Ulli

Das Frühlingsgewitter war ohne Vorwarnung über Spaziergänger und Ausflügler hereingebrochen, nun herrschte am Ufer und auf dem Parkplatz wildes Durcheinander. Mehrere Ruderboote strebten dem Landungssteg zu, auf dem Zeltplatz wurden Klappstühle, Decken und Kaffeegeschirr ins Trockene geschleppt, hochbepackte Väter hasteten zu ihren Autos, Mütter sammelten die nassen Kleinen ein. Ulli und seine beiden jungen Helfer Tom und Rocky hatten zunächst mit den einlaufenden Booten zu tun, dann half Ulli einer jungen Mutter, den festgefahrenen Kinderwagen von der Uferwiese zu bekommen, und schließlich musste er sich mit einem erzürnten Vater auseinandersetzen, dessen dreijähriger Sprössling von einem zornigen Enterich gezwickt worden war.

Manche Leute gingen Ulli fürchterlich auf den Senkel. Früher hätte er denen unverblümt seine Meinung gesagt, jetzt musste er leider höflich bleiben, denn er durfte sich die Kundschaft nicht vergraulen. In dieser Hinsicht war er bei Max Krumme durch eine harte Schule gegangen. Zum Glück waren die meisten Kunden nette Leute, vor allem die Kinder hatten es Ulli angetan. Er hätte selbst gern welche gehabt, aber Jenny wollte erst ihr Abi machen und anschließend studieren. Da würde es mit dem Nachwuchs noch dauern. Leider.

Als der Nörgelheini mit Frau und heulendem Sohn endlich in Richtung Parkplatz abgezogen war, tat sich an den Bootsstegen nichts mehr, und auch auf dem Zeltplatz war Ruhe eingekehrt. Die Leute hockten in ihren Zelten und Wohnwagen und warteten das Unwetter ab. Es war die letzten Tage über ungewöhnlich warm gewesen für diese Jahreszeit, kein Wunder, dass sich da ordentlich was zusammengebraut hatte. Ulli war nass bis auf die Haut und wollte gerade ins Haus laufen, um sich trockene Kleider anzuziehen, als er vom Parkplatz her laute Rufe hörte. Vor dem Kiosk standen drei Personen unter einem Schirm, doch weil der Regen so laut rauschte, konnte er nicht verstehen, was sie riefen. Ein älterer Mann klopfte ungeduldig an die Scheibe, dann schüttelte er resigniert den Kopf und ging zu seinem Auto. Die beiden Frauen blieben unschlüssig stehen, reckten die Hälse und versuchten, in den Kiosk hineinzuschauen.

Wo war Max? Der ging doch nicht einfach weg, wenn Kundschaft da war, schon gar nicht in solch einem Gewitterregen. Ulli spürte, wie er Herzklopfen bekam, und spurtete über den Parkplatz zum Kiosk hinüber.

»Entschuldigen Sie«, sagte er und drängte sich an den beiden Frauen vorbei zum Fenster. Max war nicht zu sehen. Ulli schob die Scheibe hoch und spähte hinein, doch wegen des trüben Regenwetters war es im Innern des Kiosks zu dunkel, um Genaueres zu erkennen.

»Max? Hallo? Bist du da drin?«

Keine Antwort.

»Ach Gott, ach Gott«, sagte eine der beiden Frau hinter ihm. »Dem alten Max Krumme wird doch wohl nichts passiert sein! Ist ja auch nicht mehr der Jüngste …«

»Unverhofft kommt oft«, pflichtete die andere ihr bei. »Seine Frau ist damals doch auch so plötzlich gestorben. Hat morgens tot im Bett gelegen.«

Es donnerte heftig, über dem schwarzen, aufgewühlten Wasser der Müritz zuckte ein Blitz, und für einen Moment war alles hell. Ullis Blick fiel auf zwei Füße, die hinter den Getränkekisten hervorlugten. Hektisch zerrte er den Schlüsselbund aus der nassen Hosentasche und schloss auf, dann schlüpfte er hinein und zog die Tür hinter sich zu, bevor er auf den Lichtschalter drückte.

