Audacia

Die Novizin hatte nicht gewusst, wie dicht und undurchdringlich der Wald war, wenn man die gebahnten Wege mied. Nur selten hatte sie während ihrer Kindheit die Burg verlassen, schon gar nicht allein und auf eigene Faust. Wenn der Hof in eine andere Burg wechselte, dann lud man Truhen und Kisten auf Ochsenkarren, die adeligen Frauen ritten zu Pferd oder wurden auf Wagen gefahren, die mit einem Zeltdach versehen waren. An solchen Tagen hatte sie vorn bei dem Kutscher gesessen und fasziniert in die Landschaft geschaut, Wälder, Äcker und Wiesen bestaunt, und wenn sie am Ufer eines der Seen entlangrollten, hatte sie sich sehnsüchtig gewünscht, aussteigen und ans Ufer laufen zu dürfen. Doch das wurde den Frauen nur selten erlaubt.

Nun also fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben den weichen Waldboden unter den Füßen, roch den pilzigen Duft der Fäulnis und des neu wachsenden Lebens, und ihre Hände waren blutig von der rauen Rinde einer alten Eiche, an der sie sich im Fallen festgehalten hatte. Das also war der Wald, den sie vom Fenster der Kemenate aus so sehnsuchtsvoll betrachtet hatte, dieses lockende, wogende, in vielen Grüntönen leuchtende Blätterwerk, das im Herbst so wundervoll rot und braun erglühte und sich im Winter in schwarzes, filigranes Geäst verwandelte. Es war eine Wunderwelt, in die sie nun so unversehens eingedrungen war, eine Welt voller Schönheit und wimmelnden Lebens, zugleich aber auch eine Welt, in der sie eine Fremde war. Sie war sich nicht sicher, ob man sie hier freundlich oder feindlich aufnehmen würde.

Das Letzte, woran sie dachte, waren die slawischen Krieger. Hier, in diesem grünen Dickicht, glaubte sie sich vor ihnen verborgen. Man sah kaum drei Schritte weit, wie sollte sie da ein Feind entdecken? Vielmehr quälte sie die Sorge, in die Irre zu gehen. Die Burg Schwerin lag in nördlicher Richtung, so viel wusste sie, aber da sie den Weg verlassen hatte und die Sonne nur hie und da durch das Blätterdach blitzte, ohne dass sie ihren Stand am Himmel erkennen konnte, hatte sie keine Ahnung, wohin sie lief. Es bedrückte sie, denn wenn sie die Burg ihres Vaters verfehlte, konnte sie dem Kloster nicht helfen. Vor allem dieser Gedanke war schmerzvoll. Sie musste Hilfe herbeiholen. Für alle ihre Mitschwestern, die in großer Gefahr waren. Und für die Äbtissin. Für Audacia, der ihre ganze Liebe galt. Sie war ihre Mutter und Schwester, ihre Gebieterin und ihre zärtliche Freundin, sie war stark und streng, konnte Strafen verhängen und zornig werden, aber im Grunde ihrer Seele war sie voller Liebe. So wie auch sie selbst, Regula, die ihr Leben Gott geweiht hatte, während zugleich all ihre überquellende, leidenschaftliche Liebe der Äbtissin galt. Ihr Leben für sie hinzugeben wäre noch zu wenig. Wenn Gott es zulassen würde, dann wollte sie auch alle Sünden ihrer Herrin auf sich nehmen und für sie im Fegefeuer büßen.

Einstweilen büßte sie jedoch auf Erden, ohne dass die Äbtissin daraus einen Nutzen zog. Ihr Schuhwerk hatte sich längst mit Nässe vollgesogen, das Leder weitete sich, die Nähte lösten sich auf. Ihre Hände schmerzten, der Blick wurde stumpf, ein Baum glich dem nächsten, das Buschwerk war überall ähnlich, nur wenn ab und an ein umgestürzter Baumriese, von Moos und jungen Pflanzen bewachsen, vor ihr auftauchte, hatte sie einen Anhaltspunkt. Nein – sie ging nicht im Kreis, hier an diesem Ort war sie noch nie zuvor gewesen. Aber ob sie auf diese Weise zur Burg Schwerin gelangte, war schwer zu sagen. An einem rieselnden Bachlauf machte sie halt und schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser, um ihren Durst zu stillen. Es musste schon Mittag sein – Zeit für die Sext, die sie hier ganz für sich allein beten würde.

