Kacpar
Das trübe Regenwetter passte zu seiner Stimmung. Kacpar stand am Fenster seines ehemaligen Büros und stützte beide Arme auf das Fensterbrett, das immer noch keinen zweiten Anstrich erhalten hatte. Es ging ihn nichts mehr an. Seine Zeit hier auf Dranitz war mit dem heutigen Tag beendet, nur noch die Bücherkiste und einen Koffer mit Kleidern heruntertragen – den Rest ließ er stehen. Das wackelige Bett und der Schrank waren aus den Beständen dieses holländischen Gauners, der den Leuten die antiken Möbel für ein paar Mark abluchste und das Zeug dann mit Gewinn verkaufte. Solche Möbel wollte er schon aus Prinzip nicht haben.
Die weite Landschaft um das Gutshaus war im Regendunst verschwunden, es schien, als habe sich der Himmel auf die Erde herabgesenkt, um alles in graue Wolken zu hüllen. Vielleicht war es gut so – der Abschied von den grünen Wiesenflächen und den gelben Äckern, auf denen jetzt das reife Korn stand, wäre ihm sonst noch schwerer gefallen. Fünf Jahre lang hatte er diesen Anblick jeden Morgen genossen und sich eingebildet, hier eine Heimat gefunden zu haben. Nicht als Gutsbesitzer – so vermessen war er nie gewesen. Aber er hatte geglaubt, einen Anteil an diesem Gut erwerben zu können. Vor allem an dem alten Haus, das er besser kannte als jeder andere. Er hatte sämtliche Winkel durchforstet, alle Wände geprüft, er wusste, wo das Gebäude verletzlich war, wo seine Stärken lagen. In den dicken Tapetenschichten der Salons lebte der adelige Hochmut derer von Dranitz, die Geschichte der Dienerschaft erzählten die verqualmten Backsteine der Küchenwände im Untergeschoss. Sie alle hatten hier miteinander gelebt, jeder hatte seinen Platz gehabt. Er aber, Kacpar Woronski, war immer ein Fremder in diesem Haus gewesen. Er hatte fünf Jahre gebraucht, um diese einfache Tatsache zu begreifen.
Er wandte sich mit einem Ruck vom Fenster ab und ließ noch einmal den Blick durch die kleine Dachwohnung schweifen – hatte er etwas Wichtiges vergessen? Vielleicht den Stein, den er als Briefbeschwerer benutzt hatte. Ein glatter Kiesel mit hellen Einschlüssen – er hatte ihn einmal auf einem Spaziergang am See gefunden. Wer war damals noch gleich bei ihm gewesen? Egal. Ein Stein war ein Stein. Er brauchte ihn nicht. Er nahm den Koffer und klemmte sich den Karton unter den Arm, so war es zwar sehr unbequem, aber er hatte keine Lust, noch einmal hinaufzugehen. Langsam stieg er die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss angekommen, musste er eilig den Karton absetzen, sonst wäre ihm der Arm abgebrochen. Missmutig stellte er den Koffer daneben und ging zur Haustür, um nach draußen zu sehen. Kein ermunternder Anblick. Der Regen zeichnete dicke graue Streifen auf die hellen Hauswände der beiden Kavaliershäuschen. Am aufwendig restaurierten Inspektorenhaus flossen breite Wasserfäden aus der Regenrinne in den Garten. Na bitte! Darauf hatte er die ganze Zeit gewartet. War doch klar, dass diese lächerlich schmale Regenrinne einem anständigen Landregen nicht standhalten würde. Wenn er das geplant hätte, dann …
Zu spät, dachte er. Simon Strassner war schneller gewesen, er hatte sich das kleine Grundstück unter den Nagel gerissen. Simon war kein Verlierer wie er, Kacpar. Simon Strassner hatte sich ein Stück von Dranitz angeeignet. Und nicht nur das. Er war auch Teil der adeligen Sippe derer von Dranitz geworden, ob es Franziska oder Jenny passte oder nicht. Simon war Julchens Vater. Er, Kacpar, hingegen war ein Niemand. Als ein Niemand war er gekommen, und als ein Niemand verließ er den Schauplatz.
