Cornelia

Sie war wohl doch nicht der Typ für Urlaub am Meer, zumindest nicht zur Hauptsaison im Hochsommer. Was war erholsam daran, in einem Strandkorb zu sitzen, in der Sonne zu schmoren und sich dabei tierisch zu langweilen? Das Meer? Nun ja, ganz nett, kleine Wellen, Wasservögel, ein paar Muscheln. Wenig Abwechslung, eigentlich sah es immer gleich aus. Als sie nach Walters Geburtstag nach Binz gereist war, hatte sie die Auszeit genossen – es war längst nicht so viel los gewesen wie jetzt, und sie hatte lange Wanderungen durch die Dünen und entlang der berühmten Kreidefelsen unternommen. Jetzt war es zu heiß dafür. Jetzt konnte man nur noch am Strand liegen und ab und an Abkühlung im Wasser suchen. Ihr Konzept für Schulz & Kundermann, momentan der größte Auftraggeber der Unternehmensberatung Schindler, hatte großen Anklang gefunden, doch die Umsetzung hatte ihre Tücken, so dass sie beschlossen hatte, ihre vielen Überstunden abzubauen und noch einmal Urlaub zu machen, bevor sie wieder richtig ranklotzte. Hoffentlich machten die ehrgeizigen Jungspunde während ihrer Abwesenheit keinen Unsinn! Sie hatte ihnen die Nummer vom Seehotel in Binz gegeben und dringend darum gebeten, dass man sie anrief, sollten irgendwelche Unklarheiten auftauchen.

Ihr Blick schweifte über die Urlauber, die den Strand in dichten Scharen bevölkerten: übergewichtige Mamis, kreischende, zappelnde Kinder, Männer in zu engen Badehosen, über die der Bauch hing. Keine Augenweide. Gestern war sie ein wenig auf der Insel herumgefahren, um sich noch einmal die berühmten Kreidefelsen anzusehen und auf den Leuchtturm am Kap Arkona zu steigen, um oben mit hängender Zunge und rasendem Puls die dunstverhangene Umgebung zu betrachten. Diesmal war sie umgeben gewesen von kamerabewaffneten Touristen, alle drängelten und rempelten, um die besten Motive für ihre Urlaubsbilder zu finden – erholsam hatte man das nicht nennen können.

Nein, die Hochsaison käme für sie nicht mehr in Frage. Auch der Strandkorb, den sie in ihrem Übereifer für zwei Wochen gemietet hatte, war nicht das, was sie sich davon versprochen hatte. Die Sitze waren hart, immer voller Sandkörner, und die Fußstützen klemmten hinterhältig, wenn sie versuchte, sie herauszuziehen. Aber wenigstens erlaubte der Strandkorb ein gewisses Maß an Intimsphäre. Es war schon unglaublich, wie ungeniert die johlende Menschheit sich hier breitmachte. Bälle flogen einem auf den Bauch, Wurfringe zischten vorüber, kleine nackte Kinder pieselten direkt neben ihrem Strandkorb in den Sand. Gestern hatte sie sich heftig mit einer überbesorgten Mutter von drei missratenen Blagen herumgestritten, und dann kam auch noch der Ehemann aus dem Strandkorb gekrochen, der glaubte, seine Sippe verteidigen zu müssen. Kinder seien unsere Zukunft, behauptete er. Bezahlten unsere Renten. Wenn sie keine Kinder leiden könne, solle sie doch im Sanatorium Urlaub machen. Nun ja, da waren sie an die Falsche geraten. Sie hatte ihnen einen kurzen, aber lautstarken Vortrag über die Erziehung zu Respekt und Rücksichtnahme gehalten, da hatten sich die beiden schließlich grollend davongemacht.

Ach, sie war einfach schlecht drauf. Diese Hitze und das Geschrei ringsum strapazierten ihre Nerven, und die Aussicht, sich noch über eine Woche hier langweilen zu müssen, machte die Sache nicht besser. Sie überlegte, ob sie sich eine Currywurst mit Pommes am Wagen holen sollte oder nur ein Eis am Kiosk. Vielleicht besser ein Eis und dazu eine Cola – bei dieser Hitze brauchte man Flüssigkeit. Sie suchte ihre Geldbörse heraus, in die sie vorsorglich nur einen kleinen Betrag gesteckt hatte – man hörte immer wieder von Diebstählen in unbewachten Strandkörben. Kaum hatte sie sich auf den Weg zum Kiosk gemacht, ertönte schon wieder Geschrei am Strand.