Ein Geräusch ließ sie aus dem lateinischen Psalm hochschrecken, den sie vor sich hin sprach. Ein lautes Knacken, das von einem großen Tier oder von einem Menschen verursacht sein musste. Ihr Herz hämmerte – konnte es sein, dass ein Feind sie entdeckt hatte? Ausgerechnet im Gebet, wo sie sich von Gott bewahrt geglaubt hatte?

»Nicht Angst haben, Herrin«, flüsterte eine heisere Stimme. »Nur Bogdan, Gott gegeben.«

Dass der Slawe da war, beruhigte sie nicht, denn sie hatte Angst vor diesem seltsamen Menschen. Wieso war er ihr gefolgt? Was wollte er von ihr?

»Wo bist du?«, rief sie streng in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Sie erhielt keine Antwort, doch sie konnte jetzt eine Gestalt zwischen den Bäumen erkennen, die sich ihr in seltsam hüpfender Weise näherte. Bogdan winkte ihr zu, schnitt höchst einschüchternde Grimassen, verschwand einen Moment hinter dem zerklüfteten Stamm eines uralten Baumes, dann tauchte er wieder auf und blieb nur wenige Schritte von ihr entfernt stehen.

»Wald ist groß«, sagte er und verzog besorgt das Gesicht. »Ich zeige meiner Herrin Weg. Burg Schwerin. Ritter des Grafen holen.«

Konnte sie ihm trauen? Immerhin war auch er ein Slawe, also ein Feind. Auf der anderen Seite war er gerade in dem Moment gekommen, als sie im Gebet niederkniete. Was hatte er gesagt? »Gott gegeben.« Und wenn dem tatsächlich so war?

»Du kannst mich zur Burg führen?«

Er nickte bekräftigend, grinste sie an und machte ihr dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie tat es im Vertrauen auf Gott, und von diesem Moment an wurde ihr der Weg leicht. Bogdan, der Slawe, schien in dieser fremden Welt des Waldes zu Hause zu sein. Er bewegte sich ohne Hast, prüfte hin und wieder den Stamm eines Baumes, suchte etwas am Boden, stieg mit erstaunlicher Geschicklichkeit in die Baumkronen und hangelte sich mit sicheren Bewegungen wieder hinunter. Er bahnte ihr den Weg, hielt für sie die Zweige zurück und trug Steine in den Bachlauf, damit sie trockenen Fußes von einem Ufer ans andere gelangte. Er lief voraus, sicherte die Umgebung, witternd wie ein Tier und mit schnellen Blicken, kehrte dann zu ihr zurück, um sie zu führen. Niemals wagte er, sie zu berühren, doch er grinste die ganze Zeit über, sodass sie sich manchmal fragte, ob er nur froh war, ihr behilflich sein zu können, oder ob er vielleicht doch etwas Böses im Schilde führte.

Die Aufgabe, die sie übernommen hatte, gab ihr eine Kraft, die sie selbst nicht in sich vermutet hatte. Erst als das Licht schwächer wurde, hielten sie Rast, und sie teilte den knappen Vorrat an Brot, Käse und getrocknetem Fleisch mit ihm. Er kniete vor ihr nieder und legte beide Hände in den Nacken, dann erst wagte er es, die Gaben zu nehmen.

Sie hatten kaum ihre Mahlzeit beendet, da zuckte er zusammen, erhob sich hastig und stand einen Moment reglos da, die Hand am rechten Ohr. Auch Regula hatte das leise Knacken vernommen, es jedoch einem Tier des Waldes zugeordnet. Doch Bogdan schien anderer Meinung zu sein. Mit einer ungewöhnlich energischen Geste bedeutete er ihr, sich nicht von der Stelle zu rühren, dann bewegte er sich zwischen den Bäumen hindurch und verschwand im Dickicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie leise er ging, wie klug er die nackten Füße setzte, um kein Zweiglein, keinen losen Stein zu berühren. Er war in die Richtung gegangen, aus der sie gekommen waren, nicht in die, aus der das Geräusch gekommen war. Wollte er einen Umweg gehen, um jemanden zu überraschen?