»Max?«

Der alte Mann lag am Boden, er hatte riesiges Glück gehabt, denn er war mit dem Kopf auf einen Stapel Zeitungen gefallen. Er atmete – war also noch am Leben. Ulli hockte sich neben ihn und rieb ihm die Schläfen, dann fühlte er seinen Puls, der ziemlich langsam war, und gab ihm schließlich ein paar aufmunternde Ohrfeigen, damit er zu sich kam. Tatsächlich öffnete Max Krumme die Augen, plinkerte ein paarmal und wandte Ulli das Gesicht zu.

»Was … wo …«, krächzte er verwirrt.

Dann fuhr er zusammen, als draußen ein weiterer Donner krachte.

»Mensch, Ulli«, sagte er. »Hau ab, die Russen kommen …«

Oje, der war ja völlig neben der Spur. War das am Ende ein Schlaganfall?

»Der Krieg ist vorbei, Max. Das ist bloß ein Gewitter.«

Max Krumme schwieg einen Moment lang, dann grinste er schwach.

»Nee, so was«, murmelte er. »Filmriss. Gerade sitze ich noch da auf meinem Hocker und will einem Jungen zwei Kaugummis und eine Gummischlange in die Tüte tun – und dann ist auf einmal alles weg.«

Ulli war erleichtert, dass Max jetzt vernünftig redete und anscheinend auch sonst keine ernsthaften Blessuren davongetragen hatte. Er half ihm, sich vorsichtig aufzusetzen, öffnete eine Wasserflasche und ließ ihn einen Schluck trinken.

»Was soll ich mit dem Zeug?«, schimpfte der alte Mann. »Gib mal so ’nen kleinen Freund rüber. Den Whisky, nicht den Kräuterbitter. Hab’s doch nicht am Magen …«

Nachdem er den Whisky gekippt hatte, behauptete Max, es gehe ihm glänzend, er sei nur etwas abgespannt gewesen. Mit Ullis Unterstützung setzte er sich wieder auf seinen Schemel und schob die Glasscheibe auf. Regentropfen benetzten die Zeitschriften und Max Krummes Gesicht.

»Haben die Damen einen Wunsch?«, rief er in das Unwetter hinaus.

Die beiden Frauen hatten beim Kiosk ausgeharrt und zeigten sich jetzt froh und erleichtert, dass die Sache so gut ausgegangen war.

»Alles in Ordnung, Herr Krumme? Wir hatten schon gedacht …«

»Mir geht’s prima, aber Sie holen sich bestimmt einen Schnupfen.«

Er verkaufte zwei Eis und die Fernsehzeitung, kassierte und gab richtig heraus, dann schob er die Scheibe zu, weil es hineinregnete.

»Setz dich mal da hin, Ulli.« Er deutete auf die Wasserkiste. »Wollte sowieso mit dir reden.«

Ulli fühlte sich unwohl in den nassen Kleidern, auf der anderen Seite wollte er Max jetzt besser nicht allein lassen. Was jetzt kommen würde, war ihm klar, Max redete seit Wochen davon.

»Also die vier Tretboote, die aus dem roten Katalog, die will ich nun endlich bestellen«, fing Max an. »Und dann muss der Lebensmittelladen auf dem Zeltplatz ausgebaut werden. So richtig mit Kühltheke und allen Schikanen. Und für den Imbiss brauchen wir eine Profiküche – aber das lohnt sich, Junge. Spießbraten, Bouletten, Thüringer Würstchen und Pommes. Da stehen die Leute Schlange, das sag ich dir …«

Ulli nickte. Im Winter hatte ihn der Alte mit dem Vorhaben genervt, das Ufer befestigen zu lassen, damit die Gäste nicht immer über Steine und Schlick ins Wasser laufen mussten. Aber das hatte Ulli abgelehnt, Beton am Ufer kam für ihn nicht in Frage, höchstens wollte er ein paar Wagenladungen Sand anfahren lassen. Außerdem wollte Max das Haus umbauen lassen, einen Anbau dransetzen, damit unten eine große Wohnung für Ulli entstand. Er selbst würde nach oben ziehen.

