die Jenny für heute organisiert hatte, saßen unbeschäftigt hinter dem Tresen, eine faltete Servietten, die andere polierte Weingläser.

Kacpar führte die beiden Archäologen zu einem Fenstertisch, dann ging er in die Küche zu Bodo Bieger, dem Koch. Bodo blickte betrübt auf die vorbereiteten Speisen, die vom Mittagstisch übrig geblieben waren, die Küchenhilfe Erika hatte sich in eine Ecke verzogen und löste Kreuzworträtsel.

»Das kann ich doch nicht alles einfach so wegwerfen«, sagte er unglücklich. »Aber wenn heute Abend auch niemand kommt …«

»Warten wir erst mal ab«, tröstete Kacpar ihn. »Vielleicht hört’s ja auf zu regnen.«

»Sie glauben wohl an Wunder?«, seufzte der Koch. »Wissen Sie was, Herr Woronski? Wenn das so weitergeht, dann mag ich nicht mehr.«