Sie kauerte sich lautlos hin und lauschte in den Wald hinein, versuchte, zu Gott zu beten, und konnte es doch nicht, weil ihr Geist ganz und gar von der Angst gefangen war. Dann hörte sie es. Ein lautes Knacken, wie wenn Äste brachen, ein Keuchen und Ächzen, dumpfe Schläge, dann ein kurzer Aufschrei, der in grausigem Röcheln endete. Sie sprang auf, wusste nicht, ob sie flüchten oder Bogdan zu Hilfe eilen sollte, doch in diesem Moment erschien er im Gesträuch. Er ging langsam, dann blieb er stehen, stützte den Rücken gegen einen Stamm und fuhr sich mit der Rechten an die Brust. Als er die Hand zurückzog, konnte sie sehen, dass helles Blut daran war.

»Bogdan! Du bist verwundet!«

Er sah sie an und schüttelte den Kopf. »Nicht schlimm.« Er verzerrte das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte, dann bückte er sich und klaubte etwas Moos vom Boden auf. Anschließend zog er sein geflicktes Ledergewand an der Brust auseinander und legte das Moos auf die verletzte Stelle, dann setzte er sich in Bewegung.

»Fort«, sagte er mit rauer Stimme. »Nicht hierbleiben, sonst sie kommen.«

Sie begriff und lief eilig hinter ihm her, sprang über Stock und Stein, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, denn er sah sich nur selten nach ihr um. Hin und wieder blieb er stehen und lehnte sich schwer atmend an einen Stamm, und wenn das Licht des aufgehenden Mondes die Dämmerung durchdrang, konnte sie sehen, dass er die Augen schloss.

»Soll ich deine Wunde verbinden? Ich kann von meinem Gewand einen Streifen abreißen, damit binden wir das Moos fest auf die Wunde, damit sie nicht so heftig blutet«, schlug sie besorgt vor.

Aber er hörte nicht auf sie, stattdessen bahnte er sich weiter geräuschlos seinen Weg. »War das ein Feind? Was hast du mit ihm getan?«

Er schwieg zu ihren Fragen. Nur wenn sie näher trat, seinen zerrissenen Ärmel berührte und Anstalten machte, nach seiner Wunde zu sehen, öffnete er die Augen. In seinen schwarzen Pupillen spiegelte sich der Mondschein.

»Glaubst du, dass sie uns folgen?«

»Müssen weiter, fort von hier.«

Sie gingen die ganze Nacht durch, und gegen Morgen war Regula so erschöpft, dass sie zu Boden sank, als sie an einem Bachlauf eine kurze Rast einlegten. Auch Bogdan musste sich setzen, mehrfach wechselte er das Moos auf der Wunde, einmal fand er Kräuter, die er auflegte, stets trank er gierig das kalte Bachwasser. Sie stellte keine Fragen mehr, stolperte nur mit letzter Kraft hinter ihm her, sorgte sich weder um wildes Getier noch um boshafte Nachtgeister, und ihre Gedanken waren weit fort. Im roten Schein sah sie das Kloster vor sich, sah die Feinde, die über die Mauern stiegen, die strohgedeckten Dächer in Flammen zum Himmel lodern, und ihr Herz zitterte um die geliebte Herrin, um Audacia, die Äbtissin.

Als die Sonne aufging, erreichten sie den Waldrand. Vor ihnen breitete sich die mattblaue Fläche des Sees aus, von der Morgensonne silbern beschienen. Am Ufer, zwischen Äckern und Wiesen, umgeben von knorrigen Kiefern, lag die Burg ihres Vaters.

»Endlich«, flüsterte sie. »Ich danke dir, Bogdan. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«

Das letzte Stück des Weges war getragen von Freude und Schmerz. Ihre Füße waren blutig, ihr ganzer Körper schmerzte, vor Schwäche sah sie bleiche Gespenster, die ihren Blick trüben wollten. Zwei Reiter kamen ihnen entgegen, ihre Kettenpanzer waren schwarz, die blank polierten Helme glänzten in der Sonne.

»He du! Slawe! Wohin willst du mit der Nonne?«

Regula erkannte den Ritter ihres Vaters und sprach ihn mit seinem Namen an.

