Ulli

Eigentlich war es ganz praktisch gewesen. Weil er Max am Morgen aus der Klinik abholen und sich den Tag über um ihn kümmern musste, konnte er »leider« nicht an der Geburtstagsfeier teilnehmen. Schließlich war der alte Mann noch schwach auf den Beinen, da musste er aufpassen, dass er sich nicht zu viel zumutete. Franziska war zwar nicht erfreut über seine Absage, aber natürlich hatte sie dafür Verständnis.

»Dann kommt ihr beiden eben die Tage mal vorbei, um nachträglich zu gratulieren«, meinte sie. »Die Hauptsache ist, dass Max über den Berg ist und langsam wieder zu Kräften kommt. Und bald darf er ja auch wieder in die Öffentlichkeit.«

Genau. Und er, Ulli, brauchte am Abend nicht neben Jenny an der festlichen Geburtstagstafel zu sitzen. Das wäre einfach nur peinlich gewesen, weil sie sich beide schlecht verstellen konnten, und am Ende hätten sie Walter womöglich die Geburtstagsfeier verdorben. Nee – erst mussten sie sich gründlich aussprechen, Jenny und er, da musste alles auf den Tisch, was zwischen ihnen nicht stimmte, was ihr an ihm nicht gefiel und was er ihr übel genommen hatte. Schluss mit dem Beleidigtsein und den stummen Vorwürfen. Das tat einfach zu sehr weh. Er liebte sie doch. Er brauchte sie. Und deshalb würde er den ersten Schritt tun. Er musste nur ein paar Tage warten, bis es Max etwas besser ging.

Als er gegen zehn Uhr in die Klinik kam, saß der Alte schon ungeduldig im Krankenhausflur, die gepackte Tasche, die Ulli ihm gleich am ersten Tag gebracht hatte, neben sich. Er sah recht gut aus, die Wangen wirkten rosig, die Augen blitzten vor Lebensfreude. Dünn war er, der blaue Trainingsanzug schlabberte um seinen Körper. Aber er war auch vorher ein Leichtgewicht gewesen, und die paar verlorenen Pfunde würde er schnell wieder drauf haben, wenn er etwas Ordentliches zu essen bekam. Ulli würde Mine bitten, ihm ein paar von ihren Leckereien für Max einzupacken.

»Da bist du ja endlich!«, rief er ihm entgegen. »Hab schon gedacht, du willst mich hier versauern lassen, Junge!«

»Sachte, sachte«, erwiderte Ulli grinsend, fasste seinen Freund am Arm und dessen karierte Reisetasche. »Ich musste vorher noch die Runde bei den Booten machen, gestern hat Tom die Jacht vermietet und den Tank nicht aufgefüllt.«

»Nee, so was!«, regte Max sich auf. »Zeit, dass ich wieder heimkomme. Habt ihr den Kiosk wenigstens aufgemacht, oder war der die ganze Zeit über geschlossen?«

Ulli beruhigte ihn. Er selbst hatte stundenweise den Kiosk betreut und sich mit den Angestellten abgewechselt, und weil jetzt, kurz bevor der Sommer so richtig losging, schon ordentlich was los war, hatte er zusätzlich Elke Stock angeheuert, die nach ihrer Rückkehr aus dem Westen einen Job suchte. Die Elke hatte sich geschickt angestellt, und er hatte vor, sie fest zu übernehmen, vielleicht auch für den Laden auf dem Zeltplatz, sollte sie mit Max nicht klarkommen.

Sie fuhren mit dem Aufzug runter in die Eingangshalle, wo Max kerzengerade an der Pforte vorbeiging und der diensthabenden Schwester zuwinkte.

»Noch mal von der Schippe gesprungen!«, rief er und reckte triumphierend die Hand in die Höhe.

Im Auto schwatzte er wie aufgezogen. Regte sich über seine Töchter auf, die wohl schon geglaubt hatten, ihn in die Kiste nageln zu können. Schimpfte über die Ärzte, die mit lateinischen Ausdrücken um sich warfen und einen erwachsenen Mann wie einen Schuljungen behandelten. Auch die Krankenschwestern kamen nicht gut weg.

