Kacpar

»Magst du einen Wein?«, fragte Carola. Kacpar fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. Nicht nur, dass er über Carola die eine oder andere Insiderauskunft von der Bank bekam, nein, er war wirklich gern mit ihr zusammen, denn sie war unkompliziert, erwartete nicht, geheiratet zu werden, forderte keine teuren Geschenke, wollte nicht in Luxuslokale eingeladen werden. Sie wünschte sich nur ein wenig Zuneigung und Zärtlichkeit, und beides gab er ihr gern. Carola ging zum Kühlschrank, nahm eine angebrochene Flasche Weißwein heraus und füllte zwei Gläser. Sie stießen miteinander an und tranken, dann legte er ihr den Arm um die Taille und drückte sie an sich.

»Du ahnst ja nicht, was heute wieder in der Bank los war!«, sagte sie und zog ihn hinter sich her ins Wohnzimmer.

Während sie von dem unangenehmen Filialleiter erzählte, der hinter ihrer Kollegin her war und dabei doch Frau und drei Kinder hatte, der falsche Hund, trank er in raschen Zügen seinen Wein. Ihre Worte weckten sein schlechtes Gewissen. Auch er war ein falscher Hund, so viel stand fest. Saß hier mit Carola, dabei war er in Gedanken nur bei Jenny – schon als er Carola kennengelernt hatte. Nein, genau gesagt schon seit der Zeit, als er noch mit ihr zusammen im Architekturbüro Strassner in Berlin gearbeitet hatte. Als ihre Oma und sie in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, hatte er gehofft, sie durch finanzielle Unterstützung an sich binden zu können, aber weit gefehlt. Eine Frau wie Jenny ließ sich nicht kaufen. Der Gutshof Dranitz auch nicht. Wobei Kacpar manchmal nicht wusste, was ihm wichtiger war – Jenny oder der Gutshof. Beides gehörte zusammen, er liebte sowohl das alte Anwesen als auch die junge Besitzerin, eines ohne das andere war sinnlos, auch wenn ihm klar war, dass seine Sehnsüchte wohl unerfüllt bleiben würden.

»Hast du eigentlich mal wieder etwas vom Gutshotel gehört?«, fragte er Carola und griff nach der Schale mit Erdnüssen, die sie auf den Couchtisch gestellt hatte.

»Noch ist kein Konkurs angesagt«, beruhigte sie ihn, da sie seinen besorgten Gesichtsausdruck falsch deutete. »Zumindest im Moment musst du dir keine Sorgen um deinen Arbeitsplatz machen.«

»Da bin ich aber froh«, stammelte er ein wenig unbeholfen und sah, wie Carola die Beine übereinanderschlug, so dass ihr Rock ein Stück nach oben rutschte. »Für die nächste Zeit gibt es also Entwarnung, oder?«

»Na ja«, meinte sie. »Irgendwann müsste schon mal was reinkommen – immerhin läuft seit Ostern das Restaurantgeschäft, und Zimmer wollten sie ab Pfingsten doch auch vermieten, aber beides sieht wohl eher mau aus. Aber solange immer mal wieder Zahlungen eingehen, die zumindest die Kreditraten bedienen, könnte das noch eine Weile gutgehen.«

Aha, sie spielte auf Ullis »Leihgabe« an.

»Auf Dauer solltest du dich allerdings wohl nach einem anderen Job umschauen«, riet ihm Carola und rückte näher an ihn heran. »Vielleicht findest du ja hier in Schwerin etwas? Wird doch überall gebaut …«

Die Vorstellung, in Carolas Nähe zu wohnen, erschreckte ihn. Ja, sie war ein liebes Mädel, aber er hatte nie vorgehabt, die Beziehung zu einer Dauereinrichtung werden zu lassen. Jenny hatte ohne Zweifel recht: Ohne Verliebtheit ging gar nichts. Und er war in Carola nun einmal nicht verliebt.

»Ich werd’s mir durch den Kopf gehen lassen«, erwiderte er ausweichend und zwang sich, den Arm um ihre Schultern zu legen.

»Tu das«, sagte sie. »Ich weiß zum Beispiel, dass unsere Bank zurzeit mehrere Projekte laufen hat. Für einen Architekten mit kreativen Ideen findet sich da bestimmt etwas.«

Davon hatte sie schon öfter gesprochen. Die Bank hatte einige sehr schöne Objekte preisgünstig erworben, etliche davon wollte man – wie Carola zu berichten wusste – aufwändig umgestalten, um sie später zu vermieten. Andere, die weniger erfolgversprechend waren, wurden zum Kauf angeboten.