»Seid gegrüßt, Sigmund von Wolfert. Reitet zurück in die Burg und gebt meinem Vater Bescheid. Er muss dem Kloster Waldsee zu Hilfe eilen.«

»Herrin!«, sagte er. »Vergebt mir, dass ich Euch in diesem Nonnenkleid nicht gleich erkannte. Was sagt Ihr? Das Kloster ist in Not?«

»Die Slawen …«

In diesem Moment stieg tiefe Dunkelheit vom Boden auf und umschloss sie, trug sie aus der Welt hinaus an einen anderen, stillen und erlösenden Ort. Lange schwebte sie dort in sanfter Dämmerung, wurde zu Wolkendunst, der über dem Meer dahintrieb, strich über Länder und Kontinente bis an den Rand der Erdenscheibe, an der die Welt in die Nichtwelt stürzt. Sie sah Christus, der den Kosmos mit liebenden Armen umfing, hörte die sphärischen Chöre der Engel und spürte die Winde, die Gott in alle vier Himmelsrichtungen sendet, damit sie das Ihre zu dem großen Werk der Schöpfung beitragen. Auf dem Rücken des Nordwinds ritt sie wieder hinunter in die Welt der Lebenden, die kosmischen Klänge verhallten, als sie die durchscheinende Halbkugel durchstießen, die die Erdenscheibe überdeckt, und von diesem Moment an spürte sie wieder das Elend und den Schmerz des irdischen Daseins.

»Sie ist wach!«, rief eine Stimme, die sie kannte. Es war die alte Oda, ihre Amme, die an ihrer Bettstatt saß und vor Freude in die Hände klatschte.

»Bringt Gerstenbrei, der mit Honig gesüßt ist!«, rief Oda den Dienerinnen zu. »Gewürzten Wein! Pasteten. Ein gekochtes Hühnchen … Oh, meine süße Herrin! Welche Sorge habe ich um Euch ausgestanden!«

Regula blinzelte in das Mittagslicht, das durch das kleine Fenster in den Raum hineinfiel. Sie war auf der Burg ihres Vaters. Da war Oda, da waren die gewohnten Gegenstände, die sie von Kind auf kannte. Die geschnitzte Truhe, in der ihre Gewänder lagen, der aus Wollfäden gewirkte und bestickte Wandbehang, auf dem drei Reiter über ein Ährenfeld sprangen. Der niedrige Betschemel, auf dem die Lampe stand, daneben ein schmutziges, zerrissenes Nonnenkleid.

Ein gewaltiger Schrecken erfasste sie. Sie fasste Oda, die ihr einen Becher mit Wasser reichen wollte, beim Arm.

»Die Ritter!«, rief sie. »Sind sie zum Kloster geritten?«

Oda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie stützte ihre junge Herrin, damit sie sich besser aufsetzen konnte, und hielt ihr den Becher an den Mund.

»Schon vor einer ganzen Weile, Herrin. Der gnädige Herr und Graf, Euer Vater, hat Boten ausgeschickt, um alle Ritter zusammenzurufen, und Euer Bruder Heinrich hat sie in den Kampf geführt.«

Regula trank durstig das Wasser aus Odas Becher, dann sank sie zurück auf das Lager und spürte ihr Herz heftig schlagen. »Ist es schon Mittag?«

»Längst. Ihr müsst etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen«

Es war schon Nachmittag. Dann waren sie wohl um die Mittagszeit losgeritten, das war spät, aber sie wusste, dass das Zusammenrufen der Kämpfer stets seine Zeit brauchte. Wie lange würden sie brauchen, bis sie das Kloster erreichten? Würden sie noch rechtzeitig ankommen oder das Kloster gar zerstört, die Frauen geschändet und erschlagen vorfinden? Regula wusste, dass die Äbtissin sich schützend vor ihre Nonnen stellen würde und ohne Zweifel eine der Ersten wäre, die den Tod erlitten. Sie wies die Schüssel mit warmem Brei, die Oda ihr vorhielt, zurück und schloss die Augen. Hilflose Angst krallte sich in ihre Brust.

»Ihr müsst essen, Herrin«, hörte sie Oda sagen. »Ich bitte Euch!«

»Lass mich …«

»Nur ein Löffelchen, ich flehe Euch an!«

»Geh!«

Die Amme musste gehorchen, wich jedoch nicht von ihrer Seite. Regula lag kraftlos auf dem Lager, starrte an die gemauerte Decke des kleinen Raums, die Angst lähmte ihren Geist und ihre Seele. Sie konnte nichts tun, außer zu beten. Aber sooft sie auch versuchte, die lateinischen Psalmen und Gebete vor sich hin zu sprechen – sie konnte sich nicht mehr an die Worte erinnern. Erst als die Abenddämmerung einsetzte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf voller erschreckender Träume. Es waren Angstträume, die ihr der Teufel schickte, nicht die Wahrträume, die von Gott kamen. Diese überfielen sie niemals im Schlaf, sondern stets im wachen Zustand.