»Dann kannst du endlich deine Jenny heiraten, und ihr zieht hier bei mir ein. Worauf wartet ihr eigentlich noch?«

»Du weißt doch, Max, die Jenny hat’s nicht so eilig mit dem Heiraten, will erst studieren und beruflich was erreichen …«

»Ich hab nicht mehr ewig Zeit, Junge«, fiel Max ihm ins Wort. »Und ich hab auch noch einiges vor. Das mit dem Zeltplatz ist ja gut und schön, Ulli, aber im Wald, da ist genug Platz für ein richtiges Feriendorf. Verstehst du, was ich meine?«

Ulli unterdrückte einen Seufzer. Diese Idee hatte Max vor einem Jahr schon einmal aufs Tapet gebracht und dann zum Glück wieder vergessen. Nun hatte er sie also wieder aus der Versenkung hervorgeholt.

»Ein Feriendorf? Du meinst diese kleinen Blockhütten, die du in den Wald stellen willst …«

Max Krumme nickte. Dann führte er aus, dass er keineswegs von primitiven Hütten, sondern von kleinen Häusern mit Stromanschluss, Fernseher und Badezimmern redete, vielleicht auch mit Sauna.

»In der Badewanne sitzen und Sekt schlürfen, während man durch eine Glasscheibe die Vögel, Rehe oder Dachse beobachtet. Verstehst du, Ulli?«

Eine ziemlich verrückte Idee, fand Ulli. Er selbst würde viel lieber schwimmen gehen, einen Waldlauf machen oder auf den See hinaussegeln, aber vielleicht gab es ja auch Leute, die ihren Urlaub in der Badewanne verbringen wollten.

»Ich weiß nicht, Max …«

Der alte Mann konnte in letzter Zeit wenig Widerspruch ertragen. Es regte ihn auf, wenn er Ulli mühsam von seinen Vorschlägen überzeugen musste.

»Aber ich weiß, Ulli«, krähte er und schlug ärgerlich mit der Faust auf die hölzerne Ablage vor dem Schiebefenster. »Das wird ein Volltreffer. Hab schon mal die Pläne gezeichnet. Zwei Stück für den Anfang, dazu eine Sauna. Wenn die Leitungen erst mal verlegt sind, wird es günstiger.«

Die Kosten. Damit waren sie beim Thema. Unbehaglich zupfte Ulli an seinem nassen T-Shirt herum.

»Mir ist kalt, Max. Ich laufe mal schnell rüber und zieh mir was Trockenes an …«

»Du weichst mir bloß aus, Ulli«, knurrte Max Krumme missmutig. »Ich weiß doch, dass du mir schon wieder weglaufen willst, aber damit kommst du heute nicht durch. Die Zeit wird knapp, wir müssen uns sputen.«

Den letzten Satz verstand Ulli nicht ganz, aber Max redete oft allerlei Zeug, das er nicht einordnen konnte, vielleicht war der arme Kerl ja doch ein wenig verwirrt.

»Ich hab das mal durchgerechnet«, erklärte er und blickte Ulli mit aufmerksamen Augen an.

Ulli fiel auf, dass Max’ hellblaue Iris in letzter Zeit einen weißen Rand bekommen hatte.

»Wir brauchen gut hunderttausend Märker. Besser hundertfuffzig. Bei so was erlebt man immer Überraschungen …«

Ulli räusperte sich. Einmal musste Max es ja doch erfahren, er konnte den alten Freund nicht ewig hinhalten.

»Die Sache ist die, Max«, begann er vorsichtig. »Wir sind momentan nicht so recht flüssig. Weil ich der Jenny was geliehen habe …«

Die Reaktion war heftiger, als er sie sich vorgestellt hatte. Max riss die Augen auf und starrte ihn an, als habe er sich urplötzlich in ein Krokodil verwandelt.