»Ich könnte deinen Namen einfach mal erwähnen«, schlug sie vor, aber Kacpar wehrte ab.

Carola ging in die Küche, kam mit einer neuen Flasche Wein zurück und schenkte ihnen nach, dann setzte sie sich noch dichter neben ihn aufs Sofa als zuvor und schmiegte sich an ihn. Als sie ihre Hand erst unter sein Hemd und dann in seine Hose schob, sprang er auf. »Nee, lass mal. Mir geht es nicht so gut. Ich hatte heute schreckliche Kopfschmerzen, und die Tablette, die ich dagegen genommen hab, verträgt sich offenbar nicht so mit dem Wein.«

Carola hielt inne und sah ihn an. »Oh Gott, soll ich dir ein Glas Wasser holen? Du bist ja richtig blass um die Nase!« Besorgt sprang sie auf.

»Nein danke, lass gut sein«, wehrte er hastig ab. »Ich fahr lieber nach Hause, solange ich noch fahren kann.«

Carola wirkte enttäuscht, aber sie ging in den Flur und holte seine Jacke. »Ruf mich an, wenn es dir wieder besser geht, ja?«

Kacpar nickte, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann schlug er den Kragen der Jacke hoch und ging die Treppe hinunter.

Er bezweifelte, dass er sie noch einmal anrufen würde. Es wäre wirklich besser, die Geschichte zu beenden. Im Grunde sehnte er sich nach nichts anderem als nach der großen Liebe, aber die hatte er ja längst gefunden, und die käme wohl auch kein zweites Mal

Er war in Jenny verliebt. Bis über beide Ohren und für alle Ewigkeit. Jenny war seine Traumfrau. Die Unerreichbare. Seine große Liebe.

Auf Dranitz war wenig los. Obwohl es noch nicht mal zehn Uhr war, waren die Lichter im Restaurant bereits aus, also hatten sie wieder mal kaum Gäste gehabt. Auch in Jennys Häuschen war alles dunkel, nur in den Wohnzimmerfenstern ihrer Großmutter flackerte das bläuliche Licht des Fernsehers. Das war vermutlich Walter Iversen, der da vor der Mattscheibe saß.

Kacpar schloss die Eingangstür des Gutshauses auf und blieb wie angewurzelt stehen, weil ihm ein unangenehmer Modergeruch in die Nase stieg. Natürlich – die Archäologen hatten vergessen, die Kellertür hinter sich zuzumachen. Ärgerlich durchquerte er den Eingangsbereich und schloss die Tür, doch als er die Treppe hinaufging zu seiner kleinen Wohnung im Dachgeschoss, vorbei an den Gästezimmern, hatte er den Eindruck, der Geruch würde eher von dort kommen als von unten. Kacpar seufzte und beschloss, der Sache gleich morgen früh auf den Grund zu gehen. Für heute wollte er erst einmal Schluss machen und sich ein wenig entspannen. Morgen sähe die Welt schon wieder ganz anders aus. Oben angekommen, ging er unter die Dusche und setzte sich für einen Moment aufs Sofa, um zur Ruhe zu kommen, doch das wollte ihm nicht recht gelingen. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Jenny und Ulli, zu Carola und zu Franziskas und Jennys Schulden, zu den mysteriösen Knochenfunden im Keller und was sie für das Gutshaus bedeuten mochten – und in all diese Gedanken mischte sich auch noch sein schlechtes Gewissen wegen Carola. Nach einer Weile stand er auf, kochte sich trotz der späten Stunde einen kräftigen Kaffee und setzte sich damit an seinen Arbeitsplatz. Von dort aus konnte er in der mondbeschienenen Nacht die beiden Kavaliershäuschen erkennen. Weiter links waren das rechteckige Dach und die beiden Schornsteine des restaurierten Inspektorenhauses zu erkennen, dahinter reckten sich Fichten und Buchen in die Höhe, baumhoch gewachsene Wacholderbüsche, eine junge Birke, deren Stamm und Blätter silbrig schimmerten.

Eine tiefe Verzagtheit ergriff ihn. Seit fast fünf Jahren mühte er sich ab, kämpfte auf verlorenem Posten, freute sich über Teilerfolge, die ihm später wie Sand zwischen den Finger zerrannen. Wozu das alles? Wollte er den Rest seines Lebens so weitermachen? Immer nur der Verlierer sein, mit ansehen, wie das Glück, das er für sich erhoffte, anderen zuteilwurde?

Nur ein kompletter Idiot würde das tun. Also Schluss damit.