»Herrin, meine kleine Regula, Ihr müsst aufwachen! Der gnädige Herr und Graf, Euer Vater, will mit Euch sprechen …«

Sie war froh, von ihren schlimmen Träumen erlöst zu werden, denn sie hatte ihren Bruder Nikolaus am Grunde des Meeres gesehen. Dort trieb er gleich einem grauen Schemen unter Felsen dahin, und seine Augen waren leer, weil die Fische sie verspeist hatten.

»Ich komme …«

Die Amme stützte sie, wollte ihr ein neues Gewand aus Leinen anlegen, doch Regula wehrte sich dagegen und forderte ihr Nonnenkleid, auch wenn es schmutzig und zerrissen war. Sie trank ein wenig gewürzten Wein, mit Wasser gemischt, dann erhob sie sich, um hinunter in den großen Saal zu gehen, wo ihr Vater auf sie wartete. Es war ein beschwerlicher Gang, denn ihre wunden Füße brannten bei jedem Schritt wie Feuer, und ihre Glieder waren noch steif von dem langen Weg.

Ihr Vater saß auf einem hölzernen Schemel dicht bei der Feuerstelle. Er hatte einen pelzgefütterten Mantel um die Schultern gelegt und eine wollene Decke über seine Knie gebreitet. Das war seltsam, denn die Sommertage waren warm, und selbst in der großen Halle schien es Regula nicht kühl.

»Bist du es, Regula?«, fragte er und hob den Kopf, als er ihre Schritte vernahm. »Komm her zu mir.«

Sie begriff, dass der Vater kaum noch sehen konnte. Auch schien er kleiner geworden zu sein, der Bart durchscheinend, seine Augen lagen in dunklen Höhlen. Jetzt fiel ihr wieder ein, dass Oda gesagt hatte, ihr Bruder Heinrich habe die Ritter angeführt. Also hatte er den Platz des Vaters eingenommen, der früher stets selbst seinen Kämpfern vorangeritten war.

»Ich bin hier, Vater«, antwortete sie und fasste seine Hände, die unbeweglich und kalt auf der wollenen Decke ruhten.

»Du hast das Kloster verlassen, Regula«, sagte er. »Das war nicht recht von dir, denn du hast dein Gelübde gebrochen …«

Sie streichelte seine knotigen Hände und versuchte zu begreifen, was er da sagte.

»Ich ging im Auftrag der Äbtissin, Vater. Das Kloster wird von slawischen Kriegern bedroht.«

Er nickte mehrfach vor sich hin, aber sie ahnte, dass er den Sinn ihrer Worte nicht verstanden hatte. Wie schrecklich. Der Vater war krank, Gott hatte ihm seinen Verstand genommen.

»Die Slawen«, sagte er und lachte. »Die haben wir besiegt. Sind alle tot. Den Letzten haben die Knappen heute erschlagen.«

Sie begriff nicht. Er redete unsinnige Dinge, mischte seine Erinnerungen mit Vorstellungen der Fantasie.

»Mein Bruder ist mit den Rittern zum Kloster gezogen«, versuchte sie, ihn in die Wirklichkeit zurückzuführen. »Hat er schon Boten geschickt? Gibt es Nachrichten, ob sie die Feinde besiegt haben?«

Der alte Mann starrte sie aus leeren Augen an. Schließlich riss er sich die wollene Decke von den Knien, griff einen Knotenstock, der neben seinem Sitz stand, und richtete sich mühsam auf.

»Da!«, rief er und zeigte zu einem der Saalfenster. »Da ist er doch, der Slawe – tot!«

Er humpelte zum Fenster, hielt sich mit der Hand am Fenstersims fest und sah hinunter in den Hof. Regula stockte der Atem. Langsam näherte sie sich dem Fenster, trat neben ihren Vater und erblickte unten in der Vorburg zwischen den Hütten der Handwerker eine Gruppe junger Knappen. Sie waren noch nicht alt genug, um mit in den Kampf ziehen zu dürfen, und hatten aus Ärger darüber ihr Mütchen an einem hilflosen Menschen gekühlt. Als einer von ihnen kurz beiseitetrat, sah Regula den ledernen Wams, auf dem ein großer, dunkler Blutfleck war, und sie wusste, wen die Knappen dort unten im Hof zu Tode gejagt hatten.

