Ulli
Nee, da hatte er sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Nachhinein schämte er sich dafür. Sie hatte sich als Einzige laut für ihn eingesetzt, da hätte er sich wenigstens bei ihr bedanken und Tschüss sagen können.
Seine Großma hatte ihm während der gesamten Rückfahrt Vorhaltungen gemacht. Dass er ein Sturkopp sei, das habe er von seinem Großvater geerbt, aber damit käme man im Leben nicht weit. Vor allem nicht bei den Mädels. Er hatte sich geärgert und geantwortet, dass Mine in dieser Beziehung keine Sorge haben müsse, es gäbe genügend Frauen, denen er gefiel. Das war auch wieder ganz falsch gewesen, weil sich Mine nun erst recht Gedanken machte.
Max ging es immer noch nicht besser. Heute früh hatte Ulli ihn erstmals besuchen dürfen. Ganz klein und zusammengefallen hatte er in dem weiß bezogenen Krankenhausbett gelegen, sein Atem ging so schnell, als sei er gerade hundert Meter in neun Sekunden gelaufen. Sagen können hatte er kaum etwas, aber er hatte gelächelt, als man Ulli zu ihm ließ. Er müsse sich keine Gedanken machen, hatte die nette Krankenschwester ihn beruhigt, die Ärzte hätten noch genügend Pfeile im Köcher. Was immer sie ihm damit zu verstehen geben wollte – die Ausdrucksweise hatte Ulli wenig gefallen. Das klang ja so, als zögen sie schon in den letzten Kampf!
Er war schließlich zurück nach Ludorf gefahren, weil er sich um den Betrieb kümmern musste. Das hätte auch Max so gewollt, da war er sich sicher. Außerdem hatte die Krankenschwester versprochen, ihn anzurufen, falls sich am Zustand des Alten etwas ändern sollte.
Am Nachmittag fing es an zu regnen, der Verleih von Ruder- und Tretbooten fiel aus.
Ulli beschloss, seine Mitarbeiter einzuspannen, während er unterwegs war. Geschäftlich. Er wollte dringend etwas erledigen, was eigentlich Jennys Idee gewesen war; und vielleicht konnte er sie damit ja sogar versöhnen. Oder zumindest einen ersten Schritt in die richtige Richtung tun. Wenngleich das eher ihre Aufgabe gewesen wäre. Er fuhr nach Dranitz, ließ das Gutshaus rechts liegen und bog nach wenigen Kilometern in einen Feldweg ein. Der Regen hatte die Schlaglöcher mit Wasser gefüllt, sodass sein Passat von allen Seiten gleichmäßig verdreckt wurde. Unweit des Seeufers standen mehrere Gebäude, eines davon ein flacher, lang gezogener Bau, die anderen kleiner und mit spitzen Dächern, deren rote Dachschindeln weithin leuchteten. Bernd Kuhlmanns Ökobauernhof bestand aus drei voneinander getrennten Gebäudekomplexen, eines davon das Wohnhaus mit Käserei, Hühnerstall und Kuhstall. Weiter nach Westen gab es eine Scheune für Wagen und Ackergeräte, die gleichzeitig als Pferdestall diente. Hinten im Wald stand eine weitere Scheune, in der Bernd Heu und verschiedene Gerätschaften aufbewahrte. Das komplizierte Organisationssystem dieses landwirtschaftlichen Betriebs war Ulli nicht verständlich, allerdings hatte er sich auch wenig Gedanken darüber gemacht. Es stimmte sicher, was überall gesagt wurde – nämlich dass sich Bernd Kuhlmann weit mehr Arbeit machte als nötig. Wer zog denn heutzutage noch mit den Pferden auf den Acker, wo er doch für wenig Geld einen der Traktoren der ehemaligen LPG hätte kaufen können? Aber der Ökobauer Kuhlmann wollte umweltfreundlich arbeiten, und das bedeutete, so wenig benzinbetriebene Maschinen wie möglich einzusetzen. War eben ein komischer Kauz, dieser Bernd, und Jennys Vater war er außerdem.