»Du hast … der Jenny Geld gegeben? Wann? Wie viel?«

Ulli ärgerte sich etwas, weil es schließlich sein Geld gewesen war. Max hatte ihm das Grundstück an der Müritz mit allem, was darauf stand, verkauft und sich lediglich ein lebenslanges Wohnrecht und Geschäftsanteile vorbehalten. Allerdings hatte der Alte einen großen Anteil daran, dass das Unternehmen florierte und eine Menge Geld abwarf. Er hatte die Boote in Auftrag gegeben und mit seinem Geld bezahlt, und er hatte auch den Kiosk auf eigene Kosten instand setzen lassen. Natürlich hatte auch Ulli seine Ersparnisse bis auf den letzten Pfennig investiert und seine gesamte Arbeitskraft in die Sache gesteckt. »Fünfzigtausend«, antwortete er daher zögernd.

»Fuffzigtausend Märker!«, stöhnte Max. »Ja – bist du denn noch gescheit, Junge?«

»Was regst du dich auf?«, beschwichtigte er. »Es bleibt doch in der Familie.«

Max stieß ein spöttisches Lachen hervor, das in einen Hustenanfall mündete.

»In der Familie? Fragt sich nur, in welcher. Bei den von Dranitz oder bei den Schwadkes.«

»Wieso ist das ein Unterschied?«, fragte Ulli verärgert. »Irgendwann werde ich die Jenny schon heiraten.«

Max nahm zwei weitere Miniwhisky aus dem Regal und schob Ulli einen davon zu. Ulli schraubte den Verschluss ab und ließ den Inhalt des Fläschchens in seinen Mund laufen. Schmeckte gar nicht übel, das Zeug. War nur viel zu wenig.

»Hast du dir wenigstens eine Sicherheit geben lassen?«, hakte Max nach.

»Was denn für ’ne Sicherheit?«, murmelte Ulli. »Bin ich so einer wie der Simon Strassner, der gleich auf Mitbesitzer macht? Nee, ich hab ihr das Geld einfach so gegeben. Aus Freundschaft. Oder aus Liebe. Nenn es, wie du willst.«

Max musste gegen einen aufkommenden Schluckauf ankämpfen, deshalb konnte er nicht gleich antworten. Das Entsetzen war ihm allerdings deutlich vom Gesicht abzulesen.

»Einfach so?«, stieß er schließlich hervor. »Was soll das denn heißen? Sie hat dir doch wohl einen Schuldschein ausgestellt oder wenigstens eine Quittung geschrieben. Habt ihr vereinbart, wie und wann sie die Summe zurückzahlt?«

»Sobald sie es eben kann …«

Max fuhr mit den Händen eine Zickzacklinie durch die Luft, dann ließ er sie in den Schoß fallen.

»Also am Sankt-Nimmerleins-Tag. Sag mal, Junge, ist dir eigentlich klar, was du da gemacht hast? Du hast fünfzigtausend Mark verschenkt. Die sind weg, die sehen wir nie wieder. Und die fehlen uns jetzt hier in Ludorf …«

Ulli hatte durchaus ein schlechtes Gewissen – trotzdem gefiel es ihm nicht, von Max wie ein kleiner Junge runtergemacht zu werden.

»Was bist du nur für ein Kapitalist geworden, Max«, wehrte er sich. »Der Bootsverleih läuft gut, der Zeltplatz ist ausgebucht – wir haben alle Hände voll zu tun und verdienen nicht schlecht. Was willst du eigentlich noch? In deinem Alter sollte ein Mensch bescheidener werden, aber du wirst immer gieriger …«

Seine Rede tat ihm leid, kaum dass er sie zu Ende gebracht hatte. Max starrte ihn mit trüben Augen an, dann rutschte er von seinem Hocker herunter und schob sich an Ulli vorbei zur Tür.