»Lauter Dragoner sind das, Ulli!«, meinte er kopfschüttelnd. »Kennen einfach kein Pardon.«

»Ich fand sie sehr nett«, hielt Ulli dagegen, »und immerhin haben sie dich wieder auf die Beine gestellt, das musst du ihnen lassen, Max.«

»Tu ich ja«, knurrte der alte Mann.

Danach wurde er still, schaute nachdenklich aus dem Fenster in die Sommerlandschaft hinein, und als die Müritz in Sicht kam, huschte ein frohes Lächeln über sein Gesicht. So wie einer sich freut, der eine alte Freundin wiedertrifft.

»Mächtig was los, wie?«, fragte er, als sie über den gut besetzten Parkplatz zu ihren privaten Abstellplätzen fuhren.

»Kein Wunder bei dem schönen Wetter!« Ulli blickte hinüber zum Steg. Beinahe alle Boote waren unterwegs, nur zwei Tretboote und ein Ruderboot warteten noch auf unternehmungslustige Seefahrer. Rocky stand mit weißem Käppi und bekleckerter Schürze im Schnellimbiss und verkaufte Pommes mit Mayo, Tom stand auf dem Steg vom Bootsverleih. Seit Neuestem war auch seine Freundin Maggy unter den Angestellten, so viel war im Laden zu tun.

Er half Max beim Aussteigen und wollte ihn zum Haus führen, doch Max bestand darauf, kurz beim Kiosk vorbeizuschauen. Er wolle sich nur vergewissern, dass auch ja alles in Ordnung war, gern auch aus der Ferne.

Als Elke Stock die beiden Männer auf sich zukommen sah, hob sie die Hand zum Gruß. Es war offensichtlich, dass sie sich freute, Max zu sehen. Da sich vor dem Kiosk wie immer an schönen Tagen eine lange Schlange gebildet hatte, wandte sie sich jedoch gleich wieder ihren Kunden zu und verkaufte freundlich und geduldig Zeitungen, Limonade und Eis. Man merkte ihr an, dass sie den Job gern machte. »Gut gemacht, Junge«, sagte Max, als sie sich umdrehten und aufs Gartentor zustrebten. »Ist wohl ’ne ganz Fleißige. Die können wir gerne behalten.« Im Haus angekommen, bestand der sture Alte darauf, sich aufs Sofa zu legen.

»Nee, nee, Ulli! Im Bett war ich jetzt lange genug. Hannelore ist schon da, die wird mir den Bauch wärmen. Ach, da kommt ja auch Waldemar. Gib mal das Kissen rüber. Nicht das dicke, das kleine. Ja, genau. Und bring mir die karierte Decke aus dem Schlafzimmer!«

Er fror, obgleich es draußen fast dreißig Grad hatte. Ulli deckte ihn gut zu und kochte auf alle Fälle einen starken Kaffee. Falls es der Kreislauf war. Als er mit Tassen und Kanne zurück ins Wohnzimmer kam, war Max schon eingeschlafen, umgeben von zwei schnurrenden Katzen. Ulli stellte seine Utensilien so leise wie möglich auf den Tisch, wartete noch einen Moment, ob der alte Mann vielleicht aufwachte und etwas brauchte – aber dann begann Max leise zu schnarchen, und Ulli beschloss, nach den Booten zu schauen.

Er verbrachte eine gute Stunde auf dem Landungssteg, half den Kunden ins Boot, reichte ihnen die Ruder, erklärte dies und das, kassierte die Bootsmiete und war schließlich froh, als Tom ihn wieder ablöste. Am Badestrand winkte ihm jemand zu. Ulli beschattete mit der Hand die Augen. War das nicht diese blonde Frau, die ihm neulich um den Hals gefallen war? Na klar. Donnerwetter, die war vielleicht beharrlich. Er winkte höflichkeitshalber zurück und machte sich eilig davon.

Als das Hausboot gegen halb vier eintrudelte, füllte er den Tank, räumte kurz auf, und dann kam auch schon Tom und brachte die nächsten Kunden, die sich für den gemütlichen Kahn hatten vormerken lassen.

Als er am Abend endlich wieder ins Haus zurückkehrte, saß Max auf dem Sofa und streichelte seine Katzen.

»Solltest du nicht eigentlich liegen, Max?«, fragte Ulli gespielt streng.