Was ist nur los mit mir?, dachte er und kehrte zu seinem Gepäck zurück. Es muss an dem verdammten Regenwetter liegen, das schlägt mir auf die Stimmung. Im Grunde ist heute ein Freudentag. Der Tag der Befreiung aus dem Joch der adeligen Herrschaft. Der erste Tag in meinem neuen Leben! Hurra! Er beschloss, sein Auto direkt vor den Eingang zu fahren, damit der Karton nicht nass wurde, und zog die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf, um schnell hinüber zum Parkplatz zu laufen – da wurde die Haustür plötzlich von außen geöffnet. Drei triefende Gestalten betraten die Eingangshalle. Als sie die Mützen und Kapuzen absetzten, erkannte er den Archäologen Dr. Schreiber mit seiner Praktikantin Sabine und einen jungen, kräftigen Mann, der bis dato nicht im Team gewesen war. Vielleicht einer von Schreibers Studenten. Dr. Schreiber nahm seine beschlagene Brille ab und putzte sie ausgiebig.
»Die Pumpe ist leider außer Betrieb«, teilte Kacpar ihnen mit. »Ich glaube kaum, dass Sie heute irgendwelche Arbeiten vornehmen können.«
Es hatte sich inzwischen herausgestellt, dass das Grundwasser in die Grabung stieg und abgepumpt werden musste. Bei feuchtem Wetter waren die Stromkosten ins Unermessliche gestiegen – er war mal gespannt, wer am Ende dafür aufkommen würde. Aber auch das sollte ihn jetzt nicht mehr kümmern.
Herr Dr. Schreiber setzte seine Brille wieder auf und wandte sich blinzelnd an Kacpar.
»Heute bleiben wir nicht lange, Herr Woronski – wir sammeln nur noch unsere Geräte ein und machen ein paar letzte Fotos. Dann steht Ihnen der Keller wieder zur Verfügung.«
Gefolgt von Praktikantin Könnemann und dem jungen Studenten, ging er zielstrebigen Schritts zur Kellertür und ließ Kacpar in völliger Verblüffung zurück. Hatte er das richtig verstanden? Sie packten ein? Der Baustopp im Keller war aufgehoben? Man konnte beginnen, den Pool auszuschachten?
Was für eine Bosheit des Schicksals war denn das nun wieder! Monatelang hatte er darauf gewartet, diese neue Bauphase endlich in Angriff nehmen zu dürfen, und jetzt, da der Weg frei war, verließ er Dranitz. Doch wer auch immer die weiteren Umbauten leiten würde – es ging ihn nichts mehr an.
Er nahm sein Gepäck und lief nun doch durch den strömenden Regen zu seinem Auto, verstaute die Sachen im Kofferraum und auf dem Rücksitz und beeilte sich, das Gutshaus endlich hinter sich zu lassen. Der Abschied gestern Abend war kurz und distanziert gewesen, man hatte ihm deutlich gemacht, dass man seine Abreise bedauerte – mehr aber auch nicht. Franziska Iversen, geborene von Dranitz, schien den wahren Grund für seinen überraschenden Fortgang nicht mal zu erahnen. Ein Angestellter, auch wenn er noch so qualifiziert war, blieb ein Angestellter. Sie würde ihn niemals zum Teilhaber machen, so viel stand fest.
Jenny war in Ludorf bei ihrem Ulli gewesen, er hatte ihr schöne Grüße ausrichten lassen. Der Einzige, der ein mitfühlendes Herz besaß, war der alte Herr Iversen. Er hatte Kacpar fest und lange die Hand gedrückt und gemeint, er habe sehr gehofft, er würde auf Dranitz bleiben.
»Aber vielleicht ist es besser so für dich, Kacpar«, fuhr er lächelnd fort. »Ich wünsche dir jedenfalls für dein neues Projekt alles Gute. Und pass auf dich auf!«
Netter Mensch, der Walter. Aber leider hatte er auf Dranitz nichts zu melden. Kacpar hatte eigentlich noch die Rechnung abgeben wollen, die in der Innentasche seiner Jacke steckte, aber weil er von Walter Iversens warmem Entgegenkommen gerührt war, beschloss er, einfach eine Briefmarke auf den Umschlag zu kleben und ihn in die Post zu stecken. Er hatte Evelynes Rat befolgt und Franziska eine saftige Zusatzrechnung geschrieben. Darin waren alle Leistungen aufgelistet, die nicht durch das lächerliche »Gehalt« abgedeckt waren. Die Summe war beeindruckend, und es war ihm bewusst, dass sie keinesfalls über die Mittel verfügte, sie zu bezahlen. Sie lebten schon ein Weilchen vom Geld ihres zukünftigen Schwiegersohns. Aber diese Summe stand ihm zu – sollten sie schauen, wie sie sie zusammenbekamen!