»Jetzt lass mich endlich los, Mama! Ich will alleine!«

»So klappt das aber nicht. Du musst dich draufsetzen.«

»Neiiiin! Das tut dem Fisch weh, ich schwimme hinter ihm her!«

»Dann tragen die Wellen dein neues Schwimmtier davon.«

Ach diese Mütter, dachte Cornelia. Immer am Nörgeln. Soll sie das Teil doch wegschwimmen lassen, dann hat das Mädel etwas Entscheidendes fürs Leben gelernt.

Sie schaute hinüber zum Strand und entdeckte Mutter und Kind, außerdem einen großen hellblauen Plastikdelfin, der auf dem Wasser schaukelte. Hübsch sahen die beiden aus, die Mutter gertenschlank im grünen Bikini, der gut zu ihrem roten Haar passte. Auch das Mädel hatte rotes Haar, die Farbe des Badeanzugs konnte man nicht erkennen, weil die Kleine im Wasser planschte. Jetzt ließ die Mutter das blaue Streitobjekt los und richtete sich auf, stemmte die Arme in die Hüften und verfolgte das Tun ihrer Tochter.

»Schwimm aber nicht zu weit raus, Julchen!«

Cornelia blieb stehen und überlegte, ob sie sich am Ende einen Sonnenstich eingehandelt hatte. Warum sollte ihre Tochter Jenny, die sich auf Walters Geburtstag ihr gegenüber so unfreundlich benommen hatte, hierher nach Rügen kommen? Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, eilte an zwei auf Badetüchern schmorenden Frauen vorbei, dann stellte sie fest, dass sie weder einen Sonnenstich hatte noch einer Wahnvorstellung anheimgefallen war. Es war tatsächlich Jenny, die jetzt mit kühnem Sprung in die Wellen tauchte, um den davoneilenden Delfin einzufangen. Woher konnte das Mädel nur so gut schwimmen? Von ihr hatte sie das nicht.

Die kleine Julia machte ebenfalls ein paar Schwimmzüge, dann richtete sie sich auf, blieb in den Wellen stehen und sah dem Tun ihrer Mutter mit zornverkniffenem Gesicht zu. Jetzt kehrte Jenny mit dem blauen Delfin zurück, den sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Sie wollte ihn gerade der Kleinen zuwerfen, als sie Cornelia am Strand entdeckte.

»Hi, Mama!«, rief sie und winkte. Sie wirkte wenig erstaunt, ihre Mutter hier zu sehen.

Cornelia hob langsam die Hand, um zurückzuwinken. In ihrem Kopf wirbelten die unterschiedlichsten Mutmaßungen durcheinander. Ein Zufall? Ein Überfall? Eine Notlage? Jetzt kam auch Julchen aus dem Wasser, spuckte aus und wischte sich den Mund mit dem nassen Handrücken.

»Das schmeckt salzig, Mama!«

»Ist ja auch Meerwasser. Schau mal, da ist die Oma.«

Jenny zeigte in ihre Richtung. »Wir sagen ihr jetzt mal Guten Tag.«

Während Jenny mit dem Delfin unter dem Arm auf sie zulief, entschied sich Cornelia dafür, die Sache unbefangen anzugehen.

»Na, so was!«, rief sie ihrer Tochter entgegen. »Macht ihr beiden etwa Urlaub hier?«

»Nee, das nicht«, sagte Jenny. »Wir sind mal schnell rübergefahren, Julchen und ich. Weil sie noch nie in der Ostsee geschwommen ist.«

Cornelia sah ihre Tochter skeptisch an. Die Sache war höchst merkwürdig. Aber eigentlich auch schön. Sie lächelte ihre Enkelin an.

»Du kannst ja schon richtig gut schwimmen, Julia!«

Die Kleine nickte. Das Lob beeindruckte sie nicht. Sie musterte Cornelia mit schmalen Augen und strich sich das feuchte Haar aus dem Gesicht, weil es kitzelte.

»Du bist ziemlich dick, Oma«, sagte sie. »Fast so dick wie Sonja.«

Cornelia fand, dass dieses Kind noch einiges zum Thema Höflichkeit und Respekt zu lernen hatte.