Noch einmal redete sich Ulli ein, dass er rein geschäftlich hier war. Er stieg aus, besah sich kurz seinen schwarz-grau melierten Passat und machte dann, dass er zum Wohnhaus hinüberkam, bevor der Regen ihn durchweicht hatte. Jetzt kam’s wirklich herunter! Die alten Bäume neigten sich unter dem Ansturm des Wetters, die Regenrinne des Wohnhauses lief über, und aus dem Regenfass neben der Käserei sprudelte eine Fontäne empor. Ulli läutete und wartete. Er fürchtete schon, dass niemand zu Hause war, da öffnete sich plötzlich die Tür.
»Komm schnell rein«, forderte Bernd Kuhlmann ihn auf. »Sonst schwimmst du noch davon!«
Ulli zog eine feuchte Spur auf den grauen Küchenfliesen, was Bernd Kuhlmann jedoch nicht störte. Zwei junge Katzen rauften miteinander auf einem alten Küchensofa, als sie ihn sahen, hielten sie mitten im Spiel inne, lösten sich voneinander und starrten ihn mit großen Katzenkinderaugen an.
»Setz dich. Brauchst du was Trockenes zum Anziehen? Nein? Aber einen Kaffee nimmst du schon, oder?«
»Wenn er heiß und stark ist – immer!«
Er hatte einen Kohleherd von anno dazumal, daneben stand ein moderner Gasherd. Bernd Kuhlmann füllte den Wasserkessel und setzte ihn auf die Gasflamme. Du liebe Zeit, dieser Kessel! So was kannte er noch, das war gute alte DDR-Ware. Genau wie er selbst goss Bernd den Kaffee durch einen Porzellanfilter auf, den er auf die Kanne stellte. Den Kaffee hatte er zuvor in einer Kaffeemühle gemahlen, die an der Wand angebracht war – natürlich ohne Strom.
»Es gibt viele elektrische Geräte, die komplett überflüssig sind«, meinte er lächelnd, als er mit der kleinen Schublade voll gemahlenem Kaffee zurückkam. »Kaffeemahlen ist nun wirklich keine große körperliche Anstrengung. Das kann jedes Kind.«
Der Kaffee schmeckte hervorragend, das musste Ulli zugeben. Kein Vergleich zu der lauwarmen Brühe, die aus der Kaffeemaschine kam, deshalb hatte er sich in seiner kleinen Wohnung in Ludorf ebenfalls für diese Methode entschieden, während Max Maschinenkaffee bevorzugte. Max … Wie es ihm wohl gerade ging? Ulli riss sich aus seinen trüben Gedanken. Es war nett, hier in der Küche zu sitzen und mit Bernd Kaffee zu trinken, während draußen gerade die Welt unterging.
Man konnte hören, wie der Regen auf das Hausdach trommelte, die Käserei nebenan verschwand in einem grauen Wassernebel, zwei versprengte Hühner flüchteten über den Hof zur Tür des Wohnhauses und wurden von Bernd in die Küche eingelassen.
»Und wenn jetzt ein Ochse von der Weide kommt – lässt du den auch rein?«, witzelte Ulli.
»Klar.« Bernd grinste. »Zu dritt ist es doch gemütlicher!«
Sie lachten schallend los, und Ulli fühlte sich seit Langem zum ersten Mal wieder richtig wohl. Feiner Kerl, der Bernd. Schade, dass man einander so selten begegnete, aber er war ja dabei, das zu ändern.
»Ich hab da so ’ne Idee«, meinte er und hielt Bernd die Tasse zum Nachgießen hin. »Wie wäre es, wenn du meinen Laden am Zeltplatz mit Gemüse, Eiern und Käse beliefern würdest?«
Bernd zog ein nachdenkliches Gesicht und meinte dann, das würde er gern tun, es fehle ihm dazu aber die Zeit.