Sein neues Leben kam nur langsam in Fahrt. Er hatte in einer einfachen Pension in der Nähe von Waren Quartier bezogen. Sollte der Verkauf über die Bühne gehen und die Renovierungsarbeiten beginnen, würde er zusehen, ob er beim alten Bastian im Nebengebäude ein Zimmer beziehen könnte, um direkt vor Ort zu sein. Als er Evelyne von dieser Absicht erzählte, war sie entsetzt gewesen, er hatte sich jedoch nicht davon abbringen lassen. Komfort war ihm unwichtig, geregelte Mahlzeiten ebenfalls, dafür schätzte und liebte er alte Gemäuer und schaute den Handwerkern, die dort arbeiteten, gern auf die Finger. Sobald eines der Nebengebäude fertig wäre, würde er sich dort einrichten.
Er war zum Mittagessen mit Evelyne in deren Hotel verabredet, dort würde er den neuesten Stand der Verkaufsverhandlungen erfahren. Er hatte ihr das Geschäftliche überlassen, auch wenn er darauf bestanden hatte, über jeden Schritt genauestens informiert zu werden. Zudem hatte er bereits einen ersten Renovierungsplan mit einer vorläufigen Kostenaufstellung ausgearbeitet, den sie seit gestern vorliegen hatte. Es gab also einiges miteinander zu besprechen. Privat war seit jener einen Nacht kaum noch etwas zwischen ihnen gelaufen. Evelyne war oft unterwegs, und wenn sie in Waren war, rief sie ihn an, dann verbrachten sie den Abend und mitunter auch die Nacht miteinander. Evelyne war eine Frau, die sich nahm, was sie brauchte. Sie waren Partner. Sowohl geschäftlich als auch im Bett.
Sie saß bereits im Restaurant bei einem Glas Weißwein und blätterte in ihren Unterlagen. Als sie ihn erblickte, runzelte sie die Stirn, denn sie hasste es zu warten.
»Tut mir leid, ich wurde aufgehalten.«
»Setz dich nicht ans Fenster, da zieht es.« Sie hob ihr Glas. »Der Chardonnay ist übrigens ausgezeichnet.«
Die Bedienung brachte zwei Speisekarten. Evelyne ließ ihre ungeöffnet. »Ich weiß eh schon, was ich nehmen werde.«
»Rohes Steak?«, fragte Kacpar schmunzelnd.
»Heute mal nicht. Die Linguine mit Hummer sind echt köstlich.«
Während Kacpar noch auf der Suche nach etwas Deftigerem war, berichtete sie: »Es schaut so aus, als könnten wir den Preis auf die Hälfte herunterbekommen. Es ist immer noch eine Menge Geld, aber es handelt sich um einen nicht unbeträchtlichen Landbesitz, den man später in die Waagschale werfen kann …«
Nachdem er sich ein Steak medium mit Kartoffeln und Salat bestellt hatte, hörte er zu, wie sie über Steuervorteile, Finanzierungspläne und Wertzuwachs redete, und überlegte dabei, ob Evelyne Schneyder eigentlich ein glücklicher Mensch war. Sie sah gut aus, gab sich selbstbewusst, war geschäftlich erfolgreich und nahm sich ihre Liebhaber, wo immer sie sie fand. War das eine Mixtur zum Glücklichsein? Oder eher ein Rezept gegen die Einsamkeit?
»Hörst du mir eigentlich zu, Kacpar?«, fragte sie in seine Gedanken hinein.
»Natürlich.«
Was nicht ganz stimmte. Tatsächlich hatte er nur teilweise mitbekommen, was sie ihm von ihrem ausgeklügelten Finanzierungsplan, den Zuschüssen, Steuervorteilen und Abschreibungen berichtete. Wenn sie diesem Plan folgten, so hatte es in seinen Ohren geklungen, würden sie das Gut nahezu umsonst erwerben. Bewundernswert, wie sie mit Zahlen jonglierte, jeden Kniff und jede Schliche kannte. Was das Geschäftliche betraf, da hatte sie Simon, ihren ehemaligen Lehrmeister, längst überflügelt.
Das Essen wurde serviert, sie bestellte noch einen Chardonnay, er wählte einen leichten Rotwein. Das Steak war zäh, er hatte ordentlich zu kauen, auch der Salat ließ zu wünschen übrig, einige Blätter hatten schon bräunliche Ränder.