»Es gibt eben dünne und dicke Leute …«

»Ich mag dicke Leute«, unterbrach sie die Enkelin. »Weil man sich da so schön ankuscheln kann.«

Was für ein bezauberndes Kinderlächeln. Oben rechts fehlte schon ein Zahn. Der Badeanzug war hellblau und hatte dunkelblaue Streifen.

»Ich habe einen Strandkorb«, prahlte Cornelia. »Wollen wir uns da hineinsetzen?«

Enkelin Julia riss die Augen auf vor Begeisterung.

»Jaaaaa!«

Sie hüpfte auf der Stelle, dann lief sie eifrig neben Cornelia her, während sie sich einen Weg durch die sonnenbadenden Urlauber bahnten. Jenny, die ihnen mit dem blauen Delfin folgte, zog die Blicke vieler, vor allem männlicher Badegäste auf sich. Tatsächlich hatte sie eine unverschämt hübsche Tochter in die Welt gesetzt, dachte Cornelia. Das rote Haar kam aus der von Dranitz’schen Linie. Ihre Großmutter Margarethe, die Ende der 1960er-Jahre gestorben war, hatte auch rotes Haar gehabt. Zumindest hatte ihre Mutter das erzählt, Oma Margarethe war, soweit sie sich erinnern konnte, grauhaarig gewesen.

»Der da?«, rief die Enkelin ein ums andere Mal und zeigte auf verschiedene Strandkörbe.

»Nein, der nicht, Julia. Weiter hinten. Noch ein kleines Stück …«

»Ich heiße nicht Julia. Ich heiße Julchen!«

»Entschuldigung. Ich habe gedacht, du wärest jetzt schon groß, und ich dürfte dich Julia nennen.«

»Ich bin groß«, stellte die Enkelin klar. »Aber trotzdem bin ich Julchen. Kannst du dir das merken, Oma?«

Ihre süße rothaarige Enkelin hatte einen ganz ordentlichen Befehlston am Leibe. Sie schenkte sich die Antwort und deutete stattdessen auf ihren Strandkorb, der jetzt zwischen zwei anderen Körben sichtbar wurde.

»Da drüben, siehst du? Der mit dem gestreiften Badetuch.«

»Hurra! Unser Strandkorb!«, jubelte die Kleine und stürmte davon, um das geflochtene Refugium in Besitz zu nehmen.

Im Gegensatz zu ihrer Tochter war Jenny recht wortkarg geblieben. Cornelia vermutete, dass sie sich die passenden Sätze zurechtlegte, um diesen Überraschungsbesuch zu erklären, und sie war neugierig, was sie zu hören bekommen würde. Jenny ließ sich Zeit. Wies erst einmal energisch die Tochter zurecht, denn Julia hatte es sich quer auf dem Sitz bequem gemacht, wobei der an ihren nackten Füßen haftende Sand auf das gestreifte Badetuch rieselte.

»Setz dich bitte so, dass wir auch Platz haben!«

Zu dritt war es etwas eng im Korb, was jedoch niemanden störte. Jenny lehnte sich zurück und schloss die Augen; wie es schien, wollte sie erst einmal ein Sonnenbad nehmen. Julia erzählte, dass sie noch nie in ihrem Leben in einem Strandkorb gesessen habe und dass es »ganz toll« sei.

»Schläfst du auch hier drin, Oma?«

»Nein. In der Nacht schlafe ich in einem Hotelzimmer. Siehst du das große Gebäude da drüben? Das ist das Seehotel Binz.«

»Bist du das erste Mal nicht in einer Pension abgestiegen?«, wollte Jenny wissen.

»Doch, doch, aber die war zur Hauptsaison längst ausgebucht; da hab ich mir dort ein Zimmer gegönnt – volles Verwöhnprogramm zum Ausspannen.«

»Und wenn du Hunger hast, was machst du dann?«, fragte Julchen.

»Dann gehe ich im Hotelrestaurant essen. Ich habe mit Halbpension gebucht.«

»Und wenn du zwischendurch was brauchst?«, hakte Julchen nach. »Ich habe eigentlich immer Hunger.«

»Dann hole ich mir eine Currywurst mit Pommes oder ein Eis. Drüben am Stand.«

Jenny öffnete die Augen, weil sie die nun folgende Frage wohl vorausahnte, und sah ihre Tochter an.