»Das ginge höchstens an den Markttagen, da bin ich sowieso mit den Sachen unterwegs. Aber extra deshalb die Pferde anspannen – das geht in der Erntezeit schlecht.«
Ulli fand, dass es Bernd mit seinem Faible für abgasfreien Transport entscheidend übertrieb. Ein gebrauchter Lieferwagen kostete nicht die Welt, brachte aber bessere Einnahmen.
»Und wenn ich dreimal die Woche jemanden schicke, der bei dir einkauft und das Zeug dann rüber nach Ludorf fährt?«
»Das könnte klappen. Aber ich bin kein Supermarkt, bei mir gibt’s nicht immer alles. Nur das, was gerade geerntet wird.«
»Daran sind wir hier im Osten noch gewöhnt«, erwiderte Ulli grinsend.
Der Regen ließ nach, das Wasser rann jetzt in feinen, durchsichtigen Fäden aus der überlasteten Regenrinne auf den Hof hinunter, aber zwischen den grauen Wolken zeigte sich schon wieder blauer Himmel. Die jungen Katzen näherten sich neugierig den nassen Hühnern, hielten aber Abstand, als eine der Hennen sich kampflustig aufplusterte.
»Wie geht’s deinem Freund Max?«, erkundigte sich Bernd. »Hab gehört, dass er die Masern hat.«
Er hatte es von Franziska, die mit Falko öfter vorbeikam. Sie hatte auch erwähnt, dass sich Jenny Vorwürfe machte, Julchen könne Max angesteckt haben.
»So ein Quatsch!«, sagte Ulli beklommen. »Und selbst wenn es so wäre – Max ist erwachsen, Jenny ist doch nicht für ihn verantwortlich.«
Bernd war der gleichen Ansicht. Und da sie nun gerade beim Thema waren, erkundigte sich Ulli ganz harmlos, ob Jenny schon immer ein wenig »sensibel« gewesen sei.
»Sensibel? Was meinst du damit?«
Ulli druckste herum.
»Na ja – schnell eingeschnappt halt. Bisschen empfindlich.«
Bernd kräuselte die Stirn und dachte nach. Er war einer, der gut überlegte, bevor er etwas sagte. Ulli fand das angenehm.
»Sie war ein aufgewecktes, freundliches Kind. Mit dem Mundwerk, da war sie gut dabei. Und manchmal musste man aufpassen, weil sie verrückte Ideen hatte. Sie hat gern auf dem Fensterbrett gesessen und mit ausgebreiteten Armen Flugzeug gespielt.«
»Was ist daran schlimm?«
»War im dritten Stock …«
Ulli musste schlucken. Wieso hatte keiner auf das Mädel aufgepasst? Aber Jenny hatte ja erzählt, dass ihre Mutter nie Zeit für sie gehabt hatte.
»Passiert wohl in solchen Wohngemeinschaften«, sagte er zögernd. »Da verlässt sich dann einer auf den anderen, oder? Und Jennys Mutter war ja wohl viel mit sich selber beschäftigt.«
Zu seiner Überraschung widersprach Bernd. »Später vielleicht, als Jenny älter war. Als sie klein war, hat sich Cornelia ganz rührend um sie gekümmert.«
Da schau an, dachte Ulli. Das hat sie mir ganz anders geschildert. Er schwieg jedoch, weil er Jenny nicht in die Pfanne hauen wollte.