»Ein Dummkopf bist du«, sagte er. »Selbst wenn sie dich heiratet – von dem Gutshaus wird dir nicht mal ein halber Dachziegel gehören. Gütertrennung wird sie machen. Dann bleibt dir nur das, was du dir selber aufgebaut hast.«

»Aber Max …«

Der alte Mann öffnete die Tür und trat hinaus in den Regen, dann drehte er sich noch mal zu Ulli um. Wenigstens hatte der Zorn – und wohl auch der Whisky – seinen Kreislauf in Schwung gebracht, sein Gesicht war krebs-rot.

»Verstehst du denn nicht?«, fuhr er Ulli an. »Du bist kein Angestellter, für dich sorgt keine Firma und auch nicht Vater Staat. Du bist Unternehmer, und wenn deine Firma den Bach runtergeht, dann hast du nichts mehr!«

Halt dich zurück, befahl sich Ulli. Das ist nur der Zorn. Der malt alles schwarz, weil er sauer auf mich ist. Soll er ruhig gehen, der kriegt sich schon wieder ein. Er sah zu, wie Max Krumme durch den Regen lief, doch anstatt zum Haus zu gehen, steuerte er den Bootssteg an. Sturer alter Kerl. Er wollte sichergehen, dass alle Boote ordentlich festgemacht waren. Mit dem Alter wurde er immer pingeliger. Schade, dabei war er solch ein lieber Kerl. Ulli nahm sich vor, in Zukunft geduldiger und freundlicher mit dem betagten Mann umzugehen.

Blitz und Donner hatten sich inzwischen beruhigt, nur der Regen wollte nicht aufhören, da waren wohl keine weiteren Ausflügler zu erwarten. Ulli schloss den Kiosk ab und ging ohne Eile zum Haus hinüber – nass war er sowieso. Auch Max hatte inzwischen den Weg zurück eingeschlagen. Sie trafen sich am Hauseingang, wo auch Hannelore und der pitschnasse Waldemar, Max’ heiß geliebte Katzen, warteten.

»Weißt du, Max …«, setzte Ulli in versöhnlichem Ton an, aber der Alte unterbrach ihn.

»Da fehlt ein Ruder auf der Henriette«, schimpfte er. »Das muss der Kerl ersetzen, der es verloren hat …«

»Ich kümmere mich darum«, versprach Ulli und stieg die Treppe hoch zu seiner Wohnung.

Er duschte heiß und zog sich trockene Sachen an, dann fiel ihm ein, dass Jenny übermorgen ihre erste Probeklausur schreiben würde, und er beschloss, rasch hinüber nach Dranitz zu fahren, um sie ein wenig abzulenken. Bestimmt schob die Arme eine ganz schöne Panik, vor allem vor Mathe. Er rubbelte das feuchte Haar mit dem Handtuch trocken, kämmte sich und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, ob er sich nicht besser noch mal rasieren sollte. Jenny beklagte sich immer, sein Bart fühle sich an wie ein Reibeisen und sie bekäme immer rote Flecken auf ihrer empfindlichen Haut, wenn sie sich küssten. Vielleicht sollte er sich einen Bart stehen lassen? Ein Seebär auf der Müritz – das passte doch zu seinem Job. Er würde Jenny mal fragen, was sie davon hielt.

Während er mit seinem nagelneuen VW Passat in Richtung Dranitz fuhr, dachte er wehmütig an den alten Wartburg, den er an Silvester nach weit mehr als nur einem Glas Sekt an Kalle Pechstein verkauft hatte. Kalle hatte sich das historische Stück liebevoll zurechtgemacht und ihm eine silberne Lackierung verpasst. Es sah verboten aus, fand Ulli, aber verkauft war verkauft, und der Passat Kombi war ein gutes, zuverlässiges Auto mit einem großen Kofferraum, was für den Betrieb wichtig war.