Die Frage ließ nicht lange auf sich warten. »Holst du mir auch eine Currywurst, Mama?«

»Dann müssen wir zum Auto zurück, Julchen. Weil ich da mein Portemonnaie habe.«

»Na ja«, meinte Cornelia und griff nach ihrer Tasche. »Da will ich mal spendabel sein. Kann doch nicht zusehen, wie meine einzige Enkeltochter elendig verhungert. Da!«

Schau an, sie konnte richtig wohlerzogen sein, die Kleine. Nahm die fünf Mark, strahlte sie an und sagte: »Danke schön, Oma. Soll ich dir auch was mitbringen?«

»Nett von dir. Aber ich hab gerade keinen Hunger.«

»Bin gleich wieder da!«

Damit stapfte sie durch den Sand davon. Jenny lehnte sich wieder zurück und blinzelte in die Sonne. Cornelia wartete geduldig. Und tatsächlich kam jetzt der erste Versuch.

»Du hast dich sicher gewundert, dass wir beide so plötzlich hier auftauchen, nicht wahr?«

»Hm«, machte Cornelia.

»Ich wollte mal mit dir reden.«

Cornelia hängte das gestreifte Badetuch an das geflochtene Dach, um Schatten zu haben. Dann lehnte auch sie sich zurück.

»Worüber?«, fragte sie.

»Ach, nur so, ganz allgemein«, stotterte Jenny. »Wir hatten ja eine ziemlich lange Funkstille …«

»Stimmt.«

Die karge Unterhaltung kam ins Stocken. Cornelia machte sich Vorwürfe, sie hätte freundlicher sein müssen. Entgegenkommender. Der Tochter Brücken bauen, aber so etwas lag ihr halt nicht. Da musste sie immer erst über ihren Schatten springen.

»Und jetzt möchtest du reden?«, fragte sie und sah zu Jenny hinüber.

Die setzte sich auf und rieb sich die Oberarme.

»Hast du Sonnencreme?«

»In der Tasche. Die braune Flasche.«

Ein Ablenkungsmanöver. Jenny musste offensichtlich ebenfalls über ihren Schatten springen. Sie kramte das Sonnenöl aus Cornelias Badetasche und schmierte sich damit ein. Nun ja, sie hatte eine helle, sonnenempfindliche Haut. Da hätte sie eigentlich selbst an Sonnencreme denken müssen.

»Also, das ist so«, begann Jenny und schraubte die Flasche wieder zu. »Ich war neulich bei Walters Geburtstag etwas unfreundlich zu dir. Das tut mir leid. War nicht böse gemeint. Du weißt ja, wie das so ist: Man sagt etwas, und auf einmal klingt es ganz anders, als man es gemeint hatte.«

»Verstehe. Ich bin nicht nachtragend, Jenny. Vergessen wir’s.«

Wieder schwiegen sie. Jenny beschattete die Augen mit der Hand, um nach Julia Ausschau zu halten, Cornelia überlegte, ob sie nicht mit ihrem »Vergessen wir’s« zu voreilig gewesen war. Sie wollte sich nicht anbiedern, auch sie hatte ihren Stolz. Jennys patzige Bemerkung hatte sie durchaus verletzt.

»Vielleicht schaffen wir es ja in Zukunft, etwas freundlicher miteinander umzugehen«, sagte sie.

Jenny nickte. Keineswegs freudige Entschlossenheit, eher schwache Zustimmung. Cornelia wurde langsam ungeduldig. Gleich käme die Kleine mit ihrer Currywurst zurück, und dann könnten sie das Gespräch vergessen.

»Wie läuft’s denn so auf dem Gutshof?«, erkundigte sich Cornelia, um das Gespräch voranzutreiben.

»Nicht so toll«, sagte Jenny. »Leider.« Dann endlich brach es aus ihr heraus. Auf Dranitz und bei den Verwandten stand es überhaupt nicht gut, ganz im Gegenteil. Bernd hatte aufgegeben, der Tiergarten steckte in den roten Zahlen, dem Gutshausrestaurant war der Koch weggelaufen, und sie hatten bisher keinen Ersatz für Bodo Bieger gefunden. Auch wühlten die Archäologen immer noch im Keller herum. Und zu allem Überfluss war Ullis Freund und Geschäftspartner gestorben, und es gab Ärger mit der Verwandtschaft, die mit ihrem Erbe nicht zufrieden war.