Bernd redete sich in Fahrt. »Das war die Zeit, als die Studentinnen demonstrativ ihre Babys in den Vorlesungen gestillt haben. T-Shirt hoch und ran an die Brust. Die Zeit der Schlaghosen und gebatikten Hemden. Und diese Jesuslatschen! Cornelia hat Jenny in ein Tragetuch gebunden, das hatte sie auf dem Flohmarkt von einer Afrikanerin gekauft. Den ganzen Tag hat sie ihr Baby herumgeschleppt, gewiegt, gestillt, mit ihm geredet, und in der Nacht hat sie die Kleine mit ins Bett genommen. Wer der Vater war, wusste keiner, das hat sie nicht verraten, aber gekümmert hat sie sich, und wie!«
»Und dann? Hat sie sie später auch antiautoritär erzogen? Das war doch damals große Mode, oder?«
Bernd nahm die Frage sehr ernst.
»Das war ein Aufbruch damals«, erklärte er. »Wir Achtundsechziger haben gegen die Verlogenheit der Erwachsenen aufbegehrt. Gegen diese Gesellschaft, die so tat, als habe es das Dritte Reich gar nicht gegeben. Als sei das alles nur ein Unfall gewesen, und man könne einfach weitermachen wie bisher. Damals wurde in den Schulen noch geprügelt wie zu Kaisers Zeiten. Schläge und Zwang erzeugen Untertanengeist, das war unsere Ansicht. Unsere Kinder sollten freiheitlich und eigenverantwortlich aufwachsen, sollten sich von allen in der WG wahrgenommen fühlen …«
»Und?«, wollte Ulli wissen. »Hat das bei Jenny geklappt?«
Bernd grinste schief und schüttelte den Kopf.
»Nicht so, wie wir uns das in der Theorie vorgestellt haben. Es lag sicher an uns selbst – wir waren schlechte Erzieher. Ungeduldig. Unbeständig. Nicht konsequent. Außerdem bestand Cornelia darauf, dass sie allein über Jennys Erziehung zu bestimmen hatte. Weil sie dann aber viel unterwegs war, blieb diese letztendlich doch oft den anderen WG-Mitgliedern überlassen.«
»Und weshalb war ihre Mutter damals viel unterwegs?«, wollte Ulli wissen.
Bernd seufzte und blinzelte hinaus in die Sonne, die inzwischen wieder die Oberhand gewonnen hatte. Er stand auf, um die beiden Hühner auf den Hof zu lassen, dann setzte er sich wieder zu Ulli an den Küchentisch.
»Das war in den Siebzigern, da hat sich Cornelia in der feministischen Bewegung engagiert. Hat sich mächtig reingekniet und eine wichtige Position eingenommen. Jenny ging da schon in die Schule, sie hat ihre Hausaufgaben bei uns am Küchentisch gemacht und ist dann raus zu den anderen Kindern, die im Hof gespielt haben. Cornelia hat wohl eine Weile versucht, ihre Tochter für die Frauenrechte zu begeistern, hat sie auch mal zu den Treffen mitgenommen – aber Jenny wollte nichts davon wissen, war ja auch noch viel zu jung …«
Alles in allem fand Ulli Jennys Kindheit lange nicht so schrecklich, wie sie selbst sie beschrieben hatte. Sie war weder geschlagen noch vernachlässigt worden, und ihre Mutter hatte sich viele Gedanken um sie gemacht. Aber vielleicht hatte sie sich einfach nur eine »stinknormale« Vater-Mutter-Kind-Familie gewünscht?