In Dranitz regnete es ebenfalls, auf dem Parkplatz standen mehrere Pfützen. Auch auf dem Hof waren einige Lachen zu sehen, was nicht in Ordnung war, da hatte die Firma, die den Hof gepflastert hatte, mächtig gepfuscht. Er parkte neben dem Wagen des Archäologen, diesem Dr. Schreiber, einem totalen Fachidioten, mit dem man kein vernünftiges Gespräch führen konnte, außer es ging um mittelalterliche Knochen. Seine Mitarbeiterin Sabine war ganz nett, aber etwas aufdringlich. Ulli ging ihr aus dem Weg, wann immer es ihm möglich war, weil sie ihn gern mit einem Redeschwall über die neuesten Grabungsergebnisse übergoss. Sein Interesse an mittelalterlichen Klöstern war nur schwach ausgeprägt, aber soweit er begriffen hatte, befand sich unter dem Gutshaus die Apsis einer Klosterkirche mit mehreren Grablegungen, und dort, wo Jenny den Pool geplant hatte, hatte man den Klosterfriedhof entdeckt. Eine ziemlich ärgerliche Sache, denn nun herrschte Baustopp, der geplante Wellnessbereich durfte vorerst nicht in Angriff genommen werden.

Ulli stieg aus, zog sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und sprang über die Pfützen, um seine teuren Sportschuhe zu schonen. Eine Weile stand er vor Jennys Haustür und klingelte mehrfach, ohne dass jemand öffnete, dann ging er hinüber zum Gutshaus. Eigentlich hatte Jenny sich bei Mücke im Kindergarten freigenommen, um sich gründlich auf die Probeklausuren vorzubereiten – aber wie er sie kannte, trieb sie sich oben in den Zimmern des Gutshauses herum, weil ihr mal wieder eine Idee für die Einrichtung gekommen war. Er trat sich sorgfältig die Schuhe auf der Sisalmatte ab, um die hellen Fliesen im Eingangsbereich nicht schmutzig zu machen, doch dann stellte er fest, dass dort so viele Abdrücke waren, dass seine kaum noch aufgefallen wären. Im Restaurant saßen die Archäologen mit mehreren Kollegen und tranken Kaffee. Seit die Grabungsarbeiten begonnen hatten, tauchten häufig Fachleute oder auch Journalisten auf, was zumindest ein bisschen Geld in die Kasse spülte. Trotz Werbung hatte das Restaurant bisher nur wenige Gäste; sie hatten die warme Küche jetzt auf den Abend beschränkt, weil mittags sowieso kaum jemand zum Essen kam und Bodo Bieger so nur halbtags beschäftigt werden musste. Die Imbissplatten konnte die Küchenhilfe zubereiten, die beiden jungen Aushilfen aus dem Dorf wechselten sich beim Servieren ab.

Im Flur des ersten Stocks traf er mit Kacpar Woronski zusammen. Der Architekt begrüßte ihn herzlich wie immer, schüttelte ihm die Hand und wollte ihm die neuen Tapeten zeigen, die kurz nach Ostern in einigen Zimmern angebracht worden waren.

»Jenny? Die ist mit Julchen im Kindergarten.«

»Aber ich dachte, sie wollte sich freinehmen!«

Kacpar hob die Schultern – er hatte das auch gedacht, aber Jenny hielt es wohl daheim mit ihren Büchern nicht aus.

»Sie ist ziemlich nervös, wie?«, fragte Ulli.

Kacpar nickte und tat einen leisen Seufzer. Er war ein netter Kerl, Ulli mochte ihn. Zumal Kacpar ein hervorragender Architekt war, der seine Fähigkeiten ganz und gar in den Dienst des Gutshotels Dranitz gestellt hatte. »Sie ist kein Prüfungstyp, die Jenny«, meinte Kacpar mit einem mitfühlenden Lächeln. »Aber sie wird es schon schaffen.«

Ulli nickte. Jenny war ein kluges, gewitztes Mädel, wenn es drauf ankam, würde sie schon zeigen, was sie draufhatte.