Der Alte grinste. »Schon gut, mein Junge. Hab die Hummeln im Hintern, so lange musste ich liegen. War sogar schon im Büro und hab ’n bisschen was gearbeitet, und anschließend bin ich ein paar Schritte gegangen, zum Kiosk. Wegen dem Kreislauf und so.«

Ulli schüttelte ungläubig den Kopf. »Trauste mir wohl nicht zu, dass ich den Laden auch ohne dich schmeiße, wie?«

Max’ Grinsen wurde noch breiter, dann machte er Anstalten aufzustehen. »Ich mach uns mal ’nen anständigen Kaffee.«

»Bleib man sitzen. Ich bring den Kaffee, wenn er fertig ist«, bot Ulli gutmütig an. »Willst du auch Kekse?«

»Für mich nicht, danke …«

Ulli nahm die Kanne mit dem kalten Kaffee vom Tisch, setzte einen neuen auf und kehrte mit der vollen Kanne und einem Teller Kekse zurück ins Wohnzimmer. Dankbar nahm Max die Tasse entgegen und trank langsam und in kleinen Schlucken. Als das Koffein Wirkung zeigte, wurde er redselig. Im kommenden Jahr, da mussten die Blockhäuschen für die Urlaubsgäste fertig sein, mindestens fünf an der Zahl, mit Wasser- und Stromanschluss, drängte er Ulli. Klein und gemütlich, mit Heizung und Badezimmer – das musste sein.

»Lass dir das Geld von deinem Mädel zurückgeben, Ulli. Wenigstens das, was noch davon übrig ist. Wir müssen investieren, Junge. Nur so geht’s. Die Konkurrenz schläft nicht, gibt schon jede Menge Bootsverleihe und Hotels in der Gegend. Wie die Pilze schießen die in die Höhe. Aber so ein großes Waldgrundstück wie dieses, das haben sie nicht. Das ist unser Kapital, Ulli!«

Ulli nickte bestätigend und schwieg sich aus, was Max in seinem Eifer zum Glück nicht bemerkte. Wie sollte er ausgerechnet jetzt das Geld zurückfordern? Einen ungünstigeren Zeitpunkt gab es wohl kaum. Und überhaupt war er der Meinung, dass der Betrieb ihnen über den Kopf wuchs. Man musste nicht immer nur investieren und wachsen, ein Mensch brauchte auch Zeit für sein Privatleben. Was sollte er mit der ganzen Kohle, wenn Jenny ihm davonlief? Glück konnte man nicht kaufen. Und richtige Liebe auch nicht.

Zum Glück hielt Max’ Redseligkeit nicht lange an. Er bat Ulli, ihm eine Currywurst mit Pommes vom Imbiss zu holen, weil ihn das nach der »Krankenhauspampe« am schnellsten wieder auf die Beine bringen würde.

Ulli erfüllte ihm seinen Wunsch. Gegen zehn kehrte er noch einmal zum Bootsverleih, zum Kiosk, zum Laden und zum Imbiss zurück, um die Tageseinnahmen abzuholen, die er zu Hause unter einer losen Bodendiele im Büro verstaute. Er würde sie morgen zur Bank bringen. Auch wenn es auf dem Zeltplatz um diese Jahreszeit, wo die Tage am längsten waren, noch lange nicht ruhig war, musste um zweiundzwanzig Uhr Zapfenstreich sein. Ulli war froh, dass seine Angestellten den Sommer über bereitwillig Überstunden machten – schließlich musste man während der Saison ranklotzen, später, im Winter, würde es hier totenstill sein. Vielleicht hatte Max mit seinen beheizten Blockhäuschen gar nicht so unrecht – die konnte man auch in der kalten Jahreszeit vermieten …

Als er ins Haus zurückkehrte, saß Max zu seiner Überraschung angezogen und mit einer Decke bewaffnet auf einem Küchenstuhl und schien auf ihn zu warten.

»Du wolltest doch ins Bett gehen, Max. Was ist denn los, brauchst du noch etwas?«, erkundigte sich Ulli leicht besorgt.

»Nee, eigentlich nicht. Aber einen Wunsch hätte ich …«

»Na, dann spuck’s aus!«

»Ich will unbedingt auf den See rausfahren. Als ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, hab ich mir nix anderes mehr gewünscht. Ist doch jetzt auch keiner mehr da, den ich anstecken könnte …«

Ulli konnte nicht Nein sagen, und so gingen sie kurz darauf zum Hausboot.