»Habt ihr nie daran gedacht zu heiraten, Cornelia und du?«
»Doch«, sagte Bernd und goss sich den Rest Kaffee ein, der inzwischen kalt geworden war. »Ich hab Cornelia sogar zweimal gefragt. Aber sie hielt die Ehe für spießig. Damals hatte ich einfach die Schnauze voll von dem WG-Theater. Ich wollte endlich Geld verdienen und eine eigene Wohnung haben. Das konnte Cornelia nicht verstehen. Also haben sich unsere Wege getrennt. Ich wusste nicht, dass ich Jennys Vater bin, und selbst wenn ich manchmal so eine Ahnung hatte, fand ich nichts, was meine Vermutung bestätigt hätte.«
Klar, Jenny hatte der Vater gefehlt. Deshalb war sie auf diesen alten Sack hereingefallen. Diesen Simon Strassner. Was für ein bescheuerter Typ mit seinen ewig neuen Freundinnen. Diese Blondine war besonders schlimm. Absatz umgeknickt, Gleichgewicht verloren, und dann hatte sie auch schon in seinen Armen gelegen. Was für ein blöder Trick. Na – lange würde Simon an der keine Freude haben, wenn sie jetzt schon auf Abwegen war. Wahrscheinlich war sie sowieso eher geschäftlich als privat an ihm interessiert. Der Typ war in den letzten drei Jahren ziemlich gealtert und hetzte nur noch von einem Termin zum nächsten. Mitleid war jedoch fehl am Platz. Wenn man dem Gerede der Zeltplatzleute trauen konnte, kaufte Simon Strassner halb Stralsund und ganz Rostock auf. Und er besuchte Jenny regelmäßig, um mit seiner Tochter spazieren zu gehen.
»So«, sagte Bernd und legte Ulli die Hand auf die Schulter. »Es hilft nichts – ich muss nachschauen, was nach dem Guss von meinem Salat übrig geblieben ist. Die Tomaten sind ja mit Folie geschützt, aber die Kräuter könnten ordentlich was abgekriegt haben.«
Ulli begriff, dass sein Besuch zu Ende war – Bernd hatte Arbeit. Er selbst übrigens auch. Inzwischen war ihm klar geworden, dass er vor allem hierhergekommen war, um mehr über Jenny zu erfahren. »Bis bald«, sagte er und machte sich auf zu seinem Wagen.
Bernd nickte. »Wir sehen uns. Auf Walters Geburtstag, oder?«
»Ja, klar!«
Wieder ein Ärgernis. Ulli mochte den alten Herrn sehr und wollte die Einladung auf keinen Fall absagen. Auf der anderen Seite war es ihm unangenehm, dort aufzukreuzen, weil Jenny da sein würde und weil alle wussten, dass es zwischen ihnen momentan kriselte.
Er öffnete gerade die Fahrertür, als plötzlich ein silberner Opel Corsa auf den Hof fuhr und neben seinem dreckverspritzten Passat anhielt.
Ein hagerer, blasser Mann stieg aus und strebte auf Bernd zu.
Der sah ihn entsetzt an, dann trat er einen Schritt vor und stieß mit angespannter Stimme hervor: »Was wollen Sie hier? Ich dachte, wir hätten geklärt, dass ich …«
»Nicht aufregen«, sagte der hagere Typ zu Bernd. »Ich tue nur meine Pflicht, das wissen Sie doch, Herr Kuhlmann.«
Auf Bernds Hals und Wangen bildeten sich vor Aufregung rote Flecke. »Das verstößt gegen das Gesetz, Herr Budde! Sie haben kein Recht, mein Vieh zu pfänden, weil ich es für meinen Wirtschaftsbetrieb benötige!«
Ulli begriff. Dieser »Herr Budde« war Gerichtsvollzieher und wollte pfänden. Verdammter Mist. Andererseits war das abzusehen gewesen. Der Hof war in den roten Zahlen – wie sollte es auch anders sein, wenn Bernd derart unrentabel wirtschaftete.
»Sie befinden sich im Irrtum, Herr Kuhlmann«, widersprach Budde und wischte einen braunen Fleck von seiner Hose, vermutlich aufgespritztes Pfützenwasser. »Ich darf kein Vieh mitnehmen, das zur Ernährung des Schuldners und seiner Familie notwendig ist. Hier stehen neun Kühe und fünf Kälber – das ist wohl etwas mehr, als Sie für sich benötigen.«
»Es geht um meinen Wirtschaftsbetrieb«, regte sich Bernd auf. »Ich brauche die Tiere …«
»Wir lassen Ihnen die Pferde. Und die Kühe wollen wir auch nicht. Wir nehmen nur die Kälber mit!«
»Dazu haben Sie kein Recht.« Bernd verschränkte störrisch die Arme.