»Ich denke, dass sie inzwischen auch in Mathe so weit ist«, meinte er zufrieden. »Ist ja nicht gerade ihr Lieblingsfach, aber wir haben hart gebüffelt, und jetzt hat sie es verstanden.« Tatsächlich hatten sie in den vergangenen Tagen noch mehrmals zusammengesessen, um weitere Aufgaben durchzurechnen, und Jenny hatte sich recht gut angestellt. Vor allem war sie nicht mehr in Panik geraten, wie es sonst stets der Fall gewesen war. Er war stolz auf sich, dass er seine Jenny so gut auf die Prüfung vorbereitet hatte. »Dann grüß sie mal von mir«, bat er Kacpar. »Ich komme morgen Nachmittag vorbei und bleibe dann über Nacht, damit ich sie am Morgen zur Probeklausur nach Schwerin fahren kann.«

»Ja, es ist wohl besser, wenn sie nicht selber fährt«, pflichtete Kacpar ihm mit einem etwas angestrengten Lächeln bei. »Wenn bei dir etwas dazwischenkommt, Ulli, kann ich gern einspringen. Bin ja sowieso hier …«

»Nett von dir. Aber das klappt auf jeden Fall. Trotzdem danke!«

Er klopfte Kacpar zum Abschied auf die Schulter und lief die Treppen wieder hinunter. Während er noch überlegte, ob er nicht kurz in Mückes Kindergarten vorbeischauen sollte, wäre er beinahe mit einer jungen Frau im grünen Lodenkostüm zusammengeprallt, die in hohen Schuhen die Treppe hinaufstieg.

»Hoppla!«, rief sie und wich ihm in letzter Sekunde aus. »Das war knapp!«

Ulli musterte die Frau. Sie war nicht unbedingt hübsch, aber attraktiv. Schulterlanges honigblondes Haar, das Gesicht eher schmal, die Lippen geschminkt, die Augen hatten einen Ausdruck, der ihn verunsicherte. Offensichtlich zählte sie zu denen, die ganz genau wussten, was sie wollten.

»Wenn Sie das Restaurant besuchen möchten«, sagte er leicht verlegen. »Das ist hier gleich links.«

Sie schaute kurz in die Richtung, in die er deutete, dann verzog sie den Mund zu einem Lächeln. Ihr Lächeln war überraschend warm und angenehm.

»Danke, ich habe den Hinweis gesehen«, gab sie zur Antwort. »Man hat mir gesagt, dass sich im ersten Stock die Gästezimmer befinden.«

»Allerdings. Aber sie sind zum Teil noch nicht ganz fertig. Die Aufnahme des Hotelbetriebs ist erst für Anfang Juni, voraussichtlich zu Pfingsten, geplant.«

»Das macht nichts. Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich sie mir trotzdem ansehe …«

Sie sprach mit einer überlegenen Freundlichkeit, die keinen Widerspruch erlaubte. Ulli fühlte sich an Jennys Großmutter erinnert. Höflich, aber bestimmt.

»Ich bin selbst Gast hier«, erklärte er. »Aber der Architekt ist oben, vielleicht hat er kurz Zeit für Sie.«

»Wunderbar!«, rief sie und strahlte ihn an. »Ich danke Ihnen vielmals.«

Ulli nickte verlegen, weil er keine Ahnung hatte, wofür sie ihm eigentlich dankbar war, und beeilte sich, das Haus zu verlassen. Drüben auf dem Parkplatz parkte jetzt ein roter Sportwagen, der ihm bekannt vorkam. Simon Strassner war wieder im Land. Stand vor Jennys Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Jetzt war Ulli richtig froh darüber, dass sie mit Julchen bei Mücke im Kindergarten war.

Strassner winkte ihm leutselig zu, als seien sie die besten Freunde.

»Tag, Ulli! Was für ein Mistwetter heute, wie? Hast du zufällig meine Bekannte gesehen? Blond. Grünes Lodenkostüm.«

Ulli deutete mit der Hand auf das Gutshaus, dann wandte er sich ab und stieg in seinen Passat. Er wollte weder mit Simon Strassner noch mit dessen neuer Freundin etwas zu tun haben.