Er legte sich ins Bett und schlief trotz des Koffeinkicks sofort ein. Als ihn am Morgen die Stimmen der Archäologen unten im Eingangsflur aus dem Schlaf weckten, fühlte er sich ausgeruht und wie von einer schweren Last befreit. Ja, er hatte zu einer Entscheidung gefunden, eine Entscheidung, die er unverzüglich in die Tat umsetzen würde.

Etwas wehmütig schmierte er sich in der Küche zwei Scheiben Toastbrot mit Mines köstlicher Erdbeermarmelade, auf die er in Zukunft wohl verzichten müsste. Als er einen Blick aus dem Fenster warf, sah er, wie sich Jennys Haustür öffnete und Julchen im grünen Sommerkleid mit einem allerliebsten Strohhut auf den roten Locken erschien, dann tauchte Jenny auf, in knappen Jeans mit ebenso knappem T-Shirt. Offenbar waren die beiden auf dem Weg in den Kindergarten, der zur Abwechslung mal wieder geöffnet hatte. Noch ist nicht aller Tage Abend, dachte er.

Tatsächlich war es noch recht früh am Morgen, und nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, tat er jetzt, was er nie mehr hatte tun wollen: Er wählte Carolas Nummer. Die von ihrem Anschluss in der Bank – nicht die Privatnummer.

Carola freute sich, dass er anrief, offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass er sich so schnell wieder bei ihr meldete. »Ach du bist das. Wie geht es dir mit deinem Kopfweh?«

»Viel besser. Hast du zwei Minuten Zeit?«

Ein kurzes Gespräch, sie gab ihm, was er haben wollte, und fragte dann, ob er sich schon wohl genug fühle, um heute Abend bei ihr vorbeizuschauen. Kacpar sagte vage zu, obwohl er wusste, dass er die Verabredung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einhalten würde, dann legte er auf.

Mit drei Adressen in der Jackentasche lief er gut gelaunt die Treppe hinunter, sah im Vorübereilen die Morgensonne durch die Fenster blitzen und wusste, dass heute ein großartiger Tag werden würde. Der erste Tag in seinem neuen Leben.

Unten im Eingangsbereich stieß er auf Walter Iversen, der wie üblich in den Keller hinunterging, um dort mit den Archäologen zu diskutieren. Kacpars Hochgefühl litt ein wenig, denn er konnte Walter sehr gut leiden.

»Morgen, Kacpar!«, rief Iversen ihm entgegen. »Na, auch schon auf den Füßen?«

Kacpar blieb stehen und murmelte etwas von einem Lieferanten in Waren, den er dringend aufsuchen müsse.

»Was du hier für die Familie von Dranitz leistest, Kacpar, ist kaum noch in Worte zu fassen. Eigentlich ist es längst auch dein Gutshaus, oder?«

Späte Erkenntnis, dachte Kacpar. Leider sieht deine Frau das anders. Aber das war jetzt nicht mehr wichtig.

»Ja, das Haus ist mir ans Herz gewachsen«, gab er lächelnd zu und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss dringend los. Viel Vergnügen im Mittelalter!«

Kacpar drängte sich an Walter vorbei zum Ausgang und machte, dass er zu seinem Wagen kam. Er fuhr über Reuterstadt und Ivenack nach Altentreptow, bog dann links von der Landstraße ab, holperte über alte Feldwege und erreichte ein verschlafenes Dörfchen. Ratlos hielt er auf der von Unkraut bewachsenen Dorfstraße an und versuchte, durch Buschwerk und Rittersporn hindurch in das Fenster eines niedrigen Backsteinhäuschens zu sehen. Bewegte sich da etwas hinter der Gardine? Oder war das nur der blaue Rittersporn, der sich im Fenster spiegelte? Plötzlich zuckte ein Sonnenblitz über die Scheibe, jemand öffnete das Fenster, das Gesicht einer weißhaarigen Alten erschien. Misstrauisch starrte sie den Fremden an.

»Hier wohnt keiner«, krächzte sie. »Sind alle weg.«

Sie sah ziemlich ungepflegt aus. Die Haare standen ihr vom Kopf ab, und soweit er sehen konnte, besaß sie nur noch einen einzigen Schneidezahn.

»Sind Sie ganz allein hier im Dorf?«, fragte er beklommen.

Die alte Frau hielt die Hand an ihr rechtes Ohr.

»Sie müssen lauter reden, ich hör nur noch auf einer Seite. Hier ist keiner mehr. Nur die alte Dörthe und die Alma. Aber die sind jetzt auch schon tot. Die anderen, die sind alle weg …«

Wie schrecklich. Sie war wohl komplett senil, die arme Alte. Er versuchte es trotzdem.