»Dann zahlen Sie Ihre Rechnungen, Herr Kuhlmann!«
Ulli war es peinlich, diesen Dialog mit anzuhören. Er hätte Bernd ja gern geholfen, aber wenn er ihm jetzt auch noch Geld lieh, würde kaum noch etwas für seine Rücklagen bleiben, weil er doch schon Jenny so großzügig unter die Arme gegriffen hatte.
Er ließ den Blick über den Hof schweifen und entdeckte am Zaun neben dem Kuhstall einen Viehtransporter. Zwei junge Kerle standen am Gatter und besahen sich die Herde, die dort nichtsahnend weidete. Aha – er hatte Fachpersonal mitgebracht. War wohl auch nötig – der dürre Schnürsenkel hätte nicht einmal ein friedliches Zicklein in den Transporter verfrachten können. Ulli sah, dass Budde seinen Helfern zuwinkte, worauf die beiden, mit einem Seil bewaffnet, das Gatter aufschoben. Bernd Kuhlmann stapfte in seinen Gummistiefeln in Richtung Weide und schien fest entschlossen, um seine Kälber zu kämpfen.
Das kann nur schlecht ausgehen, dachte Ulli. Er hat keine Chance.
»Bernd!«, rief er. »Mach keinen Quatsch!«
Aber der Ökobauer antwortete nicht. Die beiden Männer hatten inzwischen dem schwarzen Bullenkalb einen Strick um den Hals gelegt und bemühten sich, das widerstrebende Tier zum Gatter zu zerren. Der kleine Bulle hatte wenig Lust, sich abführen zu lassen, er stemmte die Vorderhufe in den aufgeweichten Wiesenboden, wobei die Schlinge so weit nach vorn rutschte, dass er sich beinahe erwürgt hätte.
»Lassen Sie Black Jack frei!«, brüllte Bernd wütend. Ulli rannte zu ihm und fasste ihn beim Arm, damit er keinen Unsinn anstellte, aber Bernd riss sich los. In diesem Moment entschloss sich Brunhilde, ihrem Kalb zu Hilfe zu kommen, und galoppierte auf die Möchtegerncowboys zu. Der Rest der Herde folgte ihr. Mit einem Satz sprangen die beiden Kerle über das Gatter und flüchteten vorsichtshalber auch noch hinter den Transporter.
Angriff abgewehrt, dachte Ulli. Vielleicht geben sie jetzt ja auf.
Aber der Gerichtsvollzieher wollte nicht als Verlierer vom Platz gehen. Aufgebracht eilte auch er zur Kuhweide und stauchte seine Helfer zusammen, die daraufhin einen neuen, eher vorsichtigen Versuch unternahmen, den Bullen von der Weide zu holen, indem einer von ihnen das Seil packte und damit zurück über den Zaun flüchtete.
Die Männer zerrten, das Bullenkalb kämpfte, stürzte und fing an zu röcheln, während Brunhilde verzweifelt auf und ab lief, um den Gegner abzuwehren, aber der war hinter dem massiven Holzgatter in Sicherheit.
»Ihr bringt Black Jack ja um!«, brüllte Bernd entsetzt. »Hört auf damit. Das ist Tierquälerei!«
Ulli war der gleichen Meinung, am liebsten hätte er Budde mitsamt seinen Schergen einen kräftigen Tritt verpasst, aber schließlich arbeiteten sie für den Arm des Gesetzes.
Plötzlich kläffte ein Hund, ein schwarz-gelbes Fellbündel fegte über die Weide, mischte die Kuhherde auf und umkreiste das schwarze Kalb, das inzwischen fast reglos am Boden lag. Falko? Na klar, das war Falko. Als er Ulli erkannte, machte er einen Satz über das Gatter und sprang begeistert an ihm hoch.