»Und Kacpar, den wir so nötig für die anstehenden Umbauten im Keller brauchen, will jetzt selbst ein Gutshaus in der Nähe kaufen und restaurieren«, setzte Jenny noch eins obendrauf und tippte sich dabei an die Stirn. »Wahrscheinlich will er ein Hotel mit Restaurant daraus machen. So etwas Hirnverbranntes! Nimmt der uns auch noch die letzten Gäste weg. Damit wir dann alle gemeinsam pleitegehen!«

Cornelia dachte an Kacpar Woronski, den schmalen Polen mit dunklem Haar und leuchtenden blauen Augen. Ziemlich schweigsam war er auf der Geburtstagsfeier gewesen.

»Warum macht er das?«

Jenny fing geschickt einen Wasserball auf, der dicht am Strandkorb vorüberflog. Ein braun gebrannter Junge näherte sich und wartete brav, bis Jenny sich entschloss, ihm das Geschoss zuzuwerfen.

»Warum?«, wiederholte sie dann Cornelias Frage und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Wahrscheinlich ärgert er sich, weil Oma ihn nicht als Teilhaber haben will.«

Natürlich! Mutters alter Adelsstolz. Der Gutshof derer von Dranitz durfte nicht in fremde Hände gelangen. Der musste an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben werden. Verschuldet oder nicht – Hauptsache, Familienbesitz. Das hatte sie schon immer an Franziska gestört. Kein bisschen Sinn für das Gemeinwohl. Immer nur von oben herab. Aber was regte sie sich auf? Schließlich kannte sie ihre Mutter zur Genüge.

»Hört sich nicht gut an«, meinte sie nachdenklich und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Ist halt momentan echt ’ne Durststrecke«, spielte Jenny die Lage herunter.

»Und was gedenkt Franziska dagegen zu tun?«

Jenny seufzte und kratzte sich an einem rot geschwollenen Mückenstich am Oberarm.

»Oma ist eine tolle Frau. Eine mutige Kämpferin. Ihren ganzen Besitz hat sie in dieses Gut gesteckt. Und wir haben ja auch eine Menge auf die Beine gestellt …«

»Hör auf zu kratzen«, unterbrach Cornelia angespannt. »Davon entzündet sich der Mückenstich nur noch mehr.«

Sie erntete einen bösen Blick und biss sich auf die Lippen. Wieso spielte sie nach so vielen Jahren auf einmal die besorgte Mama? Jenny war erwachsen.

»Es ist leider so, dass Oma Franziska inzwischen irgendwie müde geworden ist«, fuhr Jenny fort und strich mit der flachen Hand über ihren Arm. »Nicht dass sie gar nichts mehr tun würde, aber sie ist milder geworden. Hat weniger Biss. Steckt immer mit Opa Walter zusammen und lässt manches einfach schleifen.«

»Und du? Ich dachte immer, du und Franziska, ihr seid Partnerinnen. Hast du dich nicht um einen neuen Koch gekümmert und dich ans Amt für Denkmalschutz gewandt, damit endlich diese Ausgrabungen zum Abschluss kommen? Obwohl, dann habt ihr vermutlich gar keine zahlenden Gäste mehr …«

Jenny schnaubte.

»Und wieso hast du dich nicht durchgesetzt, diesen Kacpar betreffend? So ein Architekt ist Gold wert …«

»Ich kann mich doch nicht um alles kümmern!«, brauste sie auf. »Ich habe eine Tochter, und ich helfe Mücke im Kindergarten aus. Nebenbei schmeiße ich den Umbau, kümmere mich um den Betrieb, ach ja, das Abi hab ich ja auch noch nachgemacht!«

Sag es nicht, dachte Cornelia. Halt den Mund, es bringt nur Ärger.

Damit machst du nur alles … »Hättest du damals nicht die Schule abgebrochen …«, platzte es aus ihr heraus.

»Das war ja wohl klar, dass du mir das wieder aufs Brot schmieren würdest!«, fauchte Jenny. »Und damit du es weißt, Mama: Dass ich damals die Schule abgebrochen habe, war das ganz allein deine Schuld! Deinen verdammten Egoismus und deine Lieblosigkeit, die habe ich einfach nicht mehr aushalten können!«

»Mama?«

Jenny unterbrach sich, die zornig fuchtelnde Hand erstarrte in der Luft. Plötzlich stand Julchen vor ihr und stellte sich vor Cornelia, als müsse sie die Oma vor ihrer aufgebrachten Mama schützen.