Bogdan, den Slawen. Ihren treuen Diener und Retter. Er hatte hier in der Burg ihres Vaters den Märtyrertod erlitten. Sie spürte, wie sich der Anfall näherte, wie sie am ganzen Körper versteifte und das Licht Gottes in ihr zu strahlender Helligkeit wuchs. Eine fremde Stimme, die ihrer eigenen ähnlich war, sprach: »Gott vergebe dir deine Sünden, Bogdan, und nehme dich auf in sein ewiges Reich.«

Dann überfielen sie die Bilder. Sie waren schön und schrecklich zugleich, denn sie sah den Vater tot auf dem Lager liegen und ihren Bruder Heinrich auf dem Grafenthron sitzen. Sie sah die rauchenden Trümmer des geliebten Klosters, die Grabhügel auf dem Friedhof und die armseligen Hütten hinter der zerstörten Klostermauer, mit Schnee bedeckt. Aber sie sah auch die Hand Gottes, die schützend über den wenigen Frauen lag, die der Tod verschont hatte. Und sie sah ihre geliebte Herrin, Audacia, die Äbtissin. Ihr Gesicht war voller Sorge, sie beugte sich zu der Novizin nieder und strich ihr liebevoll über die Wange. Heiße Glückseligkeit durchströmte Regula bei der Berührung, sie wollte den Arm heben, um die Hand ihrer Herrin zu fassen und zu küssen, doch sie war zu keiner Bewegung fähig. Warme Tränen fielen auf ihr Gewand, durchdrangen es bis auf ihre Brust, wo sie erkalteten.

»Bringt sie fort!«, hörte sie eine kreischende Stimme. »Weg mit ihr. Sie ist verrückt. Sperrt sie in eine Kammer. Ich will sie nicht mehr sehen!«

Dienerinnen kamen und trugen sie aus dem Saal, schleppten sie die Wendeltreppe hinauf in ihre Kammer und warfen sie auf das Lager.

»Wie die sich anfühlt«, hörte sie eine Dienerin sagen. »Ganz steif.«

»Es ist unheimlich, sie zu tragen«, pflichtete ihr eine andere bei. »Sie fühlt sich an wie eine Tote.«

»Nehmt euch in Acht«, sagte die Erste. »Das ist der Teufel, der in ihr steckt und sie steif macht. Haltet eure Münder zu, damit er nicht auch in euch hineinfahren kann.«

Oda, die alte Amme, war bei ihr. Rieb ihr die Schläfen, massierte Arme und Beine, wickelte sie in warme Decken und sang mit leiser, dünner Stimme die alten Kinderlieder. Es war schon tief in der Nacht, als Regula spürte, dass die Starre ihren Körper freigab. Mit einem Ruck setzte sie sich auf.

»Iss«, sagte Oda und reichte ihr die Schale mit Brei.

Dieses Mal gehorchte Regula. Sie aß die Schüssel leer, trank den Honigwein und spürte, wie ihre Kräfte langsam zurückkehrten.

»Es sind Boten gekommen«, flüsterte Oda. »Die Slawen sind besiegt, das Kloster befreit. Du bist eine Heldin, eine Heilige, meine kleine Regula, denn du hast die Hilfe herbeigeholt.«

Sie schwieg, da sie wusste, dass die Amme keinen Widerspruch dulden würde. Aber nicht ihr war es zu verdanken, dass das Kloster gerettet war. Es war Bogdans Verdienst. Und wie bitter hatten sie ihn dafür entlohnt!

»Ich will, dass der Slawe ein christliches Begräbnis erhält«, sagte sie.

Die Amme starrte sie besorgt an, weil sie nicht begreifen konnte, was ihr Schützling damit meinte. Aber sie nickte freundlich, um ihre junge Herrin nicht aufzuregen.

»Und gleich morgen will ich zurück zum Kloster reiten.«

Wieder nickte die Amme und nahm einen hölzernen Kamm zur Hand, um Regula das lange Haar zu glätten.

»Morgen ist es vielleicht noch zu früh, meine schöne Herrin. Denkt daran, dass Eure Füße wund sind. Zudem hat der Bischof Brunward für morgen seinen Besuch angekündigt. Er kommt Euretwegen zur Burg geritten.«

»Meinetwegen?«

Die Amme löste geduldig die verknäuelten und verklebten Stellen im Haar ihres Schützlings.

»Ja, meine Herrin. Man hat ihm berichtet, dass Ihr hier in der Burg seid, und er will Euch unbedingt sehen, der heilige Mann.«