Es war eine helle Nacht, die Müritz lag spiegelglatt und schwarz vor ihnen, ein schimmernder Mondstreifen zog sich übers Wasser. Max ließ sich von Ulli aufs Hausboot helfen, setzte sich ans Steuer und gab die Befehle. Käpt’n hatte er schon immer gerne gespielt. Ulli war höchstens Maat, eher noch Schiffsjunge. Aber es war ihm recht, wenn Max nur seinen Spaß hatte. Er zündete die beiden Laternen an – eine am Bug, die andere am Heck, und sie tuckerten gemächlich in die Mondnacht hinaus. Es war schön, nach dem lärmenden Tag und dem Gewimmel der vielen Menschen ganz ruhig über den See zu gleiten, das sanfte Schaukeln der kleinen Wellen zu spüren und sich die kühle, feuchte Nachtluft um die Schläfen wehen zu lassen. Wie still es war. Nur das leise Glucksen des Wassers war zu hören, hie und da rauschte ein leichter Wind in den Bäumen am Ufer, das Boot knarrte und knackte, wenn einer von ihnen sich bewegte. Drüben in Waren gingen langsam die Lichter aus, ein Boot mit Ausflüglern lag noch hell erleuchtet im Hafen, die bunten Lichter tanzten auf dem dunklen Wasser.

Max saß schweigend am Steuer und starrte mit weiten Augen auf den See hinaus.

»Schön, was?«, brach Ulli das Schweigen.

»Ja. Könnte so bleiben …«

Sie zogen eine weite Runde, trieben in der Mitte des Sees eine Weile ziellos dahin und sahen hinauf zum sternenübersäten Himmel.

»Zum Greifen nah«, sagte Max. »Brauchst dich nur ein bisschen zu recken, dann kannste dir einen pflücken.«

Ulli lachte, aber er verstand, was der Alte damit sagen wollte.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sie wieder am Landungssteg in Ludorf festmachten und ins Haus zurückkehrten.

Ulli wünschte Max eine gute Nacht, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Reich und ließ sich ins Bett fallen. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und die lange Bootsfahrt in der kühlen Nachtluft hatte ihn müde gemacht, weshalb er augenblicklich in einen tiefen Schlaf fiel, aus dem er erst gegen Morgen mit seltsam unruhigen Träumen wieder auftauchte. Er setzte sich auf und stellte erschrocken fest, dass er gestern vergessen hatte, den Wecker zu stellen – es war schon halb acht. Hastig lief er ins Badezimmer, zog sich an und rasierte sich, dann stieg er die Treppe hinunter, um Frühstück zu machen.

»Max?«

Keine Antwort. Er schlief wohl noch. Kaffeemaschine vorbereiten, Weißbrot in den Toaster, Kühlschrank aufmachen und schauen, was drin war.

»Magst du Schinken zum Frühstück, Max?«

Immer noch keine Antwort. Komisch, der Alte war doch Frühaufsteher. War der am Ende schon auf den Beinen und kontrollierte den Kiosk, obwohl die Ärzte ihm das strikt verboten hatten? Ulli klappte den Kühlschrank wieder zu und klopfte an seine Schlafzimmertür.

»Max? Bist du schon wach?«

Der alte Mann lag schmal und wächsern in den Kissen, den Mund halb geöffnet, die Augen geschlossen. Ulli hatte seit damals, als seine Eltern verunglückt waren, keinen Toten mehr gesehen. Er musste sich an den Türrahmen lehnen und war eine Weile wie erstarrt.

Max war von ihm gegangen. Gestern Nacht hatte er seine letzte Fahrt auf dem See getan, zum letzten Mal den Sternenhimmel gesehen. Voller Pläne war er gewesen. Aber die Kraft, sie auszuführen, hatte er nicht mehr gehabt.

Ulli fühlte sich unendlich einsam. So wie damals, als er am Grab der Eltern stand, aber da waren doch Mine und Karl-Erich bei ihm gewesen. Jetzt war er allein. Max Krumme, sein bester und einziger Freund, hatte sich auf die große Reise begeben, und Mine und Karl-Erich waren zu alt, um ihm beizustehen. Er würde ihnen später Bescheid geben.