»Mama, du schreist so laut, dass man es bis zum Würstchenstand hören kann!«

»Wo kommst du denn auf einmal her?«, fragte Jenny leicht verwirrt. »Und wo bist du die ganze Zeit gewesen?«

»Ich hab zwei Jungen getroffen, die haben einen großen Schwimmreifen, und wir haben Seepferdchen gespielt. Die waren die Pferdchen und mussten mich ziehen. Dafür habe ich sie dann gefüttert …«

Sie hatte die Currywurst und die leckeren Pommes mit dem Plastikgäbelchen in die hungrigen Münder der beiden Jungs gesteckt. Immer abwechselnd. Bis nichts mehr da war. Erstaunlich, wie Julchen alles und jeden für ihre Zwecke einspannen konnte. Dem Mädel steckte die lange Ahnenreihe der adeligen Gutsbesitzer im Blut.

»Und jetzt hab ich Hunger, Mama!«

Jenny reagierte sofort. »Wir wollen sowieso gerade gehen. Ich hab was zu essen im Auto. Nimm schon mal deinen Delfin, damit wir ihn nicht vergessen.«

Die Kleine machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Aber die Oma hat bestimmt auch Hunger. Da können wir doch alle zusammen …«

»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Julchen?«

Ihre hübsche, zarte Jenny-Tochter konnte richtig streng mit der kleinen Enkelin sein! Cornelia fühlte sich an ihre Kinderzeit erinnert, tatsächlich glich Jennys Stimme der von Franziska, die Cornelia noch gut im Ohr hatte. »Setz dich nicht aufs Sofa, ich habe gerade die Kissen aufgeschüttelt! Stoß doch nicht mit dem Fuß gegen das Klavier, das hat viel Geld gekostet! Warum ist die Küche nicht aufgeräumt? Ein junges Mädchen sollte frühzeitig lernen, wie man einen Haushalt führt …«

Auch Julia benahm sich wie eine echte von Dranitz. Dickköpfig stampfte sie mit dem Fuß im Sand auf.

»Aber ich hab die Oma sooo lange nicht gesehen!«

Jenny fasste den blauen Delfin an der Schwanzflosse und nahm die Tochter an die Hand.

»Ein andermal, Julchen. Heute haben wir keine Zeit. Ulli wartet doch auf uns.«

»Ich will aber nicht!«, brüllte das Kind.

Cornelia wusste, dass sie jetzt springen musste. Einen weiten, hohen Sprung über ihren eigenen Schatten. Es war allerhöchste Zeit.

»Hör mal, Jenny«, sagte sie und hob die Stimme, weil Julia so laut lamentierte. »Hör mal, Jenny, was ich da gesagt habe, tut mir leid. Ich wollte das nicht, aber du weißt doch, wie das ist. Auf einmal hat man es ausgespuckt, und schon im selben Moment würde man sich am liebsten die Zunge abbeißen.«

Jenny starrte sie an. Böse, aber auch ein wenig unsicher.

»Es tut mir leid, Jenny! Bitte bleibt hier.«

Jenny ließ die Tochter los. Julia schlenkerte ihre Hand, weil die Mama so fest zugepackt hatte.

»Das … das hast du noch nie zu mir gesagt«, stammelte Jenny, und der Delfin segelte in den Sand.

Cornelia räusperte sich. »Ist mir auch nicht leichtgefallen«, knurrte sie. »War aber fällig. Und ehrlich war’s auch.«

Jenny war immer noch fassungslos. Sie zupfte an ihrem Bikini, fuhr sich durch das hochgesteckte Haar und stopfte eine verirrte Strähne zurück an ihren Platz.

»Ich würde euch beide gern zum Essen einladen«, sagte Cornelia.

Julia strahlte und richtete bittende Blicke auf ihre Mama. Jenny strich sich die Sandkörner vom Po, dann nickte sie langsam. »Aber wir müssen erst zum Auto. Was überziehen.«

»Treffen wir uns im Strandgarten! Das ist gleich rechts neben dem Kurgebäude.«

»Gut.«

Cornelia zog ein Strandkleid über und raffte ihre Sachen zusammen. Eigentlich hätte sie noch den Strandkorb schließen müssen, doch sie entschied sich dagegen. Sollte sich ruhig jemand hineinsetzen, solange sie nicht da war. Für einen kurzen Moment sah sie dem blauen Delfin nach, der ein Stück weit am Strand entlangschwebte und dann in Richtung Parkplatz abbog.