»Kommen wir zu deinem Renovierungsplan, Kacpar. Der ist natürlich viel zu ausufernd. Ich habe die Maßnahmen erst einmal auf die Hälfte zusammengestrichen.«
»Du hast was?«
Entsetzt ließ er die Gabel mit dem Fleisch sinken und hörte ihren Ausführungen zu. Löcher zuschmieren, neue Fußböden über die alten legen, Wände streichen, neue Fenster nur an der Nordseite. Details interessierten sie nicht. Die alte Treppe brauchte man nicht zu restaurieren, vorhandene Tapeten waren abzureißen und nicht etwa zu rekonstruieren. Alte Fenstergriffe konnte man mitsamt den Fenstern verkaufen, noch vorhandene Originaltüren kamen auf den Müll.
»Du willst das Haus also kaputtsanieren, ja?«
»Wenn du dich mit dem Kleinkram aufhalten willst, Kacpar«, erwiderte sie schulterzuckend, »dann steigen die Kosten ins Unendliche. Wir lassen die nötigsten Reparaturen vornehmen, dann wird alles schön hell angestrichen, und im Frühjahr werfen wir es auf den Markt.«
Er hätte es wissen müssen. Sie hatte einfach über ihn hinweggeplant, wollte jetzt das Konzept durchboxen, das sie überall im Land fuhr und das ihr zugegebenermaßen eine Menge Geld in die Kasse gespült hatte. Kaufen, zurechtstutzen, mit Gewinn weiterverkaufen.
»Es gibt Leute, die sich so einen alten Kasten als Geldanlage kaufen«, fuhr sie fort. »Oder die ehemaligen Heimatvertriebenen, die sich hier wieder standesgemäß ansiedeln wollen. Die dritte Gruppe sind irgendwelche Sekten oder merkwürdige Religionsgemeinschaften, die einen einsam gelegenen, aber repräsentativen Bau für ihre dubiosen Machenschaften benötigen.«
Sie verkaufte grundsätzlich an diejenigen, die ihr das beste Angebot unterbreiteten.
»Weißt du, Evelyne«, unterbrach er ihren Redeschwall. »Ich hatte mir das anders vorgestellt …«
»Das ist mir klar, Kacpar, aber mit deinen romantischen Anwandlungen kommst du nie auf einen grünen Zweig. Schau, du hast dich fünf Jahre lang von diesen Leuten ausnutzen lassen. Hast diese alte Hütte für einen Hungerlohn detailgerecht und liebevoll restauriert, und wenn ich nicht gekommen wäre, würdest du der adeligen Herrschaft auch noch den Keller zu einem Wellnessbereich umbauen. Schluss damit – jetzt ist es an der Zeit, endlich einmal Geld zu verdienen!«
Er nippte an seinem Rotwein und hörte zu, etwas anderes blieb ihm sowieso nicht übrig, weil man Evelyne nur schwer unterbrechen konnte, wenn sie einmal in Fahrt war.
»Drei bis vier solcher Projekte, Kacpar, und du kannst dir dein Dranitz kaufen, wenn du so daran hängst. Meinen Informationen nach wird das Anwesen in absehbarer Zeit unter den Hammer kommen. Dann kannst du zuschlagen. Nur so wird man Gutsbesitzer, Kacpar.«
Wenn er ehrlich war, hörte sich das ziemlich verführerisch an. Gut Dranitz auf einer Auktion ersteigern! Der hochnäsigen Frau Baronin erklären, dass ihre Zeit auf dem Gutshof abgelaufen war, und selbst in das hübsche Kavaliershäuschen einziehen. Mein Gott, und dabei hatte er noch vor gar nicht langer Zeit tatsächlich geglaubt, zur Familie zu gehören. Immerhin hatte ihm schon Franziska vorletzten Winter, als er durch kluge Planung so viel Geld bei den Heizungen für die beiden Kavaliershäuschen hatte einsparen können, das Du angeboten. Walter hatte nachgezogen, und sie hatten die neue Bindung ausgiebig mit Sekt begossen. Doch halt, er schweifte schon wieder ab. Jetzt musste er sich auf Evelyne und ihre Vorschläge konzentrieren. Nein, es wäre eine schwachsinnige Idee, das Gutshaus zu erwerben. Er hatte keine Lust, einsam und von allen gemieden auf Dranitz zu sitzen, zumal das Anwesen nichts einbrachte, sondern nur Kosten verursachte.