Tränen liefen ihm über die Wangen. Er wischte sie weg, aber es kamen immer neue. Schließlich ging er vorsichtig zum Bett, strich dem Toten über die Wange und erschrak, weil sie so kalt und hart war. Unsicher, was er tun sollte, zog er mit ungeschickten Händen die Bettdecke glatt.

Er musste irgendetwas unternehmen. Aber was? Plötzlich sehnte er sich ganz schrecklich nach Jenny. Sie hätte gewusst, was zu tun war, hätte ihn getröstet, die Arme um ihn gelegt und ihm zugeflüstert, dass Max doch hier in seinem eigenen Bett und nicht in dem verhassten Krankenhaus hatte sterben dürfen. Ja, darüber war er sehr froh. Max hatte bis zuletzt über sich selbst bestimmen können. Und er hatte Pläne gehabt, für ihre gemeinsame Zukunft …

Als es plötzlich klingelte, fuhr er erschrocken zusammen, dann gab er sich einen Ruck, verließ das Zimmer und schloss leise die Schlafzimmertür. Auf dem Flur wischte er sich schnell mit dem unteren Teil seines T-Shirts übers Gesicht, dann öffnete er die Haustür.

»Hallo!«, sagte Evelyne Schneyder lächelnd. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

Doch, dachte Ulli. Sehr sogar. Aber schließlich konnte sie ja nicht wissen, was passiert war. »Nein«, stammelte er daher und blieb unschlüssig in der Tür stehen.

Sie blickte ihn aus ihren hellen Augen durchdringend an. »Ist alles in Ordnung, Herr Schwadke?«, erkundigte sie sich. »Sie sind blass wie ein Leintuch …«

»Ja, ähm, nein … Mein Freund ist heute Nacht verstorben«, sagte er leise. »Ich hab ihn gerade erst gefunden.«

»O Gott!«, flüsterte sie und drängte sich an ihm vorbei ins Haus. Und dann machte sie alles richtig. Ging mit ihm ins Schlafzimmer und stand schweigend neben ihm, bevor sie die Hände faltete und wie eine Pastorin sagte: »Gott gebe dir seinen Frieden!« Anschließend wandte sie sich Ulli zu. »Er ist ganz ruhig eingeschlafen«, tröstete sie. »Schauen Sie nur, wie entspannt seine Gesichtszüge sind.«

Zusammen standen sie eine Zeit lang vor dem toten Max, dann setzte sie sich unaufgefordert an den Wohnzimmertisch und schrieb eine Liste. Arzt anrufen wegen des Totenscheins. Beerdigungsinstitut. War sein Freund kirchlich gebunden? Den Pfarrer anrufen. Verwandte benachrichtigen. Eventuell einen Notar – falls er dort ein Testament hinterlegt hat.

»Das wäre das Wichtigste … Wenn ich Ihnen noch irgendwie zur Seite stehen kann …«

»Danke, nein, ich glaube, jetzt komme ich allein zurecht. Es war sehr nett von Ihnen, mir zu helfen.«

»Ich helfe gern, wenn ich kann, Herr Schwadke!«, versicherte sie ihm und legte sanft ihre Hand auf seine Schulter. »Hier ist meine Karte, rufen Sie mich an, wenn Sie Unterstützung benötigen. Ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit.«

Er steckte ihre Karte in die Tasche, warf ihr ein schwaches Lächeln zu und war froh, dass sie ihn endlich allein ließ. Als sie weg war, machte er sich daran, ihre Liste abzuarbeiten. Er rief Dr. Schulz in Waren an, suchte ein Beerdigungsinstitut aus dem Telefonbuch heraus, dann fasste er sich ein Herz und wählte die Nummer von Max’ Sohn Jörg in Freiburg.

Der Unidozent nahm die Nachricht gefasst auf, obwohl er sagte, es wundere ihn schon, dass die Klinik seinen Vater entlasse und der gleich in der ersten Nacht zu Hause entschlafe, aber sicher könne ihm der Arzt, den Ulli informiert habe, Näheres dazu sagen. Er versprach, seine Schwestern zu informieren, und teilte Ulli mit, dass er so bald wie möglich nach Ludorf aufbrechen wolle, schließlich mussten unzählige Formalitäten in Angriff genommen werden. Er würde sich freuen, wenn er dabei auf Ullis Unterstützung zählen könnte. Als Ulli aufgelegt und sich wieder gesammelt hatte, informierte er die Angestellten und Elke Stock und bat sie, heute auf ihn zu verzichten. Anschließend kehrte er ins Haus zurück und wartete auf Dr. Schulz.