Cornelia eilte zunächst ins Hotel, um ihren Geldbeutel aufzufüllen, dann stürmte sie zurück zur Strandpromenade. Das Restaurant war um diese Zeit sehr voll, sie hatte jedoch Glück, weil eine Familie gerade aufbrach und sie einen Tisch am Fenster ergattern konnte. Dort ließ sie sich nieder, bestellte schon einmal eine große Flasche Mineralwasser und wartete. Ungeduldig sah sie aus dem Fenster, betrachtete die vorübergehenden Badegäste, die Familien mit Kleinkindern, alte Damen mit bunten Sonnenhüten, braungebrannte junge Menschen in Shorts und knappen Bikinis. Wo blieben sie denn nur? Sie nippte an ihrem Wasserglas und spürte, wie sie unruhig wurde. Am liebsten wäre sie aufgestanden und zum Parkplatz gelaufen. Was, wenn Jenny sich kurzfristig entschied, doch zurückzufahren?

Da! Das rote Haar ihrer Enkelin. Wie es in der Sonne glänzte! Jenny trug kurze Jeans und ein weißes Shirt, Julia ein rosa Kleid, das garantiert auf Franziskas Konto ging. Ihre Mutter hatte sie seinerzeit auch immer in solch kitschige Klamotten gesteckt.

»Wir können beim Essen aus dem Fenster schauen!«, stellte Julia begeistert fest, kaum dass sie mit Jenny das Restaurant betreten hatte. »Da hinten ist das Meer, Oma!«

Jenny war zunächst schweigsam, dafür schwatzte Julia wie aufgezogen, erzählte von ihrem Freund Falko, von Mücke und den Kindergartenkindern, dass sie schon bald in die Schule käme und dass sie schon einen Freund hätte. Jörg hieß er und ging bereits in die dritte Klasse.

Jenny wurde erst beim Nachtisch wieder gesprächig. Sie unterhielten sich über Bernds Entschluss, den Hof aufzugeben, was Cornelia sehr bedauerte.

»Der hat damals in der WG schon davon geredet, dass er gern einen Bauernhof hätte … Aber klar, mit den Gäulen auf den Acker, das geht halt nicht mehr. Ach, wie schade!«

Sie entlockte Jenny eine Menge Details. Soso – Sonja war also eine begabte Malerin. Walter interessierte sich für die Ausgrabungen, forschte sogar selbst. Und Simon Strassner, Julias Vater, hatte eine untreue Freundin. Tja – jeder bekam, was er verdiente. Ob man diesen Mann wohl dazu bringen könnte, seiner Tochter Julia das Inspektorenhaus zu vererben? Besser noch: zu überschreiben …

»Du hast doch an Walters Geburtstag behauptet, du hättest ein Konzept, um unsere Unternehmungen auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen«, sagte Jenny.

Nun war es heraus. Eigentlich ein sehr profaner Grund für einen Besuch. Aber er hatte viel Gutes bewirkt.

»Dazu brauche ich natürlich genauere Informationen. Bilanzen. Die Belastungen. Die Einnahmen. Zuschüsse und so weiter …«

»Vielleicht kannst du ja auf dem Rückweg noch mal bei uns vorbeischauen?«

Eine Einladung! Von ihrer Tochter Jenny!

»Ich denk mal drüber nach«, gab Cornelia vorsichtig zurück.

Julia bohrte ihren Löffel in das Schokoladeneis mit Sahne und führte ihn dann gefüllt zu ihrem schokoumrandeten Mund.

»Du kriegst auch mein Bett, Oma. Ich schlaf dann bei Jörg.«

»Darüber lässt sich reden!«

Sie gab dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld und ging mit auf den Parkplatz, um die beiden zu verabschieden. Später nahm sie ihr Notizbuch mit hinunter an den Strand und machte es sich im Strandkorb bequem. Der Lärm und die Seeluft waren tatsächlich sehr anregend bei der Arbeit, die Einfälle flogen ihr nur so zu.

Dieser Urlaub war ein Volltreffer!