Audacia

Sie würden kommen. Wenn Gott nicht ein Wunder geschehen lassen wollte, dann würden die Slawen das Kloster und alles, was darin lebte, vernichten. Die Äbtissin hatte die Schilderungen der alten Frauen gehört, die vor über zwanzig Jahren die Angriffe der slawischen Krieger überlebt hatten. Diese Männer waren Bestien, die nicht an Gott den Herrn und an Jesus Christus, dessen Sohn, glaubten. Sie zündeten die Klöster an, zerschlugen die Altäre in den Kirchen, raubten die silbernen Abendmahlgeräte, und viele von ihnen hatten eine besondere Freude daran, einer Klosterfrau Gewalt anzutun. Man hatte die unglücklichen Nonnen seinerzeit nackt und blutig geschändet zwischen den Trümmern der Klostergebäude gefunden, nur wenige waren mit dem Leben davongekommen.

Aber solange sie Äbtissin des Klosters Waldsee war, würden ihre Nonnen sich nicht kampflos den Heiden ergeben. Sie würden lieber sterben, als in Schande und Elend weiterzuleben.

Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Wenn sie die Zeichen richtig gedeutet hatte, dann war es im Wald zu einem Überfall gekommen, und es gab für den armen Bruder Gerwig und seine Begleiter wenig Hoffnung. Wahrscheinlich waren die Slawen aus dem Hinterhalt über die ahnungslosen Reiter hergefallen, hatten sie von den Pferden gezerrt und erschlagen.

Sie kehrte ins Refektorium zurück und versuchte, klare Gedanken zu fassen. Die Nonnen waren nach dem Mittagsmahl zu ihrer gewohnten Arbeit übergegangen, nur die Priorin stand vor dem Fenster, die geknotete Paternosterschnur in den gefalteten Händen.

»Wir sind alle zu Märtyrerinnen des Glaubens auserwählt«, sagte sie zur Äbtissin. »Um mich ist es nicht schade, ich bin alt und habe meine Zeit gehabt. Aber um die jungen Frauen ist es mir leid. Vor allem um die Mädchen, die uns anvertraut wurden.«

»Ruf alle hierher ins Refektorium«, sagte die Äbtissin, ohne auf Claras Gejammer einzugehen. »Es ist Zeit zu handeln.«

Der Blick der Priorin zeigte der Äbtissin deutlich, was sie davon hielt, doch sie gehorchte schweigend. Der Raum füllte sich, die Frauen kamen mit groben Arbeitsschürzen aus Ställen und Gärten, aus den Werkstätten und Kammern. Zusammen waren sie vierzig Schwestern. Die Jüngeren schwatzten leise miteinander, die Alten ahnten, was der Grund des ungewöhnlichen Befehls war, denn sie schwiegen ängstlich und gingen mit gesenkten Köpfen. Zwei von ihnen, die den Überfall damals überlebt hatten, lachten im Irrsinn und schrien, das Ende der Welt sei nahe. Die Äbtissin musste sich energisch Ruhe verschaffen, um ihre Anordnungen verkünden zu können.

»Die Heiden stehen dicht vor dem Kloster, meine lieben Schwestern, jeden Augenblick können sie über uns herfallen. Aber seid getrost, Gott der Herr ist auf der Seite der Christen, er wird uns beistehen.«

Geflüster entstand unter den Frauen, viele schauten ungläubig drein, die meisten aber waren voller Angst.

»Sie werden uns alle töten«, sagte eine Nonne mit bebender Stimme.

»Aber nicht gleich«, kreischte eine der irrsinnigen Alten. »Vorher kühlen sie noch ihr Mütchen an euch!«

Die Äbtissin befahl, dass man sie zum Schweigen brachte.

»Ich habe euch nicht zusammengerufen, um euch in Verzweiflung zu stürzen, sondern um euch Mut zuzusprechen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Wir werden das Kloster mit Gottes Hilfe verteidigen. Jede von uns hat dabei ihre Aufgabe zu erfüllen. Hört mir zu!«

»Wie sollen wir schwachen Frauen gegen die wilde Horde der Slawen bestehen?«, rief die Stickerin Agnes. »Sie haben Schwerter und Äxte, auch Pfeil und Bogen. Sie steigen über die Mauern, und dann gnade uns Gott!«

Die Äbtissin war nicht gewillt, solche Einwände gelten zu lassen. Stattdessen verkündete sie ihre Maßnahmen. »Zwei Frauen, deren Augen gut sind, halten auf dem Kirchturm Wache und warnen die anderen, falls sich jemand dem Kloster nähert. Gutrune und Bernhardia – ihr habt die erste Wache, später werdet ihr abgelöst.«

Die Nonnen waren absoluten Gehorsam gewohnt, die Genannten eilten über den Hof in die Kirche.