»Falko! Alter Stromer! Was machst du denn hier?«
Er streichelte den Hund und merkte erst jetzt, dass Falko nicht allein war.
»Was machen Sie da? Sie bringen das Tier ja um! Hören Sie sofort damit auf!«, ließ Franziska im Tonfall der Gutsherrin verlauten. Der Transporter hatte sie verdeckt, deshalb hatten sie sie nicht herankommen sehen. Jetzt blieb sie bei den beiden Männern stehen und machte Anstalten, ihnen das Seil zu entreißen. »Haben Sie nicht gehört? Sie sollen das Tier loslassen!«
Falko, der merkte, wie aufgeregt sein geliebtes Frauchen war, stürzte sich mit wildem Gebell auf die beiden Männer, die entsetzt das Seil losließen.
»Halten Sie den Hund zurück!«, brüllte Budde, und Franziska stieß einen kurzen Pfiff aus. Falko folgte und stellte sich knurrend neben sein Frauchen.
»Das war ein tätlicher Angriff«, befand der Gerichtsvollzieher. »Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Frau Iversen.«
»Und ich hätte niemals erwartet, dass Sie Ihre Leute auf ein hilfloses Kälbchen hetzen. Sie hätten den Kleinen beinahe umgebracht. Ihnen mögen Tiere vielleicht nicht viel bedeuten, aber dieses fahrlässige Handeln erfüllt zumindest den Tatbestand der Sachbeschädigung, nicht wahr, Bernd?«, wandte sie sich an Kuhlmann, der schwer atmend neben ihnen stand und zu Black Jack hinüberblickte, der sich jetzt, da ihm das Seil nicht länger die Luftzufuhr abschnitt, Gott sei Dank wieder aufrappelte und auf Brunhilde zustakste.
Nach einer Weile fing Bernd sich wieder und sagte mit fester, ruhiger Stimme zu dem Gerichtsvollzieher: »Herr Budde, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Die Sache wird ein Nachspiel haben. Dass ich ein paar Rechnungen nicht bezahlen kann, gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, meine Tiere zu misshandeln.« Offenbar hatte er wieder in seinen Anwaltsmodus geschaltet.
»Wir sehen uns wieder!«, knurrte Budde und bedeutete seinen Männern, einen Abflug zu machen.
Als sie weg waren, drehte sich Bernd zu Franziska um und bat sie, ein Protokoll anzufertigen. Er brauche auch Ulli als Zeugen, denn er habe vor, Anzeige zu erstatten. Der Vorfall werde ein gerichtliches Nachspiel haben.
Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatten und den Kühen zusahen, die inzwischen wieder friedlich grasten, wandte sich Franziska an Ulli. »Einer deiner Jungs vom Bootsverleih hat mich angerufen, Tom. Die Klinik hat sich gemeldet, und weil er nicht wusste, wo du steckst, hat Tom sämtliche Nummern durchtelefoniert, die an der Wand vom Bootsverleih hängen – und ist bei mir gelandet.«
Ulli wurde blass. »Ist … ist er etwa …?«
»Nein«, beschwichtigte ihn Franziska. »Im Gegenteil. Es geht ihm gut, er atmet wieder selbstständig und ist so gut wie über den Berg. Du kannst ihn in ein paar Tagen abholen, weil er fürchterlichen Rabatz macht, dass er wieder nach Hause will, aber er soll sich noch schonen, außerdem sollte er vorerst nicht unbedingt in der Öffentlichkeit herumspringen. Das ist zu gefährlich wegen der Ansteckungsgefahr, die ja auch nach vollständigem Abklingen der Symptome noch einige Tage besteht.«
»Gott sei Dank.« Ulli stieß erleichtert die Luft aus, dann wanderten seine Gedanken unwillkürlich zu Jenny. »Na, da wird aber jemand erleichtert sein …«