»Ich verstehe durchaus, was du meinst, Evelyne«, sagte er und leerte sein Rotweinglas. »Aber ich habe vor, mich auf Karbow dauerhaft niederzulassen. Und deshalb muss ich auf allen, selbst auf den kleinsten Details meines Renovierungsplans bestehen.«
Sie warf ärgerlich die Serviette auf den halb geleerten Teller, winkte dem Kellner, damit er abräumte, und bestellte sich einen Espresso. Dann sah sie Kacpar herausfordernd von der Seite an.
»Ich bin bereit, über dieses oder jenes Detail zu reden, Kacpar. Aber eine Restaurierung nach deinen Vorstellungen werde ich nicht mittragen.«
Er musste nachgeben, denn sie führte die Verkaufsverhandlungen, hatte den längeren Arm. »Gut, ich bin zu Kompromissen bereit. Allerdings will ich keinen Pfusch, die Arbeiten müssen vernünftig und solide durchgeführt werden.«
»Einverstanden!«
Es sollte ein Hotel mit Restaurant entstehen, für kleinere Gruppen geeignet, in dem man Konferenzen oder Lehrgänge in ländlicher, ruhiger Umgebung abhalten konnte. Der Park musste in Ordnung gebracht, der See in das Gelände einbezogen werden.
Gegen zwei schaute Evelyne auf ihre Armbanduhr und erklärte, sie habe noch einen wichtigen Termin in Rostock und müsse sofort los.
»Ich melde mich, sobald der Verkauf wasserdicht ist«, sagte sie und schob dem Kellner ihre Kreditkarte hin. »Dann fahren wir zusammen nach Frankfurt und machen die Sache perfekt.«
Mit Evelyne in die Bar »Zum blauen Paradies« – das würde lustig werden. Er grinste in sich hinein, bezahlte sein Steak und ging gemeinsam mit ihr zur Tür.
»Pass auf dich auf«, sagte sie, als sie ihm die Hand reichte. »Du schaust gestresst aus, Kacpar. Tu mir den Gefallen und gönn dir mal ein paar Tage Erholung.«
Im Vorraum des Restaurants gab es mehrere Spiegel, er schaute im Vorübergehen hinein und stellte fest, dass er tatsächlich etwas blass aussah. Unter seinen Augen lagen bläuliche Ringe, ein Bartschatten überzog Wangen und Kinn.
Draußen regnete es immer noch, das Wasser gurgelte durch die Regenrohre und bildete kleine Strudel auf der Straße, bevor es in den Gullys verschwand. Am Stadthafen schaukelten mehrere Boote, halb vom Dunst verhüllt, die Touristenfahrten über die Müritz hatte man für heute wegen zu schlechter Sicht eingestellt. Der See war eine weite, bleigraue Fläche, hie und da stach schwarzes Uferschilf heraus, weißlicher Dunst lag auf dem Wasser und verhüllte Ufer und Horizont. Kacpar stand eine ganze Weile da und starrte auf die wabernden Dunstwolken, freute sich, wenn sie ein kleines Stück des Sees freigaben, und war bekümmert, wenn sich alles wieder zuzog. Erst als er merkte, dass der Regen durch seine Jacke drang und ihm den Rücken hinabfloss, ging er langsam zu seinem Auto.
»Bist du das, Kacpar?«, rief eine wohlbekannte helle Stimme hinter ihm her.
Er schreckte zusammen. Sein erster Gedanke war, wegzulaufen. Der zweite Gedanke war, dass er sich dieses Mal ganz sicher nicht von seinem Vorhaben ablenken lassen würde.
»Ach, Jenny! Was machst du denn hier bei diesem Wetter?«
Sie hielt einen großen schwarzen Regenschirm über sich, die Jeans war bis zu den Knien nassgespritzt, an den nackten Füßen trug sie rote Riemchensandalen.
»War noch schnell in der Apotheke«, erklärte sie. »Sag mal, das ist doch nicht dein Ernst, oder?« Sie setzte sich in Bewegung und lief zu ihm.