Der Arzt kam am Mittag gleich nach der Sprechstunde.

»Das Herz«, sagte er nach kurzer Untersuchung. »Es war eine Frage der Zeit, Herr Schwadke. Der Prostatakrebs hatte sich wieder ausgebreitet, und dazu noch die Masern … Ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hat.«

Ulli starrte auf den ausgemergelten Körper seines verstorbenen Freundes und dachte, dass Max nun ausgelitten und seine Ruhe gefunden hatte. Es erleichterte ihn nicht – der Kummer saß wie ein hartes Geschwür in seiner Brust, schien mit jeder Minute größer zu werden und machte ihn kurzatmig. Als kurz darauf der Bestatter mit einem Gehilfen an der Tür klingelte, hätte er die in feierliches Schwarz gekleideten Männer am liebsten wieder fortgeschickt. Stattdessen ließ er sich einen Katalog in die Hand drücken, den er den Angehörigen übergeben sollte, sobald sie denn eintrafen.

Der Bestatter und sein Gehilfe legten Max mitsamt dem Betttuch in einen grauen Plastiksarg und trugen ihn aus dem Haus. Sie hatten den Leichenwagen dicht am Tor geparkt, aber natürlich standen dort die Leute vom Zeltplatz und auch andere Neugierige, die wissen wollten, was da vor sich ging. Einige weinten. Viele gingen zu Ulli, der an der Haustür stand, schüttelten ihm die Hand und kondolierten.

Später saß er im Wohnzimmer, streichelte die verwaisten Katzen, fütterte sie und überlegte, ob er im Schlafzimmer aufräumen sollte. Aber das brachte er nicht fertig. Dieses Schmerzgeschwür in seiner Brust war zu groß, es nahm ihm die Luft und machte ihn kraftlos.

Gegen fünf raffte er sich auf und drehte eine Runde auf dem Zeltplatz, bedankte sich bei seinen Angestellten, die den Betrieb aufrechterhielten, und ging zum Kiosk, um Elke zu bitten, dass sie bis zum Abend Dienst machte. Dann solle sie den Kiosk verschließen und den Schlüssel Tom geben.

»Das mache ich gern, Ulli«, versicherte sie ihm. »Es tut mir so leid um den Max. Ich hab ihn sehr gemocht.«

»Danke, Elke. Und wenn sich der ganze Trubel hier erst mal gelegt hat, reden wir gleich über deine Festanstellung. Du bist mir ja jetzt unverzichtbar.«

Er sah, wie sie die Lippen zu einem dankbaren Lächeln verzog.

Plötzlich spürte er eine unbändige Sehnsucht in sich aufsteigen. Es gab da noch einen anderen Menschen in seinem Leben, der ihm unverzichtbar war. Eilig ging er zu seinem Passat und fuhr los. Es war sicher nicht klug, vielleicht war es auch ganz falsch, aber er konnte nicht anders. Konnte sich nicht länger gegen das wehren, was sein Herz ihm sagte. Denn sie war der einzige Mensch, dem er ganz und gar vertraute, bei dem er sich fallen lassen wollte.

Am Gutshaus angekommen, sah er Jennys roten Kadett auf dem Parkplatz stehen. Gott sei Dank, sie war zu Hause. Eilig stieg er aus und lief zum Kavaliershäuschen hinüber.

Auf sein beinahe aufdringliches Klingeln hin öffnete Jenny die Tür.

»Jenny!«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Bitte lass mich rein … ich brauche dich!«

»Mensch, Ulli«, sagte sie ebenso überrascht wie erschrocken. »Du siehst ja aus wie ein Zombie.«

»Ich fühl mich auch so«, murmelte er. »Der Max ist tot.«

»Max«, flüsterte sie.

»Heute früh hab ich ihn in seinem Bett gefunden …«

Seine Stimme versagte.

Jenny schlang die Arme um ihn und hielt ihn einfach nur fest. Ulli klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender und fühlte, wie das harte Ding in seiner Brust dahinschmolz und zu warmen Tränen wurde.