»Ich suche ein Haus, das ›Wolfgangshöhe‹ genannt wird. Kennen Sie das?«

Die Frau deutete stumm mit dem Finger zum Ortsausgang. Er war also auf dem richtigen Weg.

»Da war früher mal ein Heim für Schwindsüchtige drin. Die sind auch schon lange weg. Haben sich die Seele aus dem Leib gehustet, und dann war es aus mit ihnen.«

Sie kicherte und zeigte noch einmal in Richtung Dorfende, dann klappte sie das Fenster wieder zu.

Ein Heim für Schwindsüchtige? Das hörte sich ja gar nicht gut an. Aber nun ja – man hatte eine Nutzung für das Objekt gefunden und so die alte Substanz erhalten. Zehn Minuten später hielt er vor einem verwunschenen Fachwerkanwesen, das von Efeu und Knöterich fast ganz überwuchert war. Er stieg nicht einmal aus dem Wagen, warf nur einen langen Blick darauf, schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Zu klein. Er suchte kein Hexenhäuschen, sondern ein stattliches Anwesen, das sich mit Dranitz messen konnte. Er hatte seine Ersparnisse, konnte einen Teil anzahlen, den Rest finanzieren. Er war nicht Simon Strassner, besaß nicht dessen Mittel, aber er war der bessere Architekt, und zwar ohne jeden Zweifel. Damals, vor fünf Jahren, hatte er den zweiten Platz in einem Architekturwettbewerb gemacht, aber auf alle Chancen verzichtet, um einer gewissen Jenny Kettler nach Mecklenburg-Vorpommern zu folgen.

Die nächste Adresse fand sich wenige Kilometer weiter südlich mitten in einem Waldgebiet. Als er schon fürchtete, sich endgültig verirrt zu haben, öffnete sich vor ihm eine Lichtung, und er war für einen Moment so geblendet, dass er beinahe gegen einen der verwitterten Torpfosten gefahren wäre. Er musste ein Stück zurücksetzen, um das Anwesen, das auf der zugewucherten Fläche stand, besser überblicken zu können, und war berauscht. Schloss Lambrow – ein hochherrschaftliches Anwesen! Zumindest war es das einmal gewesen. Erbaut im Tudorstil, geschmückt mit Erkern und Türmen. Dicke Mauern voller Efeu, zerbrochene Fenster, aus denen junge Birken wuchsen. Auch die Nebengebäude hatte die Natur zurückerobert, die Dächer waren eingestürzt, Unkraut und Buschwerk gediehen im Inneren, auf den Mauern hockten weiße Möwen und starrten hungrig auf den Besucher herunter. An drei Seiten war das Schlösschen von einem See umgeben, Erlen gediehen prächtig, Trauerweiden ließen ihre schlanken Zweige ins Wasser hängen, auf dem grüne Entengrütze schwamm. Welch eine Idylle! Welch ein Millionengrab!

Kein Wunder, dass die Bank das Anwesen loswerden wollte. Wenn Carola ihm lauter solche Nieten vermittelt hatte, konnte er sich die Weiterfahrt sparen.

Die letzte Adresse führte ihn zurück nach Reuterstadt und dann weiter westlich in eine weite, leicht hügelige Landschaft. Das Anwesen mit dem schönen Namen Karbow war schon aus der Ferne zu sehen, zwischen Buchen und Fichten erkannte er einen zweistöckigen Bau, Rundbogen, Säulen, eine breite Treppe.

Da stand er. Sein zukünftiger Besitz. Genauso hatte er ihn sich vorgestellt. Ein Gutshaus, ähnlich wie Dranitz, aber etwas größer, die Säulen gut erhalten, auch die Treppenstufen fest, sogar die gemauerten Blumenkästen neben der Treppe waren noch vorhanden. Er stieg aus, ging um das Haus herum, schaute in die Fenster hinein. Drinnen lag vieles im Argen, wie es schien, war in einem Raum die Decke heruntergekommen, möglicherweise ein Wasserschaden. Auf der Rückseite gab es eine ummauerte Terrasse; zwei Skulpturen, die einst die Mauer geschmückt hatten, waren noch vorhanden, grünes Moos bedeckte einen Amor mit Pfeil und Bogen, der mädchenhaften Diana hatte ein Vandale den rechten Arm abgebrochen. Ohne Zweifel war hier einmal ein weitläufiger Park angelegt gewesen, der inzwischen verwildert war. Aber zu seinem Entzücken standen noch verschiedene kleine und größere Nebengebäude – Stallungen und Wohnungen für die Angestellten. Das Ganze sah auf den ersten Blick vielversprechend aus, nur musste er natürlich Genaueres erfahren, vor allem die Größe des Grundstücks, den Zustand der Gebäude und den Preis, den sich die Bank vorstellte. Da würde er knallhart verhandeln, mindestens so gut wie Simon Strassner, schließlich war er seinerzeit oft genug Zeuge solcher Geschäfte gewesen.