Die Äbtissin fuhr fort: »Die Pforte wird verschlossen und verriegelt. Versuchen die Feinde, über die Mauer zu steigen, so werden jene Frauen, die kräftig genug sind, die Gegner mit Steinwürfen abwehren. Andere werden Feuer anzünden, damit siedendes Wasser und Öl bereitstehen. Ich verteile jetzt die Aufgaben, hört genau hin, damit jede weiß, was sie zu tun hat …«

Vielleicht war alles umsonst – aber dann hatten sie ihre letzten Stunden wenigstens nicht in panischer Angst verbracht, sondern gehandelt. Die Äbtissin gab auch den Alten und den Mädchen ihre Aufgabe, sie sollten in der Kirche um Gottes Hilfe beten und die Stundengebete für alle anderen halten, denn keine der Nonnen durfte die Aufgabe vernachlässigen, die die Äbtissin ihr anvertraut hatte.

»Und zuletzt benötige ich vier Frauen, die durch die Hintertür des Klosters schlüpfen und auf getrennten Wegen versuchen, die Burg Schwerin zu erreichen, um den Grafen zu bitten, dem Kloster mit seinen Rittern zu Hilfe zu kommen.«

Es war wohl die gefahrvollste Aufgabe, denn die Frauen würden in die Dunkelheit der Nacht geraten, und im Wald warteten nicht nur die Slawenkrieger, sondern auch höllische Geister und wilde Tiere auf sie. Aber abgesehen von dem Vertrauen auf Gottes schützende Allmacht, war dies die einzige wirkliche Hoffnung, die das Kloster hatte. Die Äbtissin wählte die Frauen sorgfältig aus. Die große, schweigsame Kundula, die wendige Tessania, die kleine, drahtige Eufrasia und …

»Ich werde auch gehen!«, rief da eine sanfte, helle Stimme aus dem Hintergrund des Refektoriums.

Die Äbtissin erschrak. »Nein, Regula. Du nicht. Du bist zu schwach, um die Strapazen des Weges zu ertragen.«

War sie nicht gerade eben noch krank und verwirrt gewesen? Jetzt ging sie aufrecht und mit raschen Schritten zwischen den anderen Frauen hindurch und warf sich der Äbtissin zu Füßen.

»Ich erbitte um Christi willen diese Gnade für mich, ehrwürdige Mutter. Denkt daran, dass man mich auf der Burg kennt. Man wird mich einlassen, und mein Vater wird mich anhören.«

Die Äbtissin schwankte. Es war mehr als fraglich, ob Regula Schwerin überhaupt erreichte. Auf der anderen Seite: Welches Schicksal erwartete das Mädchen, wenn es hier im Kloster blieb?

»Geh mit Gott«, sagte sie leise und beugte sich vor, um Regula vom Boden aufzuhelfen. Als das Mädchen vor ihr stand, glitt der Novizinnenschleier von ihrem Haupt, und das schöne, seidige Haar, das erst geschoren werden würde, wenn sie endgültig in den Orden eintrat, floss über ihre Schultern. Die Äbtissin schloss die Arme um die Novizin und küsste sie auf die Stirn.

»Geh mit Gott, Regula. Möge er seine schützende Hand über dich halten und dich heil nach Schwerin gelangen lassen.«

»Gottes schützende Hand und Eure Liebe, ehrwürdige Mutter«, flüsterte Regula mit geschlossenen Augen. »Beides wird mich sicher geleiten.«

Die Äbtissin segnete jede einzelne der vier Frauen, als sie jedoch über den Hof zu der geheimen Pforte bei der Kirche strebten, hingen ihre Augen nur an Regula, die leichtfüßig neben den anderen herging. Nur um dieses Mädchen blutete ihr Herz, nichts auf dieser Welt ersehnte sie mehr, als Regula wieder in ihrer Nähe zu haben, den steten Blick ihrer Augen zu spüren, ihre schöne, helle Stimme zu hören.

Es ist Sünde, dachte sie. Teuflisches Blendwerk. Verbotene Leidenschaft. Vielleicht bin ich Sünderin die Ursache für alles, was Gott der Herr über unser Kloster verhängt hat. Es blieb ihr keine Zeit, weiter über diesen Punkt nachzudenken, denn eine der jungen Frauen kam über den Hof ins Refektorium gelaufen.