»Dass ich Dranitz verlasse?«, fragte er zurück. »Natürlich ist das mein Ernst. Dachtest du, dass ich da oben unterm Dach sitzen bleibe, bis ich alt und grau bin?«
»Natürlich nicht«, sagte sie. »Das war ein Provisorium. Ich habe gedacht, du würdest dir später ein kleines Haus im Park bauen. Unten am See, das wäre doch ein superschöner Ort gewesen.«
Fast hätte er gelacht. Was für ein großartiges Angebot, jetzt, da er Ernst gemacht hatte. Was wohl ihre Großmutter dazu sagen würde?
»Sehr romantisch, in der Tat«, entgegnete er mit bitterem Lächeln. »Aber ich habe inzwischen ein anderes Projekt im Auge. Übrigens ist dort auch ein See.«
Jenny verzog das Gesicht. Natürlich passte es ihr nicht, dass er beabsichtigte, dem Gutshotel Dranitz Konkurrenz zu machen, aber darauf würden sie sich leider einstellen müssen.
»Da hast du aber ein gewaltiges Stück Arbeit vor dir«, meinte sie. »Und erst mal die finanzielle Belastung – aber das weißt du ja.«
Sie musste einem jungen Vater mit Kinderwagen Platz machen und trat deshalb noch einen Schritt näher zu ihm heran. Jetzt tropfte der Regen vom Rand ihres Schirms auf seine Jacke. Aber die war sowieso schon durchweicht.
»Ich hätte das Geld gern bei euch investiert, doch deine Großmutter wollte mich nun mal partout nicht als Partner akzeptieren, und du hast dich ja auch nicht wirklich für mich eingesetzt. Hast lieber das Geld vom Ulli genommen und mir unter die Nase gerieben, der wolle schließlich nicht gleich als Teilhaber einsteigen. Also musste ich mir eine andere Wirkungsstätte suchen.«
Sie seufzte. »Herrgott, so habe ich das doch gar nicht gemeint. Du kennst doch mein loses Mundwerk.« Du liebe Güte, sie schien wirklich traurig zu sein, jetzt musste er sich zusammenreißen.
»Aber wie hast du es dann gemeint? Ich denke, an einer solchen Aussage gibt es nicht viel zu deuten.«
»Ach, weiß auch nicht. Manchmal bin ich echt bescheuert.« Sie trat dicht zu ihm, sodass er nun auch unter dem Schirm stand, dann legte sie ihm einen Arm um den Nacken und küsste ihn auf die Wangen. »Mach’s gut, Kacpar«, sagte sie leise. »Ich weiß noch gar nicht, wie es ohne dich weitergehen soll. Aber irgendwie werden wir das schon schaffen.«
»Ich bin ja nicht aus der Welt«, tröstete er sie und musste sich räuspern, weil er einen Kloß im Hals hatte.
»Eben«, meinte sie und nahm ihren Schirm wieder. »Du kannst jederzeit zu uns zurückkommen, Kacpar!«
Er nickte beklommen und ging eiligen Schrittes davon. Wollte es heute überhaupt nicht mehr zu regnen aufhören? Allerdings passte der Regen hervorragend zu seiner Stimmung.
In nassen Klamotten fuhr er bis Karbow, stellte den Wagen direkt vor dem Nebengebäude ab, in dem der Zerberus Bastian seinen Wohnsitz hatte, und klopfte an die Tür.
Der Alte öffnete, als habe er auf seinen Besuch gewartet, und reichte ihm den Schlüssel fürs Gutshaus.
Bei diesem Regen kam ihm das alte Gemäuer weit düsterer vor als bei Sonnenschein, überhaupt hatte es für ihn plötzlich bei Weitem nicht mehr den Charme von Dranitz.
Kacpar lieh sich von Bastian einen Schirm und rannte über den mit Pfützen übersäten Hof zum Eingang. Drinnen war das Licht sehr schlecht. Sie würden einen neuen Stromanschluss verlegen lassen müssen, eine Telefonleitung war ebenfalls nicht vorhanden, ob man mit Gas oder besser mit Öl wie auf Dranitz heizen würde, stand noch in den Sternen.
Es stand überhaupt alles in den Sternen. Kacpar schlenderte noch einmal durch die Räume, doch der Funke wollte, anders als beim ersten Mal, nicht recht überspringen. Unschlüssig verließ er das Gutshaus, schloss ab und brach, mit Bastians Schirm bewaffnet, zu einem Erkundungsgang durch den ehemaligen Park auf. Um ihn herum war nichts als Wildnis – überall nur feuchtes Gras, Unkraut und hohe Bäume, deren knorrige Wurzeln aus der Erde ragten. Der Geruch von Moder stieg ihm in die Nase, der Regen löste das alte Laub auf und ließ es faulen. Wenn hier einmal ein gepflegter Park entstehen sollte, gab es eine Menge zu tun. Er umrundete das Haus und besah es sich von der Rückseite. Dass die einstige Terrasse nicht mehr zu retten war, hatte er gewusst, doch als er vor die Mauer trat und an mehreren Stellen den losen Putz von den Wänden klopfte, entdeckte er faule Balken. Auch die Backsteine bröselten, an einigen Stellen hatte der Regen sogar Mulden in die Wände gewaschen. Wieso war ihm das bisher nicht aufgefallen? Unlustig stapfte er weiter, schreckte einen Reiher auf, der unbeweglich im hohen Gras gestanden hatte. Als der Reiher plötzlich mit den Flügeln schlug, sprang er erschrocken zur Seite und prallte mit dem Fuß schmerzhaft gegen einen harten Gegenstand. Ein Stein? Stöhnend rieb er sich das Bein, dann bückte er sich, um den Gegenstand aus dem hohen Gras aufzuheben. Bei genauerer Betrachtung stellte fest, dass es sich um eine kleine Skulptur handelte. Eine Putte. Ein fetter kleiner Amor mit Pfeil und Bogen, der früher einmal weiß gewesen, jetzt aber von einer grünen Moosschicht überzogen war. Der Kopf fehlte.
Passt vortrefflich, dachte er verbittert. Der Kopf ist ein überflüssiges Anhängsel, wenn es um die Liebe geht.
Er warf den kleinen Torso zurück ins Gras und humpelte verdrossen weiter. Bis zum See wollte er gehen, der den Besitz nach Norden hin begrenzte und den er bisher noch nicht aus der Nähe betrachtet hatte. Mehrfach blieb er mit dem Schirm an den Ästen der verkrüppelten Kiefern hängen, Birken hatten sich in dichten Kolonien angesiedelt, Moos wuchs auf umgeknickten Baumstämmen. Er stöberte einen Fuchs auf, der ihn aus sicherer Entfernung misstrauisch beäugte, dann aber vorsichtshalber das Weite suchte.
Der See kündigte sich durch ein Sumpfgebiet an, er musste Umwege gehen, um nicht einzusinken. Längst waren seine Schuhe und Hosenbeine nass, aber er blieb stur, wollte einen Blick aus der Nähe auf das grünliche Gewässer werfen. Nach einigem Suchen entdeckte er einen hölzernen Steg, der sicher nicht aus den Zeiten der Gutsherren stammte, sondern vermutlich von sozialistischen Anglern zusammengezimmert worden war. Er stapfte durch den Uferschlamm, betrat die Holzplanken und ging ein Stück auf den See hinaus. Das Grün, das man vom Haus aus gesehen hatte, war – wie vermutet – Entengrütze. Allerdings war das Wasser, das sich an einigen Stellen zeigte, nicht klar wie der See beim Gutshaus Dranitz, sondern bräunlich. Eine Brühe, in der bestimmt niemand ein Bad nehmen wollte. Er starrte ins Wasser, lauschte auf die eintönige Melodie des Regens und spürte eine fatale Anziehung, die dieses trübe Gewässer auf ihn ausübte. Eine Neigung, sich fallen zu lassen, in diesen düsteren See zu sinken und unter der grünen Entengrütze zu verschwinden. Einzutreten in das fremde, kühle Wasserreich, wo es keine Leidenschaften und keine Enttäuschungen gab …
Auf einmal tauchte ein Ring im Wasser auf, kreisrund, von einem Maul verursacht, das aus der Tiefe zuschnappte. Gleich darauf erschien ein weiterer Ring, dann ein dritter.
Kacpar zuckte erschrocken zurück. Karpfen. Er mochte keine Karpfen, auch wenn manch einer schwor, diese gefräßigen Teichbewohner zu lieben, vor allem wenn sie gut zubereitet auf dem Teller lagen.
Er trat den Rückweg an, gab dem Alten den Schirm zurück und stieg, nass und dreckig wie er war, in seinen Wagen. Fuhr los in Richtung Westen, hatte keine Ahnung, wohin, aber er fühlte sich wohl dabei. Das Zimmer, das er in der Pension in Waren gemietet hatte, würde er nicht beziehen. Morgen würde er Evelyne anrufen und ihr mitteilen, dass er aus ihrem gemeinsamen Projekt ausgestiegen war.