Er stieg in seinen Wagen, warf einen liebevollen Abschiedsblick auf seinen zukünftigen Besitz und fuhr zurück nach Dranitz. Doch, heute Abend würde er Carola einen letzten Besuch abstatten und sie um nähere Informationen zu Gut Karbow bitten. Möglich, dass der Kauf unter der Hand zu regeln war, weil die Bank das Anwesen bisher noch nicht offiziell angeboten hatte. Dann hieß es schnell sein. Entschlossenes Auftreten. Vielleicht die Finanzierung über die Bank laufen lassen und tschüss …

Auf dem Parkplatz vor dem Gutshaus Dranitz standen mehrere Fahrzeuge. Anscheinend war mal wieder eine Gruppe auswärtiger Archäologen angekommen, was gut war, denn das spülte Geld in die Restaurantkasse, und wenn sie über Nacht blieben, auch ins Hotel. Aber was interessierte ihn das noch? Er würde hier nicht länger bleiben – auf ihn wartete Gut Karbow.

Als er das Haus betrat, stellte er fest, dass der muffige Geruch noch immer nicht verschwunden war. Mit einem energischen Schubs schloss er die wieder einmal offen stehende Kellertür, dann wandte er sich zur Treppe und wollte gerade eiligen Schrittes hinauf in seine Dachwohnung steigen, als er plötzlich ein Schluchzen vernahm.

Kein Zweifel, das war Jenny! O Gott!

Sie musste in einem der Gästezimmer sein. Weitergehen, befahl er sich selbst. Sie heult um ihren Ulli. Das geht dich gar nichts an. Trotzdem führten ihn seine Beine wie von unsichtbaren Fäden gezogen zur Quelle des Geräuschs. Vor einer halb offenen Zimmertür blieb er stehen.

»Jenny?«

Jenny saß auf einem hübschen Biedermeiersofa. Als er eintrat, wischte sie sich eilig die Tränen von den Wangen und griff nach einem Taschentuch.

»Alles in Ordnung?«

»Klar!«, nickte sie und schniefte. »Alles bestens.«

»Was müffelt hier eigentlich so?«, erkundigte er sich, als er sich neben sie setzte und ihm plötzlich der muffige Geruch in die Nase stieg, den er schon gestern Abend bemerkt hatte.

Sie sah ihn mit verquollenen Augen an, dann wandte sie sich ab und fing erneut an zu weinen.

Kacpar griff nach ihrer Hand.

»Spuck’s aus, Jenny, was ist los?«, wollte er wissen. »Geht es um Ulli? Weiß doch jeder, dass ihr zerstritten seid …«

»Nein, nein«, fiel sie ihm eilig ins Wort. »Es geht … um die Möbel. Sie müffeln, wie du richtig bemerkt hast. Was glaubst du, was da für Kosten auf uns zukommen werden?« Sie sah ihn aus ihren rot verheulten Augen an.

»Das kann man beheben, Jenny«, tröstete er sie. »Ich rede mit dem Holländer, wir können sie bestimmt gegen etwas anderes eintauschen.« Er zögerte, dann fügte er, ohne ihre Hand loszulassen, hinzu: »Aber darum geht es nicht wirklich, oder?«

Jenny entzog ihm ihre Hand und sprang auf. »Ich muss los«, sagte sie und eilte zur Tür. »Simon kommt gleich. Er will mit Jule spazieren gehen.«

»Oh«, sagte Kacpar und stand ebenfalls auf. »Und was ist mit der sexy Blondine, die in Dranitz Gesprächsthema Nummer eins ist? Kommt die auch mit?«

»Wohl kaum.« Jenny putzte sich die Nase. »Wusstest du eigentlich, dass sie Simon fremdgeht?«

»Ach«, sagte Kacpar nur, denn das hatte er nicht gewusst.

»Rate, mit wem!«, sagte Jenny und blickte ihn mit empört aufgerissenen Augen an.

Er sah ihr an, dass sie eine Überraschung in petto hatte. Und zwar keine schöne. Eher eine schlimme. »Doch nicht etwa mit …«, stotterte er verwirrt.

»Mit Ulli Schwadke. Jawoll!«

Damit drehte sie sich um und lief durch den Flur zum Treppenhaus.