»Sie sind da!«, stammelte sie. »Stehen vor dem Tor. Mit Speeren und Pfeilen. Gott sei uns gnädig, ehrwürdige Mutter!«

»Sie stehen vor dem Tor?«

»Einer nur«, vermeldete die Nonne aufgeregt. »Aber er hat einen Ziegenbock dabei, der einen Karren zieht.«

Die Äbtissin begab sich zur Pforte, schob die Luke auf und erblickte den Slawen Bogdan.

»Lass Bogdan ein, Herrin«, stammelte er. »Rasch Tor auf. Feinde überall. Ich bringe gute Waffen.«

Tatsächlich lagen auf dem Karren mehrere große Bogen und mit Pfeilen gefüllte Köcher. Auch hölzerne Schilde und drei Helme aus hartem Leder waren darunter. War das ein Hinterhalt? Wollte Bogdan erreichen, dass sie das Tor öffneten, um dann seine Slawenbrüder herbeizuwinken, damit sie das Kloster im Sturm eroberten?

»Woher hast du die Sachen?«

Er machte eine ungeduldige Bewegung und sah über die Schulter in den Wald hinein.

»Gestohlen für Kloster. Müssen schützen meine kleine Herrin.«

Er sprach von Regula, die er wie eine Heilige verehrte. Die Äbtissin war noch nicht überzeugt. Das Tor zu öffnen war gefahrvoll, wenn der große Balken, der das Tor verbarrikadierte, einmal weg war, konnte man ihn nur mühsam wieder an seinen Platz heben.

»Du willst Regula schützen? Kannst du denn mit Pfeil und Bogen umgehen?«

In diesem Augenblick glitt etwas lautlos durch die Luft und blieb im Holz der Klosterpforte stecken. Ein Pfeil.

»Mach auf, sonst Bogdan tot und alle Waffen wieder bei Feind.«

»Schnell!«, rief die Äbtissin und fasste selbst mit an. Der Balken war schwer, sie brachten ihn zu dritt nur mit Mühe aus der Halterung. Knarrend öffneten sich die Torflügel einen Spalt, sodass Bogdan mit Ziegenbock und Karren hindurchgelangte. Sobald er drin war, half der Slawe, das Tor so schnell wie möglich wieder zu schließen.

»Bogdan zeigt euch!«, rief er und hob einen der Bogen vom Karren. »Nicht schwer. Hier Pfeil hinein. Bogen spannen, fest, mit starke Kraft. Dann loslassen. Andere Frau muss Schild vor dich halten, sonst du von Slawenpfeilen tot.«

Er hatte wohl noch nie eine so lange Rede gehalten, doch nun erklärte er den Nonnen eifrig, wie sie mit Bogen und Pfeil umzugehen hatten, zeigte ihnen, wie man den Pfeil einlegte, man das Ziel anvisierte, den Bogen spannte …

Staunend sahen ihm die Nonnen zu, doch als er einer der Frauen den Bogen in die Hand drücken wollte, wich sie angstvoll zurück. Steine sammeln, die als Wurfgeschosse dienen sollten, das war Frauenwerk. Aber mit einem Bogen schießen – das stand einer Frau nicht an, schon gar nicht einer Klosterfrau.

»Gib her!«

Die Äbtissin griff nach dem Kampfgerät, legte den Pfeil ein und mühte sich, den Bogen zu spannen. Es ging unfassbar schwer, jetzt begriff sie, weshalb sich die Knappen und auch die Ritter täglich im Kampf übten.

»Nimm andere Arm«, riet Bogdan. »Und nicht zielen auf Nonnen. Besser auf Dach von Scheune.«

Ihr Pfeil erreichte immerhin das strohgedeckte Scheunendach und blieb darin stecken. Audacia verteilte die Bogen an ihre Frauen, die die Waffen mit vorsichtigen Händen entgegennahmen.

»Schießen Pfeil, wenn Mann steigt über die Mauer«, erklärte Bogdan. »Aber achtgeben, sie auch Pfeile schießen.«

Vom Kirchturm her erklang ein schriller Ruf.

»Sie kommen. Von der Seite beim Karpfenteich. Drei sind schon auf der Mauer!«

Bogdan eilte mit Bogen und Köcher voran, die Äbtissin und einige ihrer Frauen folgten. Der Kampf begann. Er sollte bis zum Nachmittag des folgenden Tages dauern, zahlreiche Opfer fordern und später in die Chronik des Klosters eingehen. So wie auch andere Vorgänge, die noch zu erzählen sind.

Am Anfang stand Erfolg. Sie verschossen mehrere Pfeile gegen die drei Gestalten, die die Klostermauer erklommen hatten, aber auf der anderen Seite schlecht herunterklettern konnten, denn dort grenzte der Karpfenteich an die Mauer. Wer die tödlichen Geschosse versendet hatte, war nicht klar, doch die Äbtissin vermutete, dass es in allen drei Fällen Bogdan gewesen war, der sich trotz seiner krumm zusammengewachsenen Knochen als guter Bogenschütze erwies.

»Sie sind in den Teich gefallen«, rief eine der Nonnen. »Wir müssen sie herausziehen, sonst verderben uns die Karpfen.«

»Später!«, befahl die Äbtissin.

Es war ein ungleicher Kampf, nur die dicke Mauer in doppelter Manneshöhe bewahrte die Nonnen vor dem sofortigen Untergang. Der Wald hallte wider vom Kriegsgeschrei der slawischen Angreifer, die sich die Einnahme des Frauenklosters wohl leichter vorgestellt hatten, nun aber mit doppelter Wut auf die Mauern einstürmten. Doch die Frauen lernten den Gebrauch der Waffen rascher, als sie selbst geglaubt hätten, und die jungen Novizinnen waren eifrig damit beschäftigt, die Pfeile der Feinde, die im Kloster gelandet waren, einzusammeln und zu den Schützinnen zu tragen. Weil die Slawen sie mit lautem Gebrüll entmutigen wollten, befahl die Äbtissin den alten Frauen, die beiden Glocken des Klosters ohne Unterlass zu läuten. Wo immer sich Kopf oder Arm eines Slawen über der Klostermauer zeigte, da wurde er mit harten Steinwürfen und mit Pfeilen empfangen, gelang es ihm dennoch, die Mauer zu überwinden, so drangen die Frauen mit Spießen und Töpfen voll siedendem Wasser auf ihn ein. Als die Dämmerung einsetzte und die wütenden Angriffe endlich nachließen, lag der Hof des Klosters voller Leichen, und zwischen ihnen stöhnten die Verwundeten. Die meisten waren slawische Kämpfer, aber es waren auch dreizehn Nonnen unter den Toten, die den Pfeilen der Feinde zum Opfer gefallen waren. Die Äbtissin befahl, die toten Männer über die Mauer zu werfen und die verwundeten Krieger ins Siechenhaus zu bringen. Die Frauen, die Verletzungen davongetragen hatten, trug man ins Dormitorium, wo sich die kräuterkundigen Nonnen ihrer annahmen. So brach die Nacht herein.

»Werden sie im Schutz der Dunkelheit das Kloster erneut angreifen?«, fragte die Äbtissin Bogdan.

Bogdan, der Slawe, war ihr Anführer im Kampf geworden, er hatte ihnen den Gebrauch der Waffen gezeigt, sie ermutigt und angefeuert, und er hatte selbst nicht wenige seiner Stammesbrüder zur Hölle geschickt. Warum er das getan hatte, wusste die Äbtissin nicht, aber sie hatte begriffen, dass Bogdan einen tiefen Zorn gegen seine Landsleute in sich trug. Nie hatte er ihnen erzählt, wer ihm seinerzeit die Glieder so brutal gebrochen hatte, aber die Äbtissin vermutete, dass die Heiden auf diese Weise Gericht übten. Er war ein Verurteilter – doch welches Verbrechen er begangen hatte, würden sie wohl nie erfahren.

»Wenn Nacht, nicht kämpfen. Kommen am Morgen, früh, wenn erste Licht am Himmel scheint. Jetzt schlafen, aber Wache halten. Erste Licht ist erste Kampf!«

Die Äbtissin dankte ihm und bot ihm Speisen an, die die Frauen in aller Eile zubereitet hatten. Bogdan aß nur ein paar Löffel Gerstenbrei und trank Wasser dazu. Dann wollte er wissen, wo die kleine Herrin war.

»Sie ist unterwegs zur Burg Schwerin.«

Er schwieg. Eine Weile saß er auf dem Boden des Refektoriums, die Schale mit Brei zwischen den Knien, den Blick auf die Nonnen gerichtet, die ihr Mahl einnahmen, während eine von ihnen mit leiser, singender Stimme Psalmen rezitierte. Dann stand er plötzlich auf, verließ das Refektorium und verschwand in der Dunkelheit des nächtlichen Klosterhofs.

»Er will wohl in der Scheune unter dem Heu schlafen«, vermutete eine der Nonnen.

Die Äbtissin schwieg, um die Frauen nicht zu entmutigen, aber sie wusste, dass Bogdan das Kloster durch die geheime Pforte verlassen hatte, um Regula zu finden und sie zu schützen. Die Klosterfrauen waren nun allein auf sich und Gottes Barmherzigkeit angewiesen.

Die Nacht verging schneller als erhofft. Die Frauen waren erschöpft, dennoch fiel es ihnen schwer, Schlaf zu finden. Gar zu grausam waren die Geschehnisse, die an diesem Nachmittag in ihr bisher so ruhiges, geregeltes Dasein eingebrochen waren. Manche von ihnen dachten auch, dass sie morgen, genau wie ihre Mitschwestern, den Tod erleiden würden, und wollten ihre letzten Stunden lieber im Gebet als schlafend verbringen. Jene, die verwundet waren, kämpften mit ihren Schmerzen, und ihre Pflegerinnen wachten, um ihnen beizustehen. Andere, vor allem die jungen Mädchen, die gute Augen hatten, standen abwechselnd auf dem Kirchturm und starrten in die Dunkelheit, ob nicht irgendwo eine brennende Fackel zu sehen war, die auf einen nächtlichen Angriff hindeutete. Aber alles, was sie entdecken konnten, war ein rötlicher Schein, der in weiter Ferne über dem Wald lag. Dort war das Lager der Feinde.

Zur gewohnten Nachtstunde rief die Priorin die Frauen zur Vigil, und sie trugen die verwundeten und sterbenden Nonnen in die Kirche, damit sie noch einmal das Lob Gottes und die Psalmen hörten. Dann befahl die Äbtissin den Frauen zu schlafen, nur die Wächterinnen auf dem Kirchturm waren davon ausgenommen.

Das erste bläuliche Morgenlicht zeigte sich kaum über dem Wald, da schlug die Novizin auf dem Turm auch schon Alarm.

»Sie kommen!«

Doch da kein Krieger auf den Mauern erschien, lief die Äbtissin hinüber in die Kirche, um ebenfalls auf den Turm zu steigen.

»Was tun sie?«

Es waren nur wenige Krieger, die geduckt vor dem Tor hin und her liefen, einige schützten sich mit ihren hölzernen Schilden, andere, die mutiger waren, vertrauten darauf, dass die Nonnen ihnen nichts tun würden.

»Sie tragen ihre Toten fort«, stellte die Äbtissin fest. »Das ist sehr anständig, wenn man bedenkt, dass es Heiden sind.«

»Und was sind das für seltsame Bündel, die sie herbeigetragen haben?«, wollte die Novizin wissen.

Die Augen der Äbtissin brannten von der Anstrengung, die schwache Morgendämmerung zu durchdringen. Aber die Tränen, die ihr jetzt die Wangen herabliefen, hatten darin nicht ihre Ursache. Es war ihr Herz, das sich vor Sorge und Schmerz zusammenzog.

»Es sind unsere Frauen, die aufgebrochen waren, am Hof in Schwerin um Beistand zu ersuchen.«

Durch die Luke der Pförtnerin sahen sie die leblosen Körper vor dem Tor liegen. Glieder und Köpfe, zerrissene Gewänder, nackte Beine, mit Blut besudelt. Der Anblick war so schrecklich, dass die Äbtissin alle Vorsicht vergaß und befahl, das Tor zu öffnen, um die getöteten Frauen ins Kloster zu tragen. Die Feinde waren barmherzig, sie nutzten die Lage nicht zu einem Angriff. Vielleicht deshalb, weil sie nur allzu sicher waren, das Kloster noch an diesem Tag in ihre Gewalt zu bringen.

In der Kirche legten sie die Frauen vor den Altar, wo auch schon die anderen Märtyrerinnen aufgebahrt waren, bedeckten ihre geschändeten Leiber mit Tüchern, und die Äbtissin sprach die Totengebete. Kundula, Tessania und Eufrasia hatten den Befehl der Äbtissin getreulich befolgt, aber Gott hatte ihren Tod durch die Hand der Heiden beschlossen. Das war schwer zu verstehen, doch Gottes Rat war unergründlich, kein irdisches Wesen hatte das Recht, daran zu deuten oder zu zweifeln.

Regula war nicht unter den Toten, worüber die Äbtissin eine große Erleichterung verspürte. Vielleicht hielt Gott der Herr seine schützende Hand über das Mädchen, vielleicht hatte Bogdan sie gefunden und führte sie auf geheimen Wegen nach Schwerin. Viel wahrscheinlicher aber war, dass ein wildes Tier sie getötet hatte. Oder sie war unterwegs vor Schwäche zusammengebrochen und wartete im Dickicht des Waldes hilflos auf ihr Ende.

Wenn sie doch bei ihr sein könnte, um gemeinsam mit ihr zu sterben! Aber die Äbtissin glaubte zu wissen, dass sich ihr eigener Tod noch heute hier im Kloster vollziehen würde, er würde grausam und schändlich sein, aber warum sollte es ihr besser gehen als den armen Frauen, die ihrem Befehl gefolgt und in den Tod gegangen waren?

»Ist es nicht klüger, das Tor zu öffnen und uns zu ergeben, als weiterzukämpfen?«, fragte eine der Nonnen. »Sterben müssen wir in jedem Fall, doch so laden wir keine Schuld auf unsere Seelen.«

Sie erhielt Zustimmung von einigen Frauen, aber die Äbtissin wies sie zornig zurück.

»Seht, was sie unseren Schwestern angetan haben«, sagte sie und zeigte auf die Toten. »Wollt ihr das schweigend hinnehmen und euch selbst als Zugabe darbringen?«

»Gott der Herr wird über sie richten!«, hielt ihr die Priorin entgegen, die offenbar mit ihrem irdischen Dasein abgeschlossen hatte. »Es ist seine und nicht unsere Sache, ehrwürdige Mutter.«

Es gab auch den Vorschlag, das Heu und Stroh in die Kirche zu tragen und anzuzünden, damit sie alle gemeinsam in den Flammen sterben konnten. Dies lehnten die meisten ab, weil es eine Sünde war, sich selbst den Tod zu bereiten. Außerdem fürchteten sie das Feuer noch mehr als die Slawen.

»Schluss damit!«, schalt die Äbtissin. »Der Morgen ist angebrochen – jede geht auf den Platz, den ich ihr angewiesen habe. Gott ist mit uns – was auch immer geschieht, wir leben und wir sterben in Namen unseres Herrn!«

Der Abschiedssegen fiel kurz aus, denn in diesem Augenblick hörte man einen gellenden Schrei vom Kirchturm.

»Sie kommen! Es sind ganz viele, sie kommen von allen Seiten, und sie haben …«

Die Novizin verstummte, als ein Pfeil durch die Luke des Turms schoss und sich in ihre Brust bohrte. Sie fiel rücklings durchs Gebälk, die Nonnen hörten ihren Körper dumpf auf den steinernen Turmboden aufschlagen. Einen Augenblick später erklommen mehrere Männer beim Apfelgarten die Mauer und sprangen in den Klostergarten hinunter. Sie wurden mit Pfeilen empfangen, zwei sanken zu Boden, die anderen waren mit festem Leder gepanzert, von dem alle Pfeile abprallten. Mordlüstern eilten sie auf die Bogenschützinnen zu, während weitere Krieger über die Mauer stiegen. Eine Salve brennender Pfeile setzte das Dach der Scheune in Brand, rote Flammen züngelten empor, färbten den Himmel noch vor der Morgenröte mit blutigem Schein und sprangen gierig auf die Dächer der Werkstätten und des Siechenhauses über. Die Bogenschützinnen fielen unter den Schwerthieben der Angreifer, andere flohen und wollten in der Kirche Schutz suchen, doch sie wurden von weiteren Slawen, die über das Tor gestiegen waren, aufgehalten. Das Kampfgeschrei der Heiden gellte der Äbtissin in den Ohren. Sie bahnte sich einen Weg über den Hof, entschlüpfte einem Krieger, der sie an ihrem Habit festhalten wollte, und eilte in den Turm. Hastig stieg sie die schmale Leiter ins Gebälk hinauf, fasste die Glockenseile und zog daran. Wenn das Kloster schon unterging, dann sollte es beim Klang seiner Glocken sein, die das Siegesgeheul der Heiden übertönten.

Aber noch bevor sie die beiden großen Glocken zum Klingen bringen konnte, vernahm sie den fernen Ton. Lang gezogen und kraftvoll durchschnitt ein Signalhorn die klare Morgenluft. Dort, wo die Sonne jetzt in grellem Licht die Wolken teilte, flatterten aufgeschreckte Vögel aus dem Gezweig der Buchen auf. Reiter näherten sich